Schweigend steht der Wald

Deutschland 2022 · 95 min. · FSK: ab 12
Regie: Saralisa Volm
Drehbuch:
Kamera: Roland Stuprich
Darsteller: Henriette Confurius, Noah Saavedra, August Zirner, Johanna Bittenbinder, Robert Stadlober u.a.
Filmszene »Schweigend steht der Wald«
Eine sehr ungewöhnliche deutsche Filmheldin...
(Foto: Alpenrepublik)

Im Wald da sind die Leiber

Die Leichen liegen nicht immer im Keller: Saralisa Volms Spielfilmdebüt bedeutet den Einbruch der Realität in eine ganz und gar von urbanen Maßstäben dominierte deutsche Filmlandschaft

Der deutsche Wald war schon immer mehr, als nur Gehölz: Ein mythi­scher Ort, ein Raum für Märchen und Phan­ta­sien, aber auch für Verdrängtes. Der Wald ist auch Ursprungsort für Legenden und vieler Geschichten. Er ist schwarz, verzau­bert und voller dunkler Geheim­nisse.
Saralisa Volms Regie­debüt Schwei­gend steht der Wald greift solche Gedanken auf, und erzählt eine atmo­s­phä­risch dichte Geschichte von Geheimnis und Gewalt, Schuld und Verdrän­gung.

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Sie raucht, sie trinkt, sie schießt auf Tiere, sie isst Fleisch, sie hat keinen Lover zur Hand – diese Anja ist eine sehr unge­wöhn­liche deutsche Film­heldin.

Das liegt natürlich auch daran, dass es der Genrefilm in Deutsch­land seit jeher ganz besonders schwer hat, und es nicht alle Tage vorkommt, dass sich eine deutsche Filmfigur, noch dazu eine Frau, eine tiefe Wunde, die ihr gerade von einem riesigen Eber gerissen wurde, mal eben selber zutackert.

Im US-Kino heißt so etwas »final girl« – die, die am Ende übrig­bleibt. Ein »Survivor«, die tatsäch­lich diese Bezeich­nung verdient. Henriette Confurius spielt diese kämp­fe­ri­sche Über­le­bens­künst­lerin hier mit viel Ernst, und großer Inten­sität. Sie ist recht eigen, verschlossen und schwer zugäng­lich, seltsam melan­cho­lisch, mögli­cher­weise selbst ein wenig trau­ma­ti­siert, mögli­cher­weise aber auch nur hart­nä­ckiger und einfach stärker als die anderen. Jeden­falls geht sie unbeirrt und unbe­stech­lich ihren Weg, immer tiefer hinein, gegen die Angst. Sie heißt Anja Grimm, und da alles eben auch in den tief­schwarzen Wäldern des baye­ri­schen Grenz­lands spielt, ist dieser Name natürlich kein Zufall.

Sie trägt diesen Film, der verschie­dene Elemente mischt, der anfangs wie ein Horror- oder Myste­rys­tück loslegt, und sich dann nach und nach zu einer Detek­tiv­ge­schichte entwi­ckelt – in der es aller­dings eine Studentin der Forst­wirt­schaft ist, die erken­nungs­dienst­lich tätig wird. Anja ist eine exzel­lente Boden­ex­pertin. Die junge Frau kann die Zeichen des Waldes und die Beschaf­fen­heit des Bodens lesen wie ein offenes Buch. Sie erkennt Dinge im Wald, die alle anderen übersehen.

So zum Beispiel, das in einer Lichtung der Boden, wie sie sagt, »massiv gestört« ist. Es gibt Anomalien in der Zusam­men­set­zung, für die es nur eine wissen­schaft­liche Erklärung gibt: Er wurde unge­wöhn­lich tief umge­graben. Deswegen geht sie noch einmal zurück, unter­sucht alles genauer, und stößt damit auf die Spuren eines kollek­tiven Geheim­nisses, das eine ganze Dorf­ge­mein­schaft seit Jahr­zehnten nicht loslässt.

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Horror-Gesten von Anfang an. Würmer, die sich im Boden winden, Moos und dann mit einer Nahauf­nahme eines Pilzes. Ein beun­ru­hi­gender Auftakt, zugleich ein kleines Zitat von David Lynchs »Blue Velvet«-Beginn; eine Metapher für die Monster, die sich unter der Erde verbergen. Sogleich prägt eine düstere Stimmung den Film. Alles hier ist visuell und atmo­s­phä­risch erzählt, manches bleibt vage, nichts ist anständig ausbuch­sta­biert, überhaupt verzichtet dieser Film auf all jene ästhe­ti­schen Anstands­gesten, die vielen deutschen Filme­ma­chern schon in Fleisch und Blut über­ge­gangen sind.
Atmo­s­phä­risch domi­nieren Geheimnis und Dunkel­heit. Bilder und Licht sind meist düster, es domi­nieren Grautöne, dunkles Blau. Eine Atmo­s­phäre des Verber­gens. Das passt dazu, dass es in diesem Film vor allem um das geht, was nicht zu sehen ist, was man verbergen will, was aber wie alles Verdrängte mit der Zeit an die Ober­fläche kommen muss.

