Frankreich 2002 · 83 min. · FSK: ab 0 Regie: Philippe Muyl Drehbuch: Philippe Muyl Kamera: Nicolas Herdt Darsteller: Michel Serrault, Claire Bouanich, Nade Dieu, Françoise Michaud u.a. |
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Die Kleine und der Schmetterling |
Kinder und alte Menscheneinerseits sind sie Teil unserer Gesellschaft, andererseits Außenseiter: sie nehmen nicht teil am Arbeitsleben, der das Zentrum der sozialen Wahrnehmung darstellt, und scheinen damit fast so unsichtbar, wie sie es im Kinofilm oftmals sind. Kindheit: das ist eine Phase der Unreife, der man längst entwachsen ist. Kinder sind Objekte der Pisa-Studie und allenfalls als zukünftige Konsumenten interessant. Und das Alter? Rentenkürzung und künstliche Hüftgelenke – bloß nicht daran denken...
Um so interessanter ist es da, die andere Seiter der »fremden« Altersstufen sehen zu können: die Wissbegierde und Offenheit des die Welt entdeckenden Kindes, die Erfahrung und Abgeklärtheit von Menschen, die in ihren vielen Lebensjahren ebenso viel erlebt haben. Warum soll das Kino diese Dinge nicht ebenso verklären dürfen wie zupackende Männlichkeit oder dekorative Weiblichkeitunser Weltbild setzt sich schließlich (like it or not) aus Stereotypen zusammen. In dem Maße, wie das selbstverständliche Miteinander der ältesten und der jüngsten Generation in unserer Gesellschaft abnimmt, weil gestiegene Mobilität und Kleinstfamilien ein Zusammenleben von Großeltern und Enkeln immer seltener werden lassen, steigt die Attraktivität dieser Kombination für das Kino. Und wenn die Umsetzung einer Generationen-Geschichte so gelungen ist wie in Philippe Muyls Der Schmetterling, lohnt sich ein genauerer Blick.
Eigentlich hat er sich sein Rentnerdasein in Paris bequem ausgefüllt: Julien züchtet und sammelt Schmetterlinge, wenn er sich nicht gerade mit seiner Katze beschäftigt oder im Café nebenan seine Zeitung liest. Da bekommt er neue Nachbarn: die aufgeweckte achtjährige Elsa zieht mit ihrer Mutter in die Wohnung über ihm. Zwar stört ihn der Lärm, wenn Elsa mal wieder nicht schlafen kann und nachts mit ihrem Basketball dribbelt. Aber als das Kind eines Tages nicht nach Hause kann, weil die berufstätige Mutter vergessen hat, ihr den Schlüssel einzustecken, nimmt er sie mit zu sich. Elsa ist fasziniert von seiner Schmetterlingssammlungdoch den Blick in den Wintergarten mit den lebenden Exemplaren tut sie verbotener Weise. Ihr Gastgeber reagiert verärgert und setzt sie vor die Tür.
Juliens Traum ist seit langem, einen Isabella-Spinner zu fangen. Als er heraus bekommt, wo diese Insekten (nur wenige Tage im Jahr) zu finden sind, macht er sich für eine Woche auf in die französischen Alpen und entdeckt abends in seinem Auto einen blinden Passagier. Elsa hat es sich in den Kopf gesetzt, mit ihm aufs Land zu fahren und »Isabella« zu suchen. Geschickt sabotiert sie Juliens Versuche, ihre Mutter zu benachrichtigen, und er lässt sich überreden, sie mitzunehmen. Gemeinsam beginnen sie ihre große Suche ...
Langsam kann man eine eigene Kategorie einführen: Filme, in denen ein alter Mensch zwangsweise Zeit mit einem Kind verbringen muss, während beide dazulernen. Central Station wäre so einer, Kolya oder aus neuerer Zeit Hejar – Großer Mann, kleine Liebe. Oft haben solche Filme einen hohen Niedlichkeitsfaktor ob der kleinen Helden, und immer ist es das versteinerte Herz der älteren Person, dass am Ende geschmolzen ist (und das der Zuschauer gleich mit).
