72. Berlinale 2022: Kurzkritiken |
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Eines der dichtesten, beeindruckendsten Spielfilmdebüts: Kurdwin Ayubs Sonne | ||
(Foto: Berlinale Kurdwin Ayubs Sonne) |
Von Redaktion
Ask, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod (D 2022 · R: Cem Kaya · Panorama Dokumente)
Nach dem fulminanten Remake, Remix, Rip-Off nun der zweite geschichtsschreibende Crowdpleaser des Berliner Dokumentarfilmregisseurs Cem Kaya. Wo er sich im Vorgänger dem türkischen Exploitation-Kino widmete,
geht es nun um die Musik der türkischen Gastarbeiter von den 60ern bis ins neue Jahrtausend. Was will man viel schreiben – inhaltlich wie filmisch ist es wieder ein leichtfüßiges Potpourri mit toller Musik und tollen Typen (Mann/Frau/unklar), doch das emotional aufgeladene Archivmaterial, das wie eine Chronik der türkischen Gastarbeiter zu lesen ist, haut stellenweise ganz tief rein. (Sedat Aslan)
Nana (Before, Now & Then) (Indonesien 2022 · R: Kamila Andini · Wettbewerb)
Gekonnt führt Kamila Andini in ihrem vierten Film eine Vielzahl an wohlkostümierten Figuren durch eine Vielzahl an schön ausgestatteten Locations und eine welthaltige, mit mystisch aufgeladenen Bildern gespickte Story – und
dennoch bleibt das Resultat, trotz permanentem, Wong-Kar-wai-eskem Musikeinsatz, merkwürdig abstrakt und fern, wie die Holographie einer früheren Liebe. (Sedat Aslan)
Les passagers de la nuit (F 2022 · R: Mikhaël Hers · Wettbewerb)
Eine tolle, subtile Performance von Charlotte Gainsbourg und die leichtfüßige und süßliche Amour Fou eines Teenagers können nicht verhindern, dass sich dieser äußerst flüchtig erzählte Film nach dem Kinobesuch genauso schnell wieder verflüchtigt. Fast
schon lachhaft, wie die Figuren nach einem siebenjährigen Zeitsprung in genau demselben Kostüm weiter rumrennen. 80cp? C‘mon, werter Ekkehard! (Sedat Aslan)
Eine deutsche Partei (D 2022 · R: Simon Brückner · Berlinale Special) (Sedat Aslan)
In sechs Kapitel gegliedert, schafft es Simon Brückner mit seinem AfD-Beobachtungsfilm, Einblicke in eine über alle Maßen zerrissene Partei zu bieten. Anfangs steht die Erkenntnis, dass in der AfD nicht nur Idioten zu finden sind, aber die Gemäßigteren zunehmend in den Hintergrund gedrängt werden;
später jedoch gibt es eine unerwartete Begegnung mit einem politisch talentierten und charismatischen jungen Mann, der an Sebastian Kurz denken und einem das Blut gefrieren lässt. Ein spannender und universell lesbarer Prozess in filmischer Form. (Sedat Aslan)
The Outfit (USA 2021 · R: Graham Moore · Berlinale Special Gala)
Ein Seht-her-wie-clever-ich-bin-Thriller um einen englischen Maßschneider im Chicago der 60er, handwerklich sehr gut, der aber irgendwann mit seinen Twists und Turns ermüdet und uns lieber mehr übers Handwerk mit Schere und Nadel erzählt hätte, denn das wäre auch ungeplottet spannend. (Sedat Aslan)
Une fleur à la bouche (F/D/ROK 2022 · R: Éric Baudelaire · Forum)
Pirandello, die Zweite: Nach Der Nagel die zweite freie Adaption einer Erzählung des italienischen Nobelpreisträgers im Programm, eine langgezogene dokumentarische Sequenz über den Schnittblumenhandel ist diesem
Zwei-Personen-Stück vorangestellt und kommentiert, kontextualisiert diese. Ein rares Mischwesen, das lange nachhallt. (Sedat Aslan)
A Love Song (USA 2022 · R: Max Walker-Silverman · Panorama)
Da sind sie wieder, Liebe und Vergänglichkeit, die beiden großen Themen der Weltliteratur, die in kongenialer Weise von Max Walker-Silverman ohne jede Aufregung zusammengebracht werden. Lauter kleine Einfälle wie die Unmöglichkeit, alleine Waffeleis zu
essen oder das immer passende Radio-Roulette, schaffen so viel mit so wenig, von der majestätischen Landschaft, genauso zerfurcht wie das Gesicht der Protagonistin, ganz abgesehen. Ein Glanzstück. (Sedat Aslan)
Myanmar Diaries (NL/Myanmar/N 2022 · R: The Myanmar Film Collective · Panorama Dokumente)
Film ist ein faszinierendes Medium, das innerhalb weniger Minuten den Bürgerkrieg in Myanmar zu meinem persönlichen Problem macht, wenn eine 67-jährige Mutter sich gegen eine Armada von Polizeitransportern stellt. Eine
Collage an Augenzeugenvideos und reflexiven Spielszenen, gefertigt und montiert von einem anonymen Kollektiv, das einen den Atem raubt und den Spruch »Sharing is Caring« in neuem, politischem Licht erscheinen lässt. Würdiger Gewinner des Dokumentarfilmpreises 2022. (Sedat Aslan)
Schweigend steht der Wald (D 2022 · R: Saralisa Volm · Perspektive Deutsches Kino)
NS-Gräuel einmal ganz anders erzählt. Hat auch Robert Schwentke in seinem tollen Hauptmann die Gegenwart fast schon perfide mit der Vergangenheit konfrontiert, geht Saralisa Volm noch einen Schritt
weiter und setzt die Forstpraktikantin Anja Grimm (Henriette Confurius) als Spurensucherin in Szene, die über das Verschwinden ihres Vaters auf KZ-Todesmärsche stößt und sogar noch Franz Josef Strauß mit ins Spiel bringt – und die Gegenwart der 1990er Jahre das Schweigen der Vergangenheit kapert. Wolfram Fleischhauer, der auch schon für das wild-kreative Drehbuch von Fikkefuchs
verantwortlich war, hat hier seinen eigenen Roman filmisch adaptiert, der unter der Regie von Volm und mit einer wie immer betont subkutan spielenden Confurius zum überzeugenden (und spannenden) Gothic-Thriller wird. (Axel Timo Purr)
Stimmungsvoll inszeniertes und stark produziertes Debüt der Schauspielerin und Produzentin Saralisa Volm, nach dem gleichnamigen Roman von Wolfram Fleischhauer, vom Autor selbst adaptiert. Hier liegt dann auch das Problem, denn die
Verbindung junge Spurensucherin – geheime NS-Massengräber – Fatalismus des deutschen Waldes mag in der Vorlage funktionieren, auf 95 Minuten Film gequetscht fühlt sich vieles nur behauptet und konstruiert an. Man hofft bei der zweiten Regiearbeit auf mehr Wagemut jenseits von über drei Ecken doch fernsehkompatibler Krimikost. (Sedat Aslan)
El Veterano (Chile 2022 · R: Jerónimo Rodríguez · Forum)
Faszinierend, wie ungerührt der Chilene Jerónimo Rodríguez hier Text und Bild in einer strengen Parallelführung durchzieht. Der sachlich-nüchterne Bericht über die Recherchen um die obskure Geschichte eines amerikanischen Priesters auf Mission im Süden Chiles
in den 50er Jahren führt zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Der Priester soll als US-Soldat am Abwurf der Atombombe in Japan beteiligt gewesen sein.
