Deutschland 2003 · 114 min. · FSK: ab 0 Regie: Michael Schorr Drehbuch: Michael Schorr Kamera: Axel Schneppat Darsteller: Horst Krause, Harald Warmbrunn, Karl-Fred Müller, Wilhelmine Horschig u.a. |
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Schultze und sein Akkordeon |
Schultze hat keinen Vornamen – und eigentlich auch kein Leben. Im Gegensatz zu seinen Kumpels Manfred und Jürgen, die gleichzeitig mit ihm von der Sachsen-Anhaltinischen Kali-Mine verfrührentet werden, hat er weder Ehefrau noch Kinder, und seine plötzlich im Übermaß vorhandene Freizeit füllt er, wenn er nicht mit seinen Freunden beim Angeln oder in der Kneipe sitzt, mit Schrebergärtnern und Akkordeon-Üben aus. Wie gewöhnlich soll er zum Fest des Musikvereins (diesmal sogar das 50. Jubiläum) die Polka spielen, die schon sein Vater selig immer zum Besten gab – doch aus heiterem Himmel verändert sich sein tristes Dasein: Schultze hört im Radio Akkordeonklänge, die so gar nichts mit dem üblichen behäbigen Gedudel zu tun haben. Cajun, fetziger Folk aus den Sümpfen Louisianas, hat es ihm nunmehr angetan, und eine Reise zu den Ursprüngen der wilden Rhythmen ist sein neuer Lebenstraum.
Horst Krause, bekannt als gleichnamiger Polizist in Polizeiruf 110 und zu nationalem Kino-Ruhm gelangt als behäbiger Most in Detlev Bucks Wir können auch anders verkörpert Schultze in seiner schüchtern-unbeirrbaren Art beeindruckend beiläufig. Überaus intensiv ist beispielsweise die Szene, wenn er im Radio die finstere Meldung über Krebsgefahr bei Bergleuten wegdreht und ihn unversehens diese fremde und doch anrührende Musik überfällt. Neben Krause sind als Schultzes alte Freunde nur noch zwei weitere professionelle Schauspieler an dem Film beteiligt, alle weiteren Rollen sind mit Laien besetzt. Dies unterstreicht oft den dokumentarisch gemeinten Charakter des Films, kann aber auch stören (beispielsweise im Altersheim) – jedenfalls zeigt es, dass die vielgerühmte Natürlichkeit von Darstellern große künstlerische Arbeit bedeutet. Überhaupt wirkt der Anspruch, um jeden Preis skurrile Charaktere zu portraitieren, stellenweise aufgesetzt. So niedlich die Idee mit der Bahnschranke auch ist, den deklamierenden Bahnler hätte es dazu nicht gebraucht.
Wenn Schultze nicht wiederstehen kann, seine neue Lieblingsmelodie zu spielen, und der abschätzige Ausdruck »Negermusik« im Musikverein fällt, könnte der uninformierte Westler leicht auf eine vorurteilsbelastete Brandmarkung ostdeutscher Mentalität schließen – doch darf man bei solchen Szenen nicht vergessen, dass der bereits 1995 vom Pfälzer Michael Schorr konzipierte Stoff ursprünglich im Saarland spielen sollte und erst spät von Produzent Jens Körner und seinem »Filmkombinat« übernommen und nach Sachsen-Anhalt übertragen wurde. Veränderung wird nur noch als beunruhigend erlebt: Geschlossene Zechen und Personalabbau schaffen dem vereinten Deutschland offenbar mehr Gemeinsamkeiten als Währungsunion und Soli-Zuschlag es je konnten.
Die Bildgestaltung von Kameramann Axel Schneppat ist beeindruckend, jede einzelne Einstellung eignet sich dazu, gerahmt an einer Wand zu hängen. Nicht, dass die Bilder statisch wären: die Bewegung im Bildraum ist kunstvoll komponiert, wenn etwa am letzten Arbeitstag der drei Freunde die alten Kollegen, die eben noch ein Ständchen gaben, sich beim Weggehen im Fenster spiegeln. Beeindruckend auch, wie es gelingt, aus den allgegenwärtigen Windrädern geradezu künstlerische Objekte zu machen. Wirklich schöne Bilder, doch geht es einem zuweilen wie bei einer Dia-Show – man wünscht sich, die Fernbedienung in der Hand zu haben und auf’s nächste Bild weiterschalten zu können. So interessant die Geschichte ist, die Regisseur und Autor Michael Schorr da ausgetüftelt hat, so behäbig ist die Umsetzung. Der feine Humor, der glücklicherweise nur selten in Klamaukiges abrutscht, trägt nicht die ganze Strecke, und im letzten Drittel geht dem Film trotz beeindruckender USA-Aufnahmen deutlich die Luft aus.
Wer die Trailer gesehen hat, kennt zwar nur einen Bruchteil der zahlreichen Highlights der Handlung, bekommt aber einen völlig falschen Eindruck von Tempo und Stimmung des Films. Deshalb sollte man sich rechtzeitig auf einen durchaus komischen, aber gemächlichen Film einstellen, der den schmalen Grat zwischen Lakonik und Langeweile mitunter überschreitet. Wäre er eine halbe Stunde kürzer, wäre der Film vermutlich unschlagbar. Auch so war er dem Filmfestival in Venedig im letzten Jahr den eigens geschaffenen Regiepreis in der Sektion Controcorrente wert.