Der Schmetterling ist nicht völlig anders. Claire Bouanich, rothaarig, sommersprossig, ist niedlich. Aber er ist auch nicht so nach Schema F gedreht, wie man befürchten könnte. Wobei man sich beim näheren Hinsehen fragen sollte, ob überhaupt einer dieser Filme nur Schema F bedientmeist ist es so, dass über die Generationen-Konfrontation hinaus noch eine andere Geschichte erzählt wird: Bei Central Station ist es die Not in Brasilien, die in der Stadt und noch mehr im trockenen Norden sichtbar wird, die neben die Auseinandersetzung mit Vaterbildern tritt. Bei Kolya ist es die Politik, die schwierige Beziehung der CSSR zur »Brudermacht« UdSSR und der Weg zur Demokratie, die die neue Bereitschaft des Hauptdarstellers, Verantwortung zu übernehmen, ergänzt. Und bei Hejar ist es die erwachende Erkenntnis über die Unterdrückung der Kurden in der Türkei, die den Wertewandel begleitet. In allen diesen Filmen funktioniert das Kind als Spiegel für die Träume und Befürchtungen der Alten und setzt in der Zwangslage, die die Protagonisten zusammenschweißt, den Wandlungsprozess in Gang. Aber dies ist immer nur ein Aspekt, und die Konstellation »alt und jung raufen sich zusammen« hat ebenso viel Potenzial als Gerüst einer Geschichte wie das ungleich öfter produzierte Muster »boy meets girl« .
In Der Schmetterling ist es die Leerstelle zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration, die thematisiert wird: elterliche Versäumnisse und kindliche Entbehrungen. Die Sehnsucht nach Wiedergutmachung und nach Liebe ist der Antrieb der Suche nach »Isabella«, die hoffnungsvoll und versöhnlich endet. Dabei bezaubert der Regisseur durch sein gekonntes Ausnutzen der bekannten Konventionen und besticht durch Auslassungen: Die Wut auf die nachlässige Mutter muss nicht in einer Auseinandersetzung mit der Tochter gezeigt werden, um spürbar zu sein, Elsas plötzliches Auftauchen auf dem Rastplatz bedarf keiner »Wie-kommst-Du-hierher« -Rhetorik, und wie Julien der Polizei alles erklärt, ist für die gezeigte Geschichte völlig unerheblich.
Andererseits liefert Muyl interessante kleine Miniaturen am Rande: die verwirrte Großmutter im Bauernhaus, die auf die stehen gebliebene Uhr starrt»als ob sie fernsieht«, findet Elsa, und tatsächlich ersetzt später der Fernseher die reparierte Uhr. In vielen kleinen Szenen wird gezeigt, dass dem Stadtkind das Wissen über die Natur fehlt. Doch auch Elsa hat ihre Kompetenzen, die moderne Technik in Form von Gameboy und Handy und ihr Wissen über Basketball. Man kann förmlich zusehen, wie sie ihr Weltbild konstruiert aus all den Informationen, die sie schon hat oder noch bekommt. Und manchmal kann eben nur ein Kind eine Situation retten.
Zwischen den allgegenwärtigen Spuren der Zivilisation in Form von Golfplatzplanung, Börsenberichten und Gleitschirm-Sport scheint es fast unmöglich, in der Landschaft verloren zu gehen, und doch gibt es anrührendes Geborgensein in der Einfachheit der Natur. Ein simples Schattenspiel ist der eindringlichste Moment. Und doch ist die Stadt der wirklichere Lebensraum, nur hier können die Entwicklungen Konsequenzen tragen.
Wohltuend ist jedenfalls die differenzierte Charakterzeichnung der Hauptdarsteller. Michel Serrault gibt nicht einfach den alten Griesgram, der aufgetaut gehört: er lebt durchaus nicht als grimmiger Einsiedler, und seine Hilfsbereitschaft und Offenheit gilt nicht nur Elsa. Doch auf seinem Weg, alten Kummer zu verarbeiten, ist sie eine gute Begleiterinauch, weil sie nicht einfach nur niedlich ist, sondern deutlich zeigt, dass sie ihren eigenen Kopf hat. Claire Bouanich, die hier ihr Schauspieldebut gibt, profitiert von der Erfahrung, die sie als Sprecherin im Synchronstudio gesammelt hat. Man darf gespannt sein, was die Zukunft ihr für Rollen bringtwenn sie nicht doch ihrem Wunsch nachgeht, Astronomin zu werden...