Während in lakonischen Sätzen die spröden Fakten eine Atmosphäre wie in einer Jorge-Luis-Borges-Erzählung erzeugen, zeigen die fixen Einstellungen Fassaden, Mauern, Straßen, Geschäfte, Schilder, Graffiti, Plätze, Landschaften, die zu den im Text erwähnten Örtlichkeiten gehören, von Santiago de Chile über Dörfer im Süden Chiles bis New
York und Iowa. Die methodische Konsequenz, mit der uns die Bilder jegliche Form von fiction verweigern, uns auf Geschichten-Entzug setzen, erzeugt eine kalt strahlende Magie und eine Poesie von ganz eigenem Reiz. (Wolfgang Lasinger)
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Afterwater (D/E/HR 2022 · R: Dane Komljen · Forum)
Filmische Gewässerkunde: Limnologie, die sich mit Binnengewässern beschäftigt, wird hier nicht als abstrakt-begriffliche Reflexion betrieben, sondern als sinnliche Erkundung durch Körper und Leiber, von Körpern und Leibern. Namenlos bleibende, nur sparsam über Worte
kommunizierende Figuren überlassen sich ganz dem Ertasten und Erspüren der natürlichen Umgebung an einem See, sie tauchen ein ins klare Wasser, bis die Grenzen von Haut und Person sich auflösen. Die Kamera führt uns in drei verschiedene Gewässerlandschaften vom Stechlin-See bis nach Spanien, und jedes Mal ist es eine andere Dreierkonfiguration von Körpern, die sich darin der Umgebung überlässt. Die Bilder und die Textspuren (von Unamuno bis Adorno) werden immer auratischer
und somnambuler, Transparenz und Opakheit verschränken sich. Gleichermaßen weit entfernt von romantischer Naturfeier wie von mystischer Versenkung, geht es hier um eine halluzinierende Klarsicht jenseits von Narration. Das führt in einen utopischen Zustand außerhalb jeglicher Zeitlichkeit, der von einer seltsamen Sanftmut erfüllt ist. (Wolfgang Lasinger)
Kdyby radši hořelo (CZ 2022 · R: Adam Koloman Rybanský · Panorama)
Adam Koloman Rybanskýs Debütfilm ist ein schnell getakteter Grenzgang zwischen schwarzer Komödie und Burleske. Wie eine Versuchsanleitung sehen wir ein kleines tschechisches Dorf an Rassismus und »Fake News« beinahe zugrunde gehen. Rybanský zeigt klug Mechanismen und Ursprünge dieser Fehlentwicklung auf, zeigt über lokale Verhältnisse, was global genauso passiert, bietet
dokumentarisch anmutende, furchteinflößende Einblicke in das Leben auf dem Land, verhebt sich dann aber am Genre, denn nur selten stimmt das Timing, bleiben Slapstick und Humor genauso auf der Strecke wie die Moral der Protagonisten. (Axel Timo Purr)
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Comedy Queen (S 2022 · R: Sanna Lenken · Generation)
Der Preisträger der Kinderjury Generation Kplus, die den »Gläsernen Bären« vergibt, heißt Comedy Queen und ist kein lockerer Gute-Laune-Film, sondern erzählt mit großer Sensibilität von einer schwierigen Phase im Leben der 13-jährigen Sasha. Sie muss mit dem Tod ihrer Mutter, die unter zunehmenden Depressionen litt und diesem Leben ein Ende setzte, zurechtkommen. Nach
ersten, weniger gelungenen Versuchen, auch den trauernden Vater durch ein paar witzig gemeinte Wortspielereien aufzumuntern, legt sie eine »Überlebensliste« an mit persönlichen Zielen, um den Vater wieder zum Lachen zu bringen. Sanna Lenken hat diese Geschichte einfühlsam und für das junge Publikum (empfohlen ab 10 J.) nachvollziehbar inszeniert und Sigrid Johnson als Sasha spielt ihre anspruchsvolle Rolle mit einer beeindruckenden Natürlichkeit. Für die schwedische
Regisseurin Sanna Lenken (geb. 1978), die am Dramatiska Institutet in Stockholm studierte und am Talentförderungsprogramm »Berlinale Talents« teilnahm, ist Comedy Queen nach ihrem Spielfilmdebüt Stella (Berlinale Generation 2015, Gläserner Bär) der zweite – preisgekrönte – Film bei Generation. (Christel Strobel)
Das muss man sich erst einmal
trauen: Depression, Selbstmord und ein ungezügeltes Coming-of-Age in einen Film zu packen! Da wirken die Bemühungen des deutschen Kinderfilms fast schon bieder und hilflos, wenn wir der von der großartigen Sigrid Johnson verkörperten 13-jährige Sascha beim konsequenten, fast schon brutalen Abhaken ihrer Überlebensliste zusehen. Sie ist eine fast schon übermächtige Wiedergängerin von Caroline Links Der Junge muss an die frische Luft, denn auch hier will das Kind eigentlich nur eins, ein trauerndes Elternteil wieder zum Lachen zu bringen, um dadurch den Weg zum Comedian zu finden. So beeindruckend wie wichtig ist, dass Regisseurin Sanna Lenken sich nicht scheut, die böse Fratze der Depression mit all ihrer Gnadenlosigkeit in den Raum zu stellen. (Axel Timo Purr)
Das stille Mädchen (IR 2022 · R: Colm Bairéad · Generation)
Cáit, ein zartes Kind, das mehr beobachtet als spricht, wächst mit vier Geschwistern im rauen Klima einer irischen Familie auf und wird in den Sommerferien zu Verwandten aufs Land gebracht. Es sind friedliche Sommertage, doch Cáit spürt, dass es ein Geheimnis in diesem Haus gibt. Aber auch, als sie es von Seán erfährt, geschieht das in großer Ruhe. Schließlich geht auch so ein glücklicher
Sommer zu Ende, Cáit muss zurück in die Schule und in ihre um einen Bruder größer gewordene Familie. Die Wärme und Anerkennung in diesem Sommer haben das stille Mädchen verändert, Cáit weiß, was sie will, und es ist ihr zu wünschen – das Ende lässt es hoffen. Ein außergewöhnlicher Film (empfohlen ab 8 J.) voller tiefer Gefühle und mit einer in unglaublicher Intensität agierenden Darstellerin (Catherine Clinch), die man nicht so schnell vergisst. Und nicht zuletzt trägt auch die
atmosphärische Musik zur starken Wirkung bei. Das alles wurde von der Internationalen Jury von Generation Kplus zurecht mit dem Großen Preis für den besten Film honoriert. (Christel Strobel)
Echo (DE 2022 · R: Mareike Wegener · Perspektive Deutsches Kino)
Vergangene Schrecken hallen nach wie Echos Stimme. Zweiter Weltkrieg, Todesmarsch, Bomben, Afghanistan, eine Mumie. Eine eigenartige, etwas zu simpel gedachte Zusammenstellung und Überlagerung! Einfach abschließen mit dem Gestern, alles verdrängen?
Die Bombe fix wegsprengen? Zum Glück schreitet Mareike Wegeners Film in letzter Sekunde ein! Pinker Nebel erinnert an eigene und kollektive Wunden, er lässt das Chaos losbrechen, wo die gedehnten, teils symmetrisch aufgebauten Einstellungen noch Kontrolle suggerieren. Das erinnert abwechselnd an Wes Anderson und Roy Andersson, ohne den Witz, ohne die Traurigkeit.
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Mutzenbacher (Ö 2022 · R: Ruth Beckermann · Encounters)
Ruth Beckermanns Casting-Experiment provoziert hervorragend. Es funktioniert, weil es genau um seinen Zündstoff weiß, um die Dinge, die es aus den Probanden mit der Kraft der Kunst herauskitzeln kann, aber niemals mit bloßstellenden, sondern
neugierigen Absichten vorgeht. Beckermann hat mit den Porno-Texten über die Mutzenbacherin quasi das »Elders react to«-Format aus dem Internet auf die Leinwand geholt. Sexismus gerät ins Straucheln, Sorgen brechen anrührend, teils witzig hervor. Schade, dass die Texte meist nur Anstoßgeber sein dürfen! Mitunter entgleiten Beckermann drängende Fragen und Fokussierungen in all den Plaudereien.
Grand Jeté (D 2022 · R: Isabelle Stever · Panorama)Isabelle Stevers Leibesbetrachtungen bekommt man so schnell nicht aus dem Kopf. Ihr anstößiges Porträt einer Mutter-Sohn-Affäre ist ein Skandal, weil es gerade nichts skandalisiert, nichts erklärt oder diskutiert, sondern nur darstellt. Und wie intensiv das gelingt! Mit einem virtuosen Spiel mit Licht, Unschärfe, Nahaufnahmen, entfesselter Kamera, teils kaum zu ertragender Körperlichkeit. Stever ist eine Meisterin haptischer Kinobilder. Romantik ist bei ihr die Aneignung der Katastrophen und Verfehlungen der eigenen Biographie. Rebellion gegen Rollenbilder und Verlustängste als ewiger Teufelskreislauf aus Lust und Frust. Eine Romanze im Fahrwasser von Die Klavierspielerin, Black Swan und Titane.