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Als 8-jähriges Mädchen hat Anja an diesem gleichen Ort, einem deutschen Twin Peaks, mit ihren Eltern Urlaub gemacht. Während dieses Urlaubs änderte sich ihr Leben radikal für immer. Denn ihr Vater verschwand seiner­zeit spurlos. Bis heute lässt das die junge Frau nicht los. Sie ist Vaters Tochter. Sie erbt die Suche ihres Vaters, und setzt an diesem Ort ihrer Kindheit dessen Werk fort, selbst auf die Gefahr, dafür zu sterben.

Kurz nach ihrer Ankunft kommt es zu einem brutalen Mord. Und bald regt sich bei Anja der Verdacht, dass beides mitein­ander zu tun hat, dass der Täter etwas über das Schicksal ihres Vaters weiß. Während die Polizei auf ihre Fragen und Nach­for­schungen äußerst reser­viert reagiert, weckt ihre Neugier bei den Dorf­be­woh­nern Miss­trauen und Feind­se­lig­keit. Und vertraut sie mit dem Wald und seinen Tiefen­schichten, der toten Erde ist, so unver­traut sind ihr die Menschen. Sie scheint nicht ganz zu verstehen, was in ihnen vor sich geht, und ihren Erfahrung im Entzif­fern alter Spuren hilft ihr nicht dabei die Menschen zu begreifen. Sie wird es erst nach und nach heraus­finden.

Denn zunehmend macht sich Anja allein auf dem Weg und ermittelt für sich. Jetzt mobi­li­sieren sich Kräfte im Dorf, die zu allem bereit sind.

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»Du sorgst dafür, dass diese Stinkfotz verschwindet. Diese Grimm, die hat irgend einen sechsten Sinn. Die liest den Wald wie keiner von uns.«
So redet man über sie. Hier jeden­falls.

So ist Schwei­gend steht der Wald auch ein abgrün­diges Porträt deutscher Provinz. Die Bewohner dieses Ortes sind keine deutschen Hobbits, keine nied­li­chen Wich­tel­männer, nicht »kauzig, aber nett«. Nett sind sie ganz und gar nicht, Sie sind mürrisch, nüchtern und etwas unbe­holfen. Und gerade in dieser tumben Unbe­hol­fen­heit gefähr­lich.

In einer (deutschen) Film­land­schaft, die ganz und gar von urbanen Maßstäben und Inter­essen dominiert ist, und in der man zwar in jeder Region Krimis dreht, die aber alle unun­ter­scheidbar gleich aussehen, zwischen Kitsch­idylle und Strei­chel­bau­erhof, wie eben für den Großs­tädter beim Land­aus­flug am, Woche­n­ende, in solch einer Film­land­schaft ist dieser genaue Blick auf die Provinz und ihren Vexier­bild­cha­rakter, und das wenig schmei­chel­hafte Porträt einer Dorf­ge­mein­schaft selten.

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Als Film­pro­du­zentin von deutschen Inde­pen­dent-Projekten und als Schau­spie­lerin – zum Beispiel in mehreren Filmen des kürzlich verstor­benen deutschen Autoren­fil­mers Klaus Lemke – ist Saralisa Volm seit Jahren bekannt. Jetzt hat sie auch ihren ersten Film als Regis­seurin gedreht, und sofort etwas Unge­wöhn­li­ches geschaffen: Schwei­gend steht der Wald hatte auf der Berlinale im Februar Premiere und ist ein unge­wöhn­li­cher deutscher Film: Genrekino, das Elemente des Krimi­nal­films nicht nur mit Horror und Mystery verbindet, sondern auch mit Anspruch. Dieser Spielfilm wählt einen unge­wöhn­li­chen Zugang, um von deutscher Erin­ne­rungs­kultur und über den Umgang mit verdrängten Vergan­gen­heiten zu erzählen.

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Die Söhne erben die Morde der Väter. Es gibt kein »Einmal muss es genug sein«.

Man lernt auch was: Zum Beispiel, was es mit dem KZ Flos­sen­bürg auf sich hatte. Mit dem Besuch von Sandro Pertini und Franz-Josef Strauß an jenem Ort im Herbst 1979, zu dem der damalige Bundes­prä­si­dent, das ehemalige NSDAP-Mitglied Karl Carstens (CDU, was sonst?) ausge­laden wurde. Und mit der Zebrajagd im bayri­schen Wald.

