Deutschland 2017 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Lars Kraume Drehbuch: Lars Kraume Kamera: Jens Harant Darsteller: Leonard Scheicher, Tom Gramenz, Lena Klenke, Jonas Dassler, Isaiah Michalski u.a. |
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Damals in der DDR |
»Warum sind die alle so gut geföhnt?«
Der Berliner »Tagesspiegel« mit Blick auf den hier produzierenden Sender ZDF
Deutsche Nachkriegsgeschichte, diesmal aus der DDR. Doch wie in Der Staat gegen Fritz Bauer hängt auch hier diesen traurigen grauen Nachkriegsdeutschen, die Lars Kraume portraitiert, den früh gealterten Männern und verbitterten Frauen der Muff der schlimmen braunen tausend Jahre wie Mottenpulver in den Kleidern und Gesichtsfalten, in der verkrampften Zackigkeit der Bewegungen, und dem autoritären Gehabe, das um so härter auftritt, je mehr es innere Unsicherheit überspielt. Und über die Lippen rinnt das Gestapodeutsch – statt »Volk« sagt man jetzt eben »Die Werktätigen«, aus »Rasse« ist »Klasse« geworden, und »die Partei«, das passt sowieso immer noch.
Ausstattung und Kostüme, auch das Körperspiel gerade der älteren Darsteller, sind glänzend in Das schweigende Klassenzimmer, auch wenn Ausstattung und Kostüme oft etwas zu deutlich als solche erkennbar sind.
Diesen erwachsenen Charakteren, die innerlich schon gestorben sind, die nur noch herrschen und verwalten wollen, diesen zynischen Zombies gegenüber stehen junge Idealisten – aber auch ihren Idealismus, der uns sympathisch ist, und auf dem in
diesem Film die Hoffnung ruht, durchzieht in Hauch von Fanatismus, ein Handeln gegen die Welt und die Fakten, das man naiv nennen kann, aber auch stur.
Es war einmal, damals in der DDR – es ist aber kein Märchen, das hier erzählt wird, sondern die auf wahren Vorkommnissen basierende Geschichte einer Schulklasse in der DDR, die 1956 vom Ungarn-Aufstand erfährt. Sie formulieren einen kleinen harmlosen Protest, eine Schweigeminute für die Opfer des Aufstands, und geraten bereits dadurch in die Fänge des Staatssicherheitsapparats: Die frühe DDR fühlte sich, im verflixten siebten Jahr nach der Staatsgründung, drei Jahre nach dem 17. Juni mit guten Gründen unsicher, und wollte alles, das nach »Konterrevolution« aussah, oder diese zu ermutigen schien, im Keim ersticken. So mahlten die Mühlen des Spätstalinismus unerbittlich, und Kraume entfaltet diesen Prozeß einer bürokratisch ablaufenden, unflexiblen Untersuchung, die immer weitere Kreise zieht und höhere Ebenen erreicht, nüchtern und mit einer gewissen Lust an Sachlichkeit.
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Besonders gefällt die Figur des von Florian Lukas gespielten Schuldirektors, der gegenüber den von Jördis Triebel und Burghart Klaußner gespielten unerbittlichen Funktionären die menschliche Seite und das Positive der DDR, die soziale Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten für Arbeiter verkörpert und verteidigt. Das schweigende Klassenzimmer ist ein guter Film, ein Stück Geschichtskino, Mainstream im besten Sinn des Wortes: also mit plakativen Figuren und Situation bestickt, für die Masse konsumierbar gemacht, indem der Stoff vor allem brav bebildert wird, ihm jede erkennbare Ästhetik, jede stilistische Ambition ausgetrieben wurde – aber zu höheren Zwecken.
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Denn das Thema des Films ist die Zivilcourage der Klasse, deren Schüler sich vom Regime nicht spalten ließen. Hier liegt auch so etwas die eine zeitgemäße Botschaft: Lasst Euch nicht spalten, ihr Leute, dann ist Widerstand möglich. Worum es geht, das bringt im Film der von Michael Gwisdeck verkörperte ehemalige NS-Widerständler, der jetzt auch in der DDR wieder zum Außenseiter wird, auf den Punkt: »Das Individuum soll sich fügen. Ihr seid jetzt Staatsfeinde, weil ihr frei gedacht
habt und daraus Taten folgten.«
Denn Schülern hat das nur kurz geschadet – sie wurden zwar alle der Schule verwiesen, doch das Ergebnis dieses schmerzhaften Lernprozesses war, das die meisten von ihnen in den Westen gingen.
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Noch eine Nachbemerkung: Die Pressemitteilung zu Das schweigende Klassenzimmer lautet wie folgt:
»1956: Bei einem Kinobesuch in Westberlin sehen die Abiturienten Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) in der Wochenschau dramatische Bilder vom Aufstand der Ungarn in Budapest. Zurück in Stalinstadt entsteht spontan die Idee im Unterricht eine solidarische Schweigeminute für die Opfer des Aufstands abzuhalten. Doch die Geste
zieht viel weitere Kreise als erwartet: Während ihr Rektor (Florian Lukas) zwar zunächst versucht, das Ganze als Jugendlaune abzutun, geraten die Schüler in die politischen Mühlen der noch jungen DDR. Der Volksbildungsminister (Burghart Klaußner) verurteilt die Aktion als eindeutig konterrevolutionären Akt und verlangt von den Schülern innerhalb einer Woche den Rädelsführer zu benennen. Doch die Schüler halten zusammen und werden damit vor eine Entscheidung gestellt, die ihr
Leben für immer verändert…
DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER erzählt ein zutiefst bewegendes Kapitel aus dem Tagebuch des Kalten Krieges, basierend auf den persönlichen Erlebnissen und der gleichnamigen Buchvorlage von Dietrich Garstka – einer der insgesamt 19 ehemaligen Schüler, die 1956 mit einer einfachen menschlichen Geste einen ganzen Staatsapparat gegen sich aufbrachten.
Dem vielfach preisgekrönten Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume (Deutscher
Filmpreis 2016 für den Politthriller Der Staat gegen Fritz Bauer) ist es gelungen, in seinem neusten Film einen Cast aus höchst vielversprechenden Nachwuchskünstlern und herausragenden, etablierten Darstellern des deutschen Kinos zu versammeln: Die Hauptrolle übernimmt Leonard Scheicher, der schon bei Produktionen wie Es war einmal Indianerland, Finsterworld und Quellen des Lebens dem Kinopublikum auffiel. Neben ihm spielt die Nachwuchsentdeckung Tom Gramenz
(„Armans Geheimnis“) die zweite Hauptrolle. In den weiteren Rollen der Klassenkameraden sind Lena Klenke (Rock my Heart, Fack Ju Göhte), Isaiah Michalski (Der Medicus, Anonymus) und Jonas Dassler (Werk ohne Autor, Lomo – The Language of Many Others)«
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Wir müssen in Deutschland wegkommen von diesem anekelnden Marketingsprech, in dem jeder Film »zutiefst bewegend« ist, jeder zweite Regisseur »vielfach preisgekrönt«, jede Nachwuchsschauspielerin »höchst vielversprechend« und »eine Entdeckung«, jeder Nachwuchsschauspieler ein »Künstler« und ein »Talent« (englisch ausgesprochen), jeder etablierte Routine-Darsteller »herausragend«, und in dem jede Filmhandlung auf einen Plot zuläuft, die irgendein »Leben für immer verändert«.