Occhiali neri (Dark Glasses) (I/F 2021 · R: Dario Argento · Berlinale Special Gala)
Warte bis es dunkel wird: Nach einer Sonnenfinsternis – die andere Corona-Gefahr – verliert die Protagonistin, eine Sex-Arbeiterin in Rom, ihr Augenlicht. Das Sehen und
Mit-Blicken-verfolgt-werden war bei Argento schon immer ein so riskanter wie lustvoller Akt. Dieser Film widerlegt nicht gerade Tarantinos These, dass man vor dem entzaubernden Alterswerk aufhören sollte. Dennoch hat sich noch ein bisschen was bewegt beim einstigen Meister. Mörder und Kamera sind im male gaze nicht mehr ganz so eins; der Killer schaut das misogyn-voyeuristisch Maniac-Remake, während Argento ungewohntes Mitleid, relative Milde mit seinen
(weiblichen) Opfern zeigt. Und außerdem erfahren Blindenhunde eine späte Ehrenrettung nach Suspiria. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
La ligne (CH/F/B 2022 · R: Ursula Meier · Wettbewerb)
La ligne, die Linie, ist ein 100 Meter-Umkreis um das Haus ihrer Mutter, den Margaret seit einem handgreiflichen Streit laut Gerichtsbeschluss nicht mehr betreten darf. Nachdem Margaret sich den ganzen Film über an dieser Grenze abarbeitet und auf Nähe drängt,
findet sie am Ende die Befreiung in der inneren Entfernung, wo sie das passiv-aggressive Knöpfedrücken nicht mehr erreicht. Doch den Weg dorthin bringt der Film nie richtig auf den Punkt. Vor allem die sonst so schätzenswerte Valeria Bruni-Tedeschi lässt er bis fast zur Farce übersteuern, zu viele Details, Momente landen knapp am Ziel vorbei. Dabei scheint gerade in der Figur der vermeintlich langweiligsten der drei Schwestern immer wieder ein stimmigerer Blick auf. (Anna Edelmann
& Thomas Willmann)
Everything will be OK (F 2021 · R: Rithy Panh · Wettbewerb)
»Denk da mal drüber nach! – Der Film«. Aber nein. Wir denken nicht drüber nach, ob Holocaust, Kükenschreddern und Social Media völlig gleichwertige Menschheits-Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Nicht drüber, ob ungewitzt handgeschnitzte
Dioramen, selbstverliebt abgefilmt, mit banal »poetischem« Voice Over aus plattesten Botschaften (Welt schlecht! Mensch böse! Poesie toll!) große Experimentalkunst machen. Nicht drüber, ob dieser Film beim tausendsten Zeigen der ersten Google-Treffer zu Filmgeschichte, Ausschnitte (Metropolis, Méliès...) uns erstmals die Augen für deren Kunst öffnet. Und – insbesondere auf dieser nur dank
2G+ durchführbaren Berlinale – nicht drüber, ob Impfungen finstere Instrumente totalitärer Regierungen sind. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Alcarràs (E/I2022 · R: Carla Simón · Wettbewerb)
An und pfirsich lässt man sich ja gern mal aus dem Berliner Februar nach Katalonien auf eine Plantage versetzen. Aber obst es schon großes Kino ist, wenn man empfindet »Ja, so ist das dort wohl...«, steht auf einem anderen Blatt. Recht schnell ist der Ort, die Bauernfamilie etabliert – und über zwei Stunden bleibt alles weitere
Treiben dann, trotz Protesten gegen Großhändler und Solaranlagen, Ernte, Dorffest, dramaturgisch eher fruchtlos. Der pseudo-dokumentarische Stil lässt nur kümmerlich Gestaltungskraft aufkeimen. Dass der Film tatsächlich den Goldenen Bären einfährt, war baum zu erwarten. (Thomas Willmann)
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Keiko, me wo sumasete (Small, Slow, But Steady) (J/F 2022 · R: Shô Miyake · Encounters)
Der vielleicht sanfteste Boxfilm überhaupt. Und nicht, weil die gehörlose Keiko als Frau nicht austeilen, einstecken könnte. Die Spuren in ihrem Gesicht zeugen vom Gegenteil. Doch die Kämpfe im Ring sind hier Nebensache – der
eine nur angedeutet gezeigt, der zweite pandemiebedingt ohne aufpeitschende Kulisse. Shô Miyake sublimiert das Genre: Der Charakter offenbart sich nicht nach Punkten, durch K.O. – sondern schon ganz im Erringen der Bereitschaft zum Kampf. Keiko ist ein wunderbar feingezeichnetes Doppelportrait seiner Protagonistin und des alternden Chefs ihres vor der Schließung stehenden Boxclubs. Die besten Boxfilme sind immer Verliererfilme. (Thomas Willmann)
Klondike (UA/TR 2022 · R: Maryna Er Gorbach · Panorama)
Tagespolitisch aktueller kann man einen Film kaum lancieren – denn nicht nur Russland droht ja seit Wochen dem Land, seit heute schießen die von Russland unterstützten Separatisten im Donbass auch wieder. Und genau hier ist Maryna Er Gorbachs düsteres Kriegsalltagsdrama verankert. Es schildert die Tage vor und nach dem Abschuss von Malaysia Airlines Flug 17, zeigt ein Paar in einem
kriegs-versehrten Haus, die Frau ist hochschwanger, der Bruder ist gegen die Separatisten, die auch den Ehemann rekrutieren wollen, ein Leben zwischen Kühemelken, Fußballgucken und Geschossen jeder Art aus dem Weg gehen. Ein sogartiges, verzweifeltes, in matten Farben und kargem Licht gehaltenes Drama, das der Breaking-News-Oberfläche mit klassischen Western-Elementen endlich das notwendige Fundament unterwuchtet. (Axel Timo Purr)
Leonora addio (I 2021 · R: Paolo Taviani · Wettbewerb)
Der mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnete zweite Film Paolo Tavianis ohne seinen 2018 verstorbenen Bruder Vittorio ist eine beeindruckende Hommage an das gemeinsame Werk – zumindest thematisch, da auch hier wie so oft in ihren Filmen Menschen und Italien in einem Übergangsstadium gezeigt werden. Doch wie so viele Regisseure, man denke nur an Godard, oder Schriftsteller (Arno Schmidt,
James Joyce), interessiert sich Taviani auf seine alten Tage nicht mehr für die geradlinige Erzählweise, die Tradition, sondern er experimentiert mit Schwarz-weiß- und Farbfilm (allein der Übergang vom einen zum anderen, das Erblühen des Meeres!), integriert Filmausschnitte von Rosselini und Antonioni und altes dokumentarisches Archivmaterial, wechselt von artifizieller, theatralischer Inszenierung zu neorealistischer Klassik und setzt auf die Kernerzählung
über die bizarre Überführung von Luigo Pirandellos Asche nach Sizilien gleich noch die Verfilmung von Pirandellos symbolgeladener letzter Erzählung drauf, um dann mit großartiger musikalischer Untermalung zum Anfang zurückzukehren und damit in einem großen Moment auch den Kreislauf des Lebens zu vollenden: poetisch, melancholisch, erhaben, kristallklar, fast schon ein Abschiednehmen. Aber was für eins! (Axel Timo Purr)
Unrueh (CH 2022 · R: Cyril Schäublin · Encounters)
Wer Uhren baut, formt Zeit, formt Menschen, Epochen. Allein dieses Bauen ist eine Schau, so sinnlich erkundet und bebildert Unrueh das Uhrmachergeschaft. Kalte Mechanik entfaltet sich als Wunder auf der Leinwand, während politische Strömungen
unter dem Brennglas kollidieren. Menschen wollen die Zeit anhalten, Fotos werden geschossen – Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Akt des Wartens. Arbeitswesen werden geformt, in den Bildern stehen sie entrückt und in Ecken gedrängt. Zeit ist auch Ideologie, der Film lässt das noch einmal ganz neu wahrnehmen und ertasten. Einzigartig! Solche Encounters-Werke stehlen auch 2022 dem Berlinale-Wettbewerb die Show. (Janick Nolting)
Rooz-e sib (IR 2022 · R: Mahmoud Ghaffari · Generation Kplus)
Es ist erstaunlich, wie selten das iranische Kino enttäuscht. Auch dieser Film über eine Familie, deren Erwerbsarbeit der Verkauf von Äpfeln ist, beeindruckt durch seine neorealistische Wucht und ist anders als die kürzlich in die Kinos gekommene Ballade von der weißen Kuh
(und viele andere iranische Filme) völlig frei vom Parabelhaften. Stattdessen sehen wir den knallharten Überlebenskampf in einem Vorort Teherans, sehen fast dokumentarisch-nüchterne Schul- und Familienszenen, die Hässlichkeit der Stadt und der Traum vom Land und einer besseren Welt. (Axel Timo Purr)