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So ist dieser atmo­s­phä­risch starke Thriller zugleich eine univer­sale Geschichte über den Umgang mit Schuld. Schwei­gend steht der Wald zeigt eine baye­ri­sche Provinz, die alles andere als heimelig ist – und ein Deutsch­land, dessen Bewohner von der düsteren Vergan­gen­heit nicht wissen wollen.
Dabei hat sich das Unter­be­wusste der kollek­tiven Verdrän­gung sogar in die Kultur­ge­schichte einge­schrieben, wie sich zeigt, als die junge Helden namens Grimm einmal in der Dorf­wirt­schaft den verdutzten Einhei­mi­schen ihre Deutung des bekann­testen Grimm­schen Märchens präsen­tiert:

»Hänsel und Gretel im Laibachhof. Muss ne ziemlich asoziale Familie gewesen sein. Ich meine: Wer setzt seine Kinder mitten in einer Hungersnot im Wald aus?
Aber die Kinder waren auch nicht normal. Das waren Klein­kri­mi­nelle. Die haben nicht ange­klopft und um Hilfe gebeten; die sind einfach gleich einge­bro­chen. Die alte Frau hat das natürlich sofort verstanden. Und hat den Jungen einge­sperrt. Würde ich auch so machen. Aber das Mädchen war leider genauso verkommen. Also befreit sie ihren Bruder. Sie erschlagen die alte Frau, rauben sie aus, verbrennen sie und kehren mit reicher Beute nach Hause.
Und die Eltern haben kein Problem damit, die hane­büchene Geschichte der bösen Hexe zu glauben. Wir ja auch nicht.
Unser Lieb­lings­mär­chen ist bloß eine wider­liche, über­zu­ckerte Pogrom­story.
Das sitzt so tief – die Schreie der verbren­nenden Frau, die hören wir gar nicht.«

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Die Leichen liegen nicht immer im Keller, in Deutsch­land liegen sie auch im Wald.

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Das will man aber hier­zu­lande nicht hören.

Auch der Tatsache, dass Film wie alle Kunst Mytho­logie ist und mytho­lo­gisch kommu­ni­ziert, in Zeichen­codes, nicht pädago­gisch und logisch korrekt, dieser Wahrheit verwei­gert sich der deutsche Film seit Jahr­zehnten konse­quent. Natürlich gibt es (wenige) Ausnahmen.

Aber die Regel ist die, so ein Kino aber mal ganz fix in die Schranken zu verweisen, ihm genüss­lich seine kleineren und größeren Mängel vorzu­halten, auf dass es sich in die Ecke stellt, und ganz schlimm schämt.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die deutsche Film­kritik immer gerade an solchen Filmen – also an den wenigen Ausnahmen, die mal etwas anders machen, mal etwas versuchen – ihre sonst sorg­fältig unter­drückte Süffisanz raus lässt, sich hart gibt, Titel wählt, wie »Tatort Grusel­wald«, und ihr auffällt, dass hier tatsäch­lich »Klischees bedient« werden – so als würde Christian Petzolds gruse­liger Märchen­film Undine oder Maren Ades Toni Erdmann nicht auch allerlei Klischees bedienen. Als würden Klischees nicht in neun von zehn Hollywood-Filmen ganz schön krass bedient werden.
Was übrigens auch gar nicht schlimm ist, denn Klischees gehören immer dazu, gerade zum Genrekino. Es wäre nicht der Rede wert, es ist dies nur, weil die deutsche Kritik sonst so schwei­gend dasteht wie der Wald in diesem Film.
Dass ein Film bestimmte Klischees bedient, lese ich in Rezen­sionen über US-ameri­ka­ni­sche Filme fast nie. Aber im Fall von Saralisa Volm muss dann alles aber mal ganz genau aufge­rechnet werden. Ich frage mich schon, warum eigent­lich? Sucht Euch doch andere Gegner, Kollegen! Warum ein Quasi-Inde­pen­dent-Film? Constantin-Filme zum Beispiel, Filme bei denen Euch die Pres­se­agentur beim nächsten Mal zur Strafe das Interview verwei­gert...

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Ich bin überzeugt, dass Schwei­gend steht der Wald einer der besten deutschen Filme dieses Jahres ist. Viel­leicht sogar der aller­beste. Gerade auch, weil er nicht perfekt ist, weil er gar nicht perfekt sein will, weil er aber mit sich im Reinen ist, sich treu ist und weil er alle möglichen Türen aufmacht zu weiteren Filmen, die ich zumindest wahn­sinnig gerne sehen würde.

Viel­leicht ist es ja das, was manche daran so nervt: Dieser Film zeigt, was fehlt, und verzichtet ganz auf jene gesittete bürger­liche Lange­weile, in der es sich der deutsche Film sonst so gern gemütlich macht.