Ladies Only (D/Indien 2021 · R: Rebana Liz John · Perspektive Deutsches Kino)
Der Siegerfilm im Wettbewerb um den besten jungen deutschen Film ist eine klassische feministische Beobachtung, die an die Filme Helke Sanders erinnert. Rebana Liz John interviewt junge und alte Frauen in den legendären
Vorortzügen Mumbais, fragt sie nach ihrer Wut und lässt sie Gedichte vorlesen, um sie zu einer Reflexion über ihr Frausein zu animieren. Obwohl an einigen Stellen zu lang und repetitiv, zu sehr im poetischen Leerraum verharrend, überzeugt Johns Arbeit nicht nur wegen der eindringlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die die bunte, indische Kleidungswelt links liegen lassen und auf die Worte und die eindringlichen Gesichter fokussieren. Sondern vor allem auch, weil dies ein markanter
Gegenentwurf zu den all den Stereotypen ist, die gemeinhin über Indien und seine Frauen im Umlauf sind. (Axel Timo Purr)
A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe (DE/FR 2022 · R: Nicolette Krebitz · Wettbewerb)
Krebitz' Film ist ein seltsamer Hybrid, der genauso auf den Spuren eines Alt-Jung-Beziehungs-Klassikers wie Harold und Maude wandelt als auch Nouvelle Vague-Filme wie Außer Atem oder Patricia Highsmith alias Tom Ripley- Verfilmungen wie Nur die Sonne war Zeuge erzählerisch und formal einverleibt. Dennoch emanzipiert sich Krebitz immer wieder von den Schatten der Vergangenheit, etwa mit der poetisch-wilden Vogelszene und den Sprachübungen und führt eine großartige Sophie Rois
soweit, dass sie sogar Isabelle Huppert in den Schatten stellt. Schade, dass all das mit keinem Preis belohnt wurde. (Axel Timo Purr)
Un été comme ça (CA 2022 · R: Denis Côté · Wettbewerb)
Einer der überraschendsten Filme. Denn Côté nimmt in seiner Versuchsanordnung über drei hypersexuelle Frauen und ihre Therapeutinnen in einem sommerlichen Therapie-Retreat nebenbei so ziemlich alles mit, was es thematisch so gibt: Krafft-Ebings Psychopathia
Sexualis und neue Therapie-Ansätze des Hamburger Instituts für Sexualforschung, wirft das aber auch im nächsten Moment gleich wieder von sich. Denn von den therapeutischen Sitzungen sehen wir eigentlich kaum etwas, dafür begibt sich Côté mit großartigen Close-ups in die seelischen und körperlichen Innenräume seiner eindringlich spielenden Protagonistinnen, nimmt sich Zeit, etwa für eine intensive Bondage-Szene, die eben nicht pornografisch, sondern so subtil
psychologisch angelegt ist, demonstriert und gleichzeitig mit einem Augenaufschlag erklärt, dass Côtés Film gerne noch zweieinhalb weitere Stunde hätte dauern können, so gut ist das alles. (Axel Timo Purr)
So-seol-ga-ui yeong-hwa (The Novelist’s Film) (KR 2021 · R: Hong Sangsoo · Wettbewerb)
Hong ist der Meister der Wiederholungen. Zu sagen, dass sich seine Filme alle gleichen, wäre falsch: Im Grunde arbeitet er an dem einen großen Film, der in sich lauter kleine narrative Schleifen zieht. Diese verweisen
selbstreflexiv auch auf sich selbst und das, was gerade passiert: Ein Film ist im Entstehen. Hong hat wieder eine solche Miniatur in den Wettbewerb mitgebracht. Diesmal sieht er einer Schriftstellerin zu, wie sie sich an einem sonnigen Wintertag durch eine südkoreanische Kleinstadt treiben lässt. Alles startet in einer Buchhandlung, dann geht sie in eine Ausstellung, wo sie ein Paar trifft, mit dem sie dann spazieren geht, wo sie wiederum einer Schauspielerin begegnet, mit der
sie zurück in die Buchhandlung kehrt. Beim Saufgelage mit einem befreundeten Regisseur kommt die (Schnaps-)Idee zu einem Film auf, den die Schriftstellerin mit der Schauspielerin drehen wird, und den wir am Ende sehen werden. Im Hong-Sangsoo-Bingo: Alle Felder ausgefüllt! Das bereitet wie immer großes Vergnügen (Dunja Bialas)
Against the Ice (IS/DK 2021 · Peter Flinth · Berlinale Special)
Auch Netflix hat es wieder ins Berlinale-Programm geschafft und hüllt einen in die miefige Decke des Altbekannten. Against the Ice ist ein müde arrangiertes Best of von Survivalfilm-Zutaten vor hübscher Kulisse. Nikolaj Coster-Waldau und Joe Cole müssen sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch Grönlands Eis schlagen, basierend auf wahren Begebenheiten. Zu seinen historischen Tatsachen
rund um territoriale Besitzansprüche weiß sich dieser Film kaum zu verhalten, er betreibt lieber Mythenpflege für einen Vergessenen. Selbst als reines Affektkino gelingt es ihm selten, seine Strapazen fühlbar werden zu lassen, dafür muss man sich schon selbst ohne Jacke auf den kalten Potsdamer Platz stellen. (Janick Nolting)
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Alcarràs (E/I 2022 · R: Carla Simón · Wettbewerb)
Die Kinder in diesem Wettbewerbsbeitrag sind eine Sensation oder vielmehr das Talent der Regisseurin, diese in Szene zu setzen. Wie sie deren Perspektive einnimmt, um gleichermaßen unverfroren, neugierig wie bewusst elliptisch auf diesen Werte- und Wirtschaftskampf auf der bedrohten katalonischen Pfirsichplantage zu
blicken. Carla Simón betreibt ein sozialrealistisches Filmemachen, das in seinem Konflikt zwar schnell durchschaut ist, aber mit einer ungeheuren Lebendigkeit und Intensität besticht, einem Gespür, wann es an der Zeit ist, sich in den abgeschotteten Mikrokosmos zurückziehen und wann und wie man die große Welt in ihn hereinbrechen lassen sollte. (Janick Nolting)
Drii Winter (CH/D 2022 · R: Michael Koch · Wettbewerb)
»What is love?« Dieser ewigen Frage widmet sich Michael Koch in seiner Liebestragödie in den Schweizer Alpen. Als Marco einen Hirntumor bekommt, muss Anna sich dazu verhalten, präzise und konzentriert nimmt der Regisseur diesen Prozess auseinander. Es ist im Grunde die dezente, dennoch unerbittliche Geschichte eines Verfalls und des Umgangs damit, nicht mehr und nicht weniger, wenn man die
beeindruckenden Beobachtungen einer alpinen Existenz mal außen vor lässt. Das reicht dem Regisseur aber nicht, er ist vor manieristischen Marotten nicht gefeit, wenn er im spärlichen Dialog über Gebühr prophetische Zeilen, kommentierende Songtexte (s. Haddaway) und einen leibhaftigen griechischen Chor in schwyzerdütschem Gewand präsentiert, um dem ganzen mehr Gravitas und den Geruch von Zwangsläufigkeit zu verleihen, aber es bekommt dadurch auch etwas Episierendes,
Exemplarisches. In diesem Zwiespalt zwischen betont nüchternem Zugang und pathetischer Zuspitzung, zwischen kunstvoller Unaufdringlichkeit und übersteigertem Gestaltungswillen bewegt sich auch die Titelgebung, Drii Winter gegenüber dem englischen Titel A Piece of Sky. Ein etwas fader Beigeschmack bleibt, da kann das Programmheft noch so jubilieren. (Sedat Aslan)
Brainwashed: Sex-Camera-Power (USA 2022 · R: Nina Menkes · Panorama Dokumente)
Wenn Ideologiekritik selbst Ideologie wird: Nina Menkes‘ abgefilmter Vortrag liefert durchaus wichtige Ansätze, wie man als Filmemacher*in bewusster mit der Wahl seiner Bilder umgeht. Dabei ist die Analyse keineswegs tiefgründig, im Prinzip wiederholen sich die Erkenntnisse der ersten 10 Minuten wie ein Mantra in den folgenden 100. Zur Verdeutlichung dienen
neben einigen Testimonials vor allem Filmausschnitte. Menkes vermeidet allzu deutliche Beispiele wie Basic Instinct oder Der letzte Tango in Paris, sondern nimmt auch subtilere und ambivalente Schnipsel aus Lost
in Translation und Le mépris, wobei das Urteil immer dasselbe ist – so sollte man es nicht machen, Punkt. Weder wird der male gaze kulturhistorisch oder soziokulturell hergeleitet, noch die per se voyeuristische Natur des Kinos thematisiert, noch herausgearbeitet, dass im Kino gezeigte maskuline Körperbilder und Verhaltensweisen nicht etwa selbstermächtigend,
wie hier dargestellt, sondern genauso problematisch sind. Der Film erklärt letztlich Frauen und generell jeden Zuschauer zum wehrlosen Opfer einer subliminalen Manipulation. Kunst müsste in letzter Konsequenz normiert werden, um das auszuschließen, und der Film bestätigt sich in dieser Hinsicht fortlaufend selbst, kurze Statements etwa von Laura Mulvey, die den Begriff des male gaze geprägt hat, suggerieren wissenschaftliche Legitimität, ohne jeden Zweifel oder Diskurs
oder nähere Kontextualisierung der verwendeten Bilder, und auch ohne jedes Verständnis dafür, dass hier eine Ideologie einfach eine andere ersetzt. Darüber hinaus wird man den Verdacht nicht los, dass es sich hier um ein »Vanity Project« der Regisseurin handelt, neben ihrer ganz persönlichen Heldenreise nimmt vor allem ihre Filmografie über Gebühr Raum ein – dies geht so weit, dass sie sich nicht entblödet, für Beispiele, wie man es richtig macht, allen Ernstes größtenteils
aus den eigenen Filmen bedient. Seriosität geht anders. (Sedat Aslan)
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Camuflaje (RA 2022 · R: Jonathan Perel · Forum)
Der dokumentarische Landvermesser Jonathan Perel arbeitet weiter an seinen Topographien des Terrors der argentinischen Militärdiktatur. In Camuflaje heftet er sich an die Fersen des Schriftstellers Félix Bruzzone, der um das Militärgelände Campo de
Mayo herum die Pfade als unermüdlicher Jogger abläuft, jenes Militärgelände, auf dem die Armee ein Konzentrationslager unterhielt, in dem auch die Eltern Bruzzones verschwunden sind. Bruzzone befragt Verwandte und Leute, die sich mit dem Militärgelände auf die unterschiedlichste Weise befassen; Perel ist als geduldiger Beobachter, Zeuge und Zuhörer dabei, auch auf den Laufwegen Bruzzones: abstrus-absurder Höhepunkt der Erkundung ist der »Killer Race«, der auf dem
Militärgelände als großer Volkslauf veranstaltet wird und der Bruzzone als Teilnehmer in Teile des Lagers führt, an die er als Recherchierender mit dem Kamerateam sonst nie hingelassen worden wäre. Der umgängliche Plauderton, der bei den Befragungen am Anfang vorherrscht, erweist sich als trügerisch: beeindruckend an dem Film ist, wie der Rhythmus des Laufens die Pace vorgibt und unbeirrbar ein Zentrum des Wortlosen sich auftun lässt. (Wolfgang Lasinger)
Brat vo vsyom (Brother in Every Inch) (RU 2022 · R: Alexander Zolotukhin · Encounters)
Gibt es eine Anmut des Krieges? In diesem zarten Military-Coming-of-Age-Film allemal. Die blonden Wimpern der Zwillinge Mitya und Andrey flackern, wenn sie die Luft mit ihren schnellen Jets durchschneiden. Der eine fällt gar in
Ohnmacht, hat immer eine Kotztüte dabei. Die entscheidende Flugprobe durch einen Starkregen aber überlebt er – und fährt anschließend zärtlich einer Missile-Rakete über den Nasenrücken. In 16mm und leicht überbelichtet erzählt der Armee-Spezialist Alexander Zolotukhin nach Russian Youth erneut ästhetisch leicht überhöht von einem dunklen Kapitel in der russischen Jugend. Das ist heute nur deshalb im Kinosessel erträglich, weil jetzt Nachrichten von
einer langsamen Entspannung an der russisch-ukrainischen Grenze durchsickern. Die latente und ungemütliche Verklärung der schnellen Fighter bleibt trotzdem.
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Un año, una noche (E/F 2021 · R: Isaki Lacuesta · Wettbewerb)
Mit dem Blutbad von Bataclan ereignete sich 2015 eines der größten Erschütterungen der westlichen Jugendkultur. »Die Luft war voller Partikel«, erinnert sich Céline in Isaki Lacuestas Trauma-Bewältigungsfilm, »wir sollten nicht nach unten sehen«.
Sie tut es trotzdem und sieht einen mit Leichen bedeckten Boden, Blutgeruch im ganzen Raum. Die nur langsam wiederkehrende Erinnerung rückt die eigenartige Schönheit der in der Luft schwebenden Teilchen zurecht: Es war ein Gemisch aus Schießpulver und Hautfetzen, ein visuelles Echo des Anschlags. Céline hat überlebt, und auch ihr Freund Ramón. Wie unterschiedlich sie mit dem Trauma umgehen, wird das Thema des Films sein, ausgetragen zwischen den Antipoden von intensiver
Erinnerungsarbeit und totaler Verdrängung, bei der sich erst mit großer Zeitverzögerung die Wunde zeigt. Zum Ende hin nimmt der Film noch einen überraschenden Twist, eine überflüssige Verunsicherung, die allzu gewollt und wenig plausibel ist. Den konstruierten nur »eingebildeten Freund«, l’ami imaginaire, gibt schon die Drehbuchvorlage nicht her, ist der Film doch nach dem Roman des realen Überlebenden Ramón Gonzalez entstanden. Dem jungen Paar, gespielt
von Nahuel Pérez Biscayart und Noémie Merlant, aber schaut man gerne zu, und auch die klaustrophobische Nacht von Bataclan rekonstruiert sich angemessen fragmentarisch. (Dunja Bialas)
Keiko, me wo sumasete (J/F, 2022 · R: Shô Miyake · Encounters)
Die auf 16mm gedrehte Verfilmung der Autobiografie von Keiko Ogasawaras Autobiografie »Makenaide!« über eine jugendliche, taube Profiboxerin ist fast so etwas wie die sportliche Variante von Drive My Car.Was dort Tschechow ist, ist hier das Boxen – ein Weg zu reflektieren, Widerstand
zu leisten und wieder lebendig in einem Tokyo zu sein, das Lebendigkeit im Keim erstickt. Gleichzeitig erzählt Miyake mit dokumentarischer Klarheit auch von den kleinsten Alltagspartikeln, erzählt von den Folgen der Corona-Pandemie, dem Verlust von Traditionen und Träumen. Und davon, wie es einem gelingen kann, wieder Vertrauen in das Sprechen mit den Mitmenschen entwickeln. Und immer wieder davor, dazwischen, über allem: die grandios fotografierte Stadt und ihre Innenräume,
die ihre Bewohner zu verschlucken droht. (Axel Timo Purr)
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À propos de Joan (F/D/IRL, 2021 · R: Laurent Larivière · Berlinale Special Gala)
Leider hat es Isabelle Huppert dann doch nicht zur Berlinale geschafft, um ihren Goldenen Berlinale-Bären für ihr Lebenswerk entgegenzunehmen, weil sie kurz vor Abflug positiv getestet wurde. Das macht aber gar nichts, denn ihr neuer Film macht den roten Teppich wieder wett. Nachdem sie mich in
Eine Frau mit berauschenden Talenten eher enttäuscht hatte, präsentiert sie sich hier mit all ihren Facetten. Das liegt auch an dem guten Drehbuch dieses Films über eine verbitterte Frau, die die Zeit ihres Lebens wie eine Spirale hinabreist und sich den Gespenstern ihrer Vergangenheit stellt. Es ist ein Porträt, das an Jan-Ole Gersters Lara erinnert, dann aber überraschend poetisch wird und eine Frau skizziert, die vom Leben und der Liebe betrogen, weder ihre Kinder noch ihre Männer so lieben kann, wie das erwartet wird und am Ende von einem großartig aufspielenden Lars Eidinger ganz wunderbar geerdet wird. (Axel Timo Purr)
Sorry Genosse (D 2022 · R: Vera Brückner · Perspektive Deutsches Kino)
Vera Brückners HFF-Abschlussfilm dokumentiert die Geschichte einer durch den eisernen Vorhang verhinderten Liebe, die sich Anfang der 1970er durch surreale Momente und eine abstruse Flucht eine gemeinsame Zukunft erkämpft. Doch Brückner erzählt mehr als nur eine Liebesgeschichte mit einem gar nicht mal so überraschenden, aber ernüchternden Ende. Mit Hilfe von Archivmaterial
und den Erzählungen und vorgelesenen Briefen ihrer Protagonisten lässt sie auch zwei System wiederauferstehen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und als noch alles andere als klar ist, was die Geschichte entscheidet, ob nicht doch die DDR das vielleicht bessere Land ist. Starke, flirrende, Madelaine-artige Momente, wenn Hedi beim Vorlesen der alten Briefe die alte Liebe zu Karl-Heinz wieder vor Augen steht, und das, was daraus geworden ist, in die Quere kommt. Ein
starkes Debüt, dessen einziger Wermutstropfen vielleicht ist, dass nicht die Original-Ton-Steine-Scherben-Songs eingespielt werden. (Axel Timo Purr)
Europe (D/F 2022 · R: Philip Scheffner · Forum)
Alles scheint sich bestens zu fügen für Zohra, die eine komplizierte Rückenoperation überstanden und nun aufrecht gehen und richtig atmen kann. Hoffnungsfroh und selbstgewiss blickt sie in die Zukunft, leicht liegt der klare Sommertag in der französischen Kleinstadt Châtellerault vor ihr, und sie glaubt, trotz der
algerischen Herkunft ihren Platz in der französischen Gesellschaft finden zu können. Doch ein behördlicher Bescheid verändert alles. Die Bilder vom gelingenden Leben entleeren sich, die Koordinaten der Kadrierung geraten aus den Fugen. Die Bushaltestelle »Europe« in ihrem Viertel, am Anfang noch belebt, ist plötzlich verwaist. Oder kann Zohra die Wirklichkeit ausblenden und kraft ihrer Wünsche in der Fiktion weiterleben? Scheffner lässt seinen transparenten
dokumentarischen Stil ein Trugbild der Realität vorspiegeln. Oder ist doch alles in die Funktionale gerutscht? (Wolfgang Lasinger)
Un été comme ça (CA 2022 · R: Denis Côté · Wettbewerb)
Jenseits jeglicher Moralisierung und ohne Angst vor dem male gaze hat sich Denis Côté an eine der größten Provokationen unserer aufgeregten Zeit gewagt. Er – als Mann! – inszeniert eine Handvoll sexsüchtiger junger Frauen, die sich in
ein Retreat begeben, um ihr zwanghaft lustgesteuertes Denken zumindest hin und wieder zu vergessen. Die Versuchsanordnung ist die einer Anti-Therapie, weder »heilender« noch moralisch-sanktionierender Eingriff, gefilmt wurde in sehr nahen, das Körperliche betonenden Close-ups, in denen das Filmkorn mit den Hautporen zur Kernschmelze gebracht wird. Provozierend ist es, Frauen in ihrer Lust zu zeigen, und auch die Vertauschung der Lustobjekte Frau gegen Mann. Dass dies alles ein
Mann gefilmt hat, wenn auch auf Basis ernsthafter Recherche, wird die Zuschauerinnen noch mehr gegen diesen Film aufbringen, noch dazu, weil er so kunstvoll ist. Ein Missverständnis, denn: Eine ganze Fußballmanschaft zu befriedigen ist hier eben keine Männer-Phantasie. (Dunja Bialas)
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush (D/F 2022, R: Andreas Dresen, Wettbewerb)
Deutscher Film goes amerikanisches Justizdrama. Der wahre Guantanamo-Hintergrund verspricht klirrende Authentizität, aber anders als in seinem Gundermann, der auf allen Ebenen aus einem Guss ist, fragt man
sich in Dresens neuem Film alle paar Minuten, ob die hier gewählte Form die richtige für das Thema ist. Denn Dresen schwankt zwischen Drama und schlechter deutscher Komödie unentschlossen hin und her, garniert abstoßende und zu Recht kritisierte Lokal- und Weltpolitik mit Klischee und plumpem TV-Witz, der selten witzig ist und kaum Biss hat und am Ende eigentlich nur eine beunruhigend Frage aufwirft: was hätte Steven Soderbergh aus diesem Stoff gemacht, gäbe es nicht schon Erin Brockovich. (Axel Timo Purr)
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Avec amour et acharnement (F 2021, R: Claire Denis, Wettbewerb)
Wer sich immer schon einmal gewünscht hat, dass Catherine und Jim in François Truffauts Jules und Jim nicht sterben, sondern alle drei zusammen alt
werden, für den ist Claire Denis' so wilde wie sprunghafte Ménage-à-trois wie geschaffen. Denn Denis zeigt so poetisch wie platt, dass alte Liebe nicht rostet und auch die Generation Ü50 noch zu Spaß, Leiden und vor allem Liebe fähig ist. Wirklicher Höhepunkt dieses toxischen Liebesreigens ist der finale, lautstarke Streit zwischen Jean und Sara, ein verbales Dauerfeuer der Superlative – so etwas gab es im Kino schon lange nicht mehr zu sehen. Wem das alles zu
französisch ist, dem sei die gerade im tagesaktuellen Kino angelaufene amerikanische Ménage-à-trois in Marry Me – Verheiratet auf den ersten Blick empfohlen. (Axel Timo Purr)
Wenn Sara dauernd von ihrem Ex François spricht, dauernd nach François fragt, bei François’ bloßer Erwähnung Saras Stimme und Knie zittern, dann sollte das Jean, seit zehn Jahren Saras Freund und
neuerdings Geschäftspartner von François, doch zu denken geben, möchte man glauben, aber Jean hat sein eigenes Päckchen zu tragen, nämlich seinen problembeladenen Sohn aus geschiedener Ehe mit einer Schwarzen, einen »Mischling« also, aufgesetzte Rassenthematik inklusive, die nur seiner Ablenkung dienen soll. Ein in mehrfacher Hinsicht blendendes Werk, suggestive Super-Close-Ups, bedeutungsschwer wummernde Streicher und bewusste Achssprünge in Reihe (ernsthaft jetzt?) gehören zum
Register. Ich liebe Dreiecksgeschichten, aber dies ist geschmackvoll gefertigter Edelkitsch, der wie seine Protagonisten – ach was, Schachfiguren! – um ein Schwarzes Loch kreist. (Sedat Aslan)
A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe (D/F 2022, R: Nicolette Krebitz)
Wie Sophie Rois eine Gruppe Halbstarker verbal brutzelt, das ist schon großes Kino. Nicolette Krebitz erzählt nach der ungewöhnlichen Beziehung Frau-Wolf in Wild von der etwas weniger ungewöhnlichen Beziehung Lehrerin-Schüler. Schräg und verspielt genug, um unvorhersehbar zu bleiben. Für den Großteil
dieses Schauspiel-Tohuwabohus haben Jugendliche inzwischen den Begriff »cringe«. (Janick Nolting) Nicolette Krebitz möchte das Alphabet der Liebe buchstabieren, und man musste anfangs befürchten, dass sie zumindest alle Vokale durchnimmt, doch sie bleibt schon bei »A« hängen, nimmt sich für diesen Buchstaben Zeit, und das ist gut so – Anna trifft Adrian, und heraus kommt ein flüchtiger, sommerlicher (oder eben zweiter-frühling-hafter) Liebesfilm, bisweilen zu brav
und zu literarisch geraten, aber dafür voll entwaffnendem Charme. (Sedat Aslan)
Taurus (USA 2022 · R: Tim Sutton)
Machine Gun Kellys Alter-Ego-Drogentrip ist symptomatisch für viele Star-Geschichten: Für überzogene Mythen- und Legendenbildung, für Vermarktung ist Exzess gerade noch gut genug, zugleich gibt man sich allzu erzieherisch, moralisierend, warnend vor dem bösen Showgeschäft. Wieder einmal zieht sich jemand unter dem Druck der Öffentlichkeit in Selbstmitleid und Rausch zurück. Doch nicht alles nur gespielt?
Wen juckt’s! Fehlt nur noch der Kampfbegriff Authentizität. Der Rest ist Nuscheln, Krächzen und Raunen. Immerhin: Machine Guns Auftritt nebst Verlobter, Megan Fox, in Berlin war...speziell. (Janick Nolting)
Super Natural (P 2022 · R: Jorge Jácome · Forum)
Ein poetischer Essay, der auf spielerisch-leichte Weise die Grenzen zwischen den Arten auflöst. Mal dokumentarische Meditation über die Landschaft Madeiras, mal Tierfilm, mal Performance mit Mitgliedern einer inklusiven Theatergruppe, mal bloßes
Gekritzel, das ein bisschen herumspinnt – alles erweist sich hier als mit allem verbunden, als unendliche Verschachtelung von Körpern in Körpern in Körpern: Menschen, Tiere, Pflanzen und Felsen, unbekannte Wesen, deren unartikulierte Stimmen hörbar gemacht werden… Das droht zwar immer wieder ins Animistische oder Esoterische hinüberzuschwappen, jedoch bleibt Jácomes Erkundung immer in der Balance zwischen einer heiterer Gelassenheit und neuen Naivität, die sich
nicht bevormundend über ihre Gegenstände erhebt. Speziesismus-Kritik ohne aufdringliche Zeigefinger-Attitüde. (Wolfgang Lasinger)
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Coma (F 2022 · R: Bertrand Bonello · Encounters)
Der Lockdown gebiert Monster, wie es der Traum und der Schlaf nie vermochten: Bonello erkundet in seiner hypnotisierenden Mischung aus Essay, Tagebuch und Horrorvision die inneren Irrgänge einer jungen Frau in der durch das »confinement« erzwungenen Isolation. Die perfekt inszenierten Netz-Auftritte der
Influencerin Patricia Coma werden zum Orientierungspunkt zwischen gespenstischen Zoomsitzungen mit den Freundinnen, den Ausflügen ins Zwischenreich des eigenen Unterbewusstseins und der imaginierten Soap Opera im barbie-artigen Puppenstübchen. Bonello scheut nicht das Pathos der Verzweiflung und Betroffenheit, das er eindringlich im persönlich-poetischen Prolog und Epilog zeigt. Auf verstörende Weise erwächst am Ende aus der Erhabenheit von
Naturkatastrophenbildern eine kathartische Kraft. (Wolfgang Lasinger)
Yin Ru Chen Yan – Return to Dust (China 2022 · R: Li Ruijun)
Der Berlinale-Wettbewerb besticht endlich einmal mit Bildgewalt. Anmutiger kann man beschwerliche Feld- und Handarbeit kaum noch in Szene setzen. Zu schön, um sich nicht irgendwann zu fragen, ob man da nicht gerade auch gewisser
Ideologie auf den Leim geht, die das Bauen und Werkeln, das Durchhalten zum Sinn des Lebens erhebt, allen äußeren Umständen zum Trotz. Doch die tragische Kehrtwende sitzt. Wofür die ganze Schinderei, wenn ihr Zweck hinfällig wird? Das System ist stärker, ein Lebensentwurf zerfällt in Sekunden. Staub zu Staub. Ein heißer Bären-Kandidat? (Janick Nolting)
Happer’s Comet (USA 2022 · R: Tyler Taormina · Forum)
Die Errettung der physischen Realität der Nacht. Profanes als Fragment erscheint plötzlich als mystisches Faszinosum. Aufwachen und Aufwachsen in der Dunkelheit, Erinnerungen an Filmgeschichten ziehen vorbei. Keine Dialoge, kein Geschwätz, nur ein
umwerfendes Zusammenspiel aus Bild und Klang in diesen stimmungsvollen Szenen der nächtlichen Vorstadt. Ein Horrorfilm, Drama, Liebesfilm, eine Coming-of-Age-Geschichte, alles in nur einer fantastischen Stunde. Wo die Menschen Kontakte und Sprache verloren haben, muss das Kino aushelfen. Ein Glanzstück der Forum-Sektion! Vielleicht der erste überragende Lockdownfilm. (Janick Nolting)
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush (D/F 2022 · R: Andreas Dresen · Wettbewerb)
»Eine Frage der Ehre« meets »Die Friseuse«: Ja, der Film macht aus einer welthaltigen Story hollywoodkompatibles Boulevardtheater; ja, er hat die Ästhetik von Fernsehfilmen; ja, er ist mehr als brav und hat das Herz vielleicht zu sehr auf dem rechten Fleck. Aber wir haben im deutschen Kino echt kein
Überangebot an publikumswirksamen Filmen, die Herz haben, wirklich witzig sind und über die eigene Nasenspitze hinausweisen – und das mit einer kleinen, dicken türkischen Mutter als Hauptfigur. Der Filmsnob in mir ist heute mal ruhig, und der Kinofan soll sich freuen. (Sedat Aslan)
La ligne (CH/F/BEL 2022 · R: Ursula Meier · Wettbewerb)
Drei Schwestern plus eine Mutter spielen in Ursula Meiers Arthouse-Dramedy die Hauptrollen, wobei Mutter und älteste Tochter ihr gemeinsames postnatales Trauma, beginnend mit einer folgenreichen Ohrfeige, die zu einer auferlegten zeitlichen wie räumlichen Trennung führt, in der finalen Konfrontation dann doch nicht aufarbeiten, was man wohl so hinnehmen muss. Bis dahin überzeugt neben
dem Ensemble vor allem das geschliffene Drehbuch – man wird aber den Verdacht nicht los, dass dem Film ein Äquivalent zu der genannten Ohrfeige abgeht. (Sedat Aslan)
La edad media (The Middle Ages (ARG 2022) · R: Alejo Moguillansky, Luciana Acuña · Forum)
Ein argentinisches Künstlerehepaar performed während des Lockdowns in den eigenen vier Wänden einen verspielten Beckett, und man wird beim Zusehen fast zu einem Familienmitglied. Star der Show ist die zehnjährige
Tochter Cleo, zugleich auch Erzählerin – unglaublich, was die Kleine für ein Timing hat! Wegen solch unverhoffter Entdeckungen geht man auf Filmfestivals. (Sedat Aslan)
Sonne (Ö 2022 · R: Kurdwin Ayub · Encounters)
Da sieht man mal, was man davon hat, wenn man Minderheiten selbst die Kamera in die Hand drückt, statt ihre Geschichten in Produkten der Mehrheitsgesellschaft zu verwursten, nämlich: keine dauernd nur über soziopolitische Fragen definierte Figuren, sondern solche wie aus Fleisch und Blut, mit Konflikten, die nicht abstrakt
erscheinen, sondern für jeden Menschen, egal welchen Geschlechtes oder welcher Herkunft, nachfühlbar sind. Kurdwin Ayup mixt Tiktok-Videos und WhatsApp-Nachrichten souverän mit Cinemascope-Bildern, ohne jemals beliebig zu sein. Ihre Hauptfigur Yesmin ist sowas wie eine Systemsprengerin in leise, und solcherlei Vibes hat man auch beim Sehen dieses Films – für mich eines der dichtesten, beeindruckendsten Spielfilmdebüts seit Nora Fingscheidts Systemsprenger. (Sedat Aslan)
L’état et moi (D 2022 · R: Max Linz · Forum)
Max Linz‘ gewitzte Anschläge auf die Grundfesten des Bildungsbürgertums mit seinen eigenen Mitteln gehen in die dritte Runde und widmen sich diesmal v. a. der Juristerei. Mehr eine Variation von Vertrautem als eine grundlegende Neuausrichtung, schaut man dem Ganzen mit proletarischem Dauergrinsen zu: Sollte Max Linz tatsächlich der Wes Anderson sein, den wir verdienen und, vor allem,
haben? Heribert Fassbender würde sagen: Ein lupenreiner Hattrick! (Sedat Aslan)
Everything Will Be Ok (F/KH 2021 · R: Rithy Panh · Wettbewerb)
Nach Gunda von 2020 der nächste Beitrag, der die Beziehung Mensch-Tier in sein Zentrum stellt: Rithy Panhs essayistisches Puppentheater ist
hervorragend gestaltet und insbesondere technisch eine Meisterleistung, inhaltlich eine Abrechnung mit der Spezies Mensch, wenn z. B. ein an den Flügeln aufgehängtes Fledermausfigürchen zu den Worten der begleitenden Suada (»wir sind eure Nahrung und euer Testgebiet«) klar macht, dass ein solcherart »kulinarisches Kino« für die Berlinale eine ganz andere Relevanz bekommen hat, doch wird man der über Bild und Ton unaufhörlich eingetrichterten Botschaft irgendwann
überdrüssig und möchte zynisch zurückrufen: schön, dass uns das mal jemand sagt. (Sedat Aslan)
Neues vom Planet der Affen. Das Übel einer grausamen Menschheit, beobachtet durch Tieraugen. Der Spieß dreht sich um, Affen an die Macht, alte Vergehen bleiben. Rithy Panhs aufregende Montage von Miniaturen und Archivmaterial besitzt noch immer ihre Reize. Die Kulturkritik seiner
Dystopie gerät derweil ähnlich plump und konfus wie in seinem letztem Berlinale-Film Irradiated. Panh hat seinen Künstler-Zenit überschritten. Philosophische und ethische Fragen zerfasern nur noch in wüst überladenen Schockeffekten und einem didaktischen Pamphlet voller Binsen. (Janick Nolting)
Avec amour et acharnement (F 2021 · R: Claire Denis · Wettbewerb)
Claire Denis und die Tindersticks gehören einfach zusammen. Genau wie Juliette Binoche und Vincent Lindon in ihrem Schauspiel. Man möchte den beiden noch ewig dabei zusehen. Wie sie sich anschreien, verletzen, während die zärtlichen
Wohlfühlbilder der ersten Filmminuten zittrigem Chaos weichen. Eine Liebe zerfällt in ihre Einzelteile. Die Beziehung zwischen den beiden ist eine heimgesuchte, Vergangenes schwelt noch in der Gegenwart. Man trägt es selbst in der Hosentasche spazieren. Schade, dass Denis dieses Mal so betulich und zäh durch ihre bekannten Motive tappt, bevor der überwältigende Schlussakt gelingt. (Janick Nolting)
Occhiali neri Dark Glasses (I/F 2021 · R: Dario Argento · Berlinale Special)
Das ist doch tatsächlich ein waschechter Giallo im Jahre 2022, mit aufgeschnittenen Kehlen, blanken Brüsten, blutrünstigen Hunden: Altmeister Dario Argento schafft es trotz sichtbar limitiertem Budget und merklich
kurzer Entwicklungszeit, einmal mehr mithilfe eines treibenden elektronischen Scores, eine stimmige gespenstische Atmosphäre zu zaubern wie nur wenige sonst. Über genretypische Unzulänglichkeiten soll man nicht weiter meckern, jedoch schon mal den „Male Gaze“ problematisieren, aber wenn Argento eh gerade in Berlin ist, kann er sich ja am Montag die Dokumentation darüber ansehen. (Sedat Aslan)
Wir könnten genauso gut tot sein (D/RO 2022 · R: Natalia Sinelnikova · Perspektive Deutsches Kino)
Vom ersten Moment an ist Natalia Sinelnikova aufs Wohlwollen ihres Publikums angewiesen, anstatt es zu überzeugen, denn sie zeigt die Dystopie nicht, sie behauptet sie nur und verlangt, dass man ihr das trotz mangelnder Beweise abnimmt; sie will, dass man sich emotional
involviert, obwohl sie ihre blasse Hauptfigur wie die anderen roboterhaften Wesen mit maximal zwei Gesichtsausdrucken durch den Film scheucht; und bedeutungsschwere Querverweise wie zur »Festung Europa« in der Migrationskrise, sektenartigen Religionsgemeinschaften oder gar einem orwell’schen Polizeistaat zieht, wovon die Zombie-Apocalypse dann auch nicht mehr allzu weit entfernt ist. Eine Kopfgeburt, die nie zu einer ästhetischen Erfahrung wird und wie eine
Vorentwicklungsstufe anmutet, anstatt ein für sich stehendes Werk zu sein. Somit wiederum besäße dieser Eröffnungsfilm der Perspektive ein Erkennungsmerkmal vieler Filme dieser Sektion über die Jahre, was dann tatsächlich etwas über die Mentalität des deutschen Kinos und seines Nachwuchses aussagen würde. (Sedat Aslan)
Robe of Gems (MEX/RA 2022 · R: Natalia López Gallardo): Im mexikanischen Niemandsland sollte man sich lieber nicht verirren, das ist inzwischen bekannt. Natalia López Gallardo wiederholt in ihrem Wettbewerbsbeitrag trotzdem noch einmal zum Mitschreiben. Dafür braucht es bleiche Bilder, starrend-schweigende Menschen, zeitlichen Stillstand und Gewalt-Schocks. Kryptisch und elliptisch gibt sich dieses Gesellschaftsporträt. Fernanda Valadez hat das jüngst in ihrem artverwandten Debüt Was geschah mit Bus 670? wesentlich packender verdichtet, wesentlich poetischer. (Janick Nolting)
Peter von Kant (F 2021 · R: François Ozon · Wettbewerb)
Was Spider-Man: No Way Home für eingefleischte Marvel-Fans ist, ist Peter von Kant für Fassbinder-Afficionados: Sehr viel »Ach, das erkenne ich wieder!«,
»Hach, das kommt daher!«, »Ei, das ist ja wie früher...«. Aber aus zweiter Hand, als Abbild, ohne die Rohheit, Ruppigkeit des Originals. Und dann kommt Hanna Schygulla, singt »Schlaf, Kindlein, schlaf« – und wir auch so: »Hach!« (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Incroyable mais vrai (B/F 2021 · R: Quentin Dupieux)
Let’s do the time warp again: Es ist nur ein kleiner Sprung runter ins vermeintliche Abflussloch im Keller – und 12 Stunden voraus. Zeit und Körper bewegen sich immer weiter voneinander fort. Auf seine zunehmend verschrobene, immer französischere Weise hat der einstige Mr. Oizo im Einfamilienhaus einen alltäglichen
»Twilight Zone« Film über den Umgang mit dem Älterwerden ersponnen. Doch frei nach Ein andalusischer Hund: Natürliche Fäulnis kommt von innen. (Anna Edelmann & Thomas Willmann) Quentin Dupieuxs Szenen einer Ehe. Ein Paar lässt sich ein neues Haus aufschwatzen, dessen Keller einen verlockenden Zaubertrick birgt. Dupieux zerlegt damit eine Midlife-Crisis, irgendwo zwischen Verjüngungswahn,
Arbeitsstress und Elektropenis. Existenzialismus im Mini-Format, als gewohnt bizarrer Mix aus Nonsens und Bösartigkeit. Das Gag-Feuerwerk fehlt dieses Mal allerdings, Dupieux war schon unterhaltsamer, bissiger. Erst zum Schluss legt der Meister der Nicht-Pointen los. Eine grandiose Montage will die Welt brennen sehen. (Janick Nolting)
Rimini (Ö/F/D 2022 · R: Ulrich Seidl · Wettbewerb)
Ulrich Seidl nimmt sich einen abgehalfterten Schlagersänger vor – man fragt sich, ist das nicht ein zu leichtes Ziel? Und tatsächlich reihen sich Klischees aneinander, Alkoholismus, Auftritte vor Rentnergruppen, selbst beim animalischen (aber immerhin altersgerechten) Sex mit Groupies reinste Tristesse in
Zentralperspektive. Dennoch stellt sich bei aller ausgestellten Lächerlichkeit diese unaufdringliche Empathie für die Figuren ein, die Seidls Markenzeichen ist. Nur, wenn er zu sehr auf Pathos und Plot macht, verhebt sich Seidl, und das nachhaltig: bei der Vater-Tochter-Geschichte, dem eigentlichen Herz des Films, springt der Funke nicht über, zertrampelt er seine eigene Wahrhaftigkeit. Das können auch grandiose Fragmente und Beobachtungen drumherum nicht kitten. (Sedat
Aslan) Nichts war so schön wie der Kuss von der Mama... Selbst der greise Vater, zum Ende seines Lebens (ein so großer wie schmerzhafter Abschied von Hans-Michael Rehberg), ruft nach seiner Mutter. Aber eigentlich geht es um seinen (noch) virilen Sohn: »Richie Bravo«, schlagersingendes Kaffeefahrtenidol, Gigolo, wodkagetränkt. Ein echtes Viech, in Unterhemd und Seehundmantel, im menschenleeren, nebelverschollenen Winter-Rimini. Ulrich Seidls The Wrestler. Und man möchte Ja sagen, und weiß, dass die Antwort eher Nein lautet, auf die Frage: Findest Du, dass Richie Bravo ein liebenswürdiger Mensch ist? (Anna Edelmann & Thomas Willmann) Ein deprimierendes, im besten Sinne untröstliches Spätwerk. Seidls Auseinandersetzungen mit Ausbeutung und Bigotterie stoßen an ein grausames (Lebens-)Ende. Wieder geht jemand ins Ausland, um das
zu spielen, was er sonst nicht ist. Sänger Richie Bravo verstrickt sich in seinen Lebenslügen. Tochter braucht Geld, Vater stirbt im Heim. Eine finstere Schlager-Revue ist das, mit Figuren, die nichts mehr haben, aber doch nach unten treten können. Nichts mehr zu retten in der dampfenden, umwerfend fotografierten Geisterstadt Rimini. Neues, das dort womöglich entsteht, ist nicht mehr zu erleben. Das Alter lässt alle dahinsiechen. Auch der Rausch ist keiner mehr. (Janick Nolting)
Flux Gourment (USA/HU/UK 2022 · R: Peter Strickland · Encounters)
Open wide: Eine vollmundige Reduktion der Kannibalismus-Szene aus The Cook, The Thief, His Wife And Her Lover. We're very fond of it! (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Blähungen können poetisch sein, daran
erinnert dieser Film. Sie rumoren wie die Konflikte zwischen den Bewohnern einer geschlossenen Gesellschaft, die obskure Sound-Performances mit Nahrungsmitteln aufführt. Peter Strickland ist ein begnadeter Klang- und Effektkünstler; seine theatralen Sequenzen in einem Kinosaal zu erleben, ist ein Ereignis. Der Rest hingegen eher zielloses Sekten-Bohei, dem es an Klarsicht und Exzess fehlt. Zum Schluss müsste hier nur noch gematscht, zerfleischt und ausgeschieden werden, würde Flux Gourmet Konsequenz beweisen. Mundet nicht im Abgang! (Janick Nolting)
Peter von Kant (F 2021 · R: François Ozon · Wettbewerb)
Wenn es so etwas wie einen »Lead-In« im Kino gäbe, müsste man sagen: Peter von Kant war nicht zu beneiden, denn die flammenden Eröffnungsreden von Claudia Roth und Sibel Kekilli hallen einem noch im Ohr (oder die ansonsten zähe
Eröffnungszeremonie hängt in den Knochen), doch merkwürdigerweise funktioniert der nach einer Schnapsidee klingende Einfall, aus Petra Peter zu machen und das Objektiv gewissermaßen auf Fassbinder zurück zu richten, erstaunlich gut, weil Ozon das Drama aufs Wesentliche reduziert und vor allem den bitteren Ernst und die Eitelkeit der Vorlage tilgt. Damit einher geht eine nicht unproblematische Trivialisierung der Künstlerpersönlichkeit Fassbinders, pardon, von
Kants, doch habe ich mir dieses Companion Piece mit einem größeren Genuss angesehen als das angestaubte Original (was auch an dem wie entfesselt aufspielenden Denis Ménochet liegt). (Sedat Aslan)
Viens je t‘emmène (Nobody‘s Hero · R: Alain Guiraudie)
Anfangs konzentriert und vernüglich, zerfasert der politisch-burleske Eröffnungsfilm des diesjährigen Panorama mit zunehmender Dauer, nötigt sein tolles Ensemble immer mehr in Richtung Lustspiel und gelangt schließlich bei den angerissenen Fragen von Xenophobie, kollektiver Psyche sowie erotischem Chaos nicht zu erhofften tieferen Einsichten – man hätte dem Zuschauer schon
mehr zutrauen können. (Sedat Aslan)