Fiktionsentzug |
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Super Natural: die sprechende Frucht | ||
(Foto: Forum 2022 / Jorge Jácome) |
Man konnte den Eindruck haben, dass das Forum nicht mehr so sichtbar war wie in früheren Ausgaben. Lag es an der Sektion »Encounters«, die es jetzt im dritten Jahr gibt und die sich als Komplementär-Wettbewerb mit experimentierfreudigeren Erzählformen etabliert haben dürfte? Lag es daran, dass es den buchstarken Forum-Katalog nicht mehr gab, in dem sich in den letzten Jahren die beachtliche Gewichtigkeit des Forum-Programms bereits physisch und konkret materialisiert hatte?
Schwer zu sagen: Das diesjährige Forum wartete allemal mit beachtlichen Filmen jenseits der konventionellen Genre-Schubladen auf. Und auch die Forum-Seite des Arsenalkinos bot reichliches Material, das den fehlenden Katalog zu ersetzen vermochte – hätte man es vorab gewusst.
Denn leider lotste die offizielle Programmseite der Berlinale die Interessierten nicht direkt auf diese Seiten hin. Hatte man sie aber angesteuert, so konnte man dort wieder in vielerlei Begleittexten zu den Filmen stöbern und eine kontinuierliche Arbeit an filmästhetischen Ausdrucksmitteln verfolgen.
Immer schon spielte das Forum mit den Grenzen zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen, was sich formal häufig in der immer wieder aufs Neue vorgenommenen Aushandlung der Grenzen und Berührungspunkte zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen, zwischen dem Essayistischen und dem Narrativen niederschlug. Markante Beispiele dafür gab es auch 2022 genug.
Der chilenische Film El Veterano von Jerónimo Rodríguez handelt von der Suche nach einer Geschichte, nach einer erzählbaren Geschichte, die auf Gerüchten basiert. Es handelt sich um die Geschichte des US-amerikanischen Priesters Thomas J. Maney (1925-2004) vom Maryknoll-Missionsorden, der in den 50er-Jahren im südlichen Chile wirkte und von dem es dort hieß, er habe am Abwurf der Atombombe über Hiroshima maßgeblich mitgewirkt.
Rodríguez' Film berichtet von den Recherchen zu diesen Gerüchten, indem er auf der Tonspur im Voice-Over davon erzählt, und zwar als einem Projekt, an das sich zwei Freunde namens Julio und Gabriel machen. Der Tonfall ist nüchtern, trocken, lakonisch, auf die knappen Fakten des Alltags und der Reisen im Zusammenhang mit der Recherche reduziert. Der Bericht handelt von Begegnungen und Zerwürfnissen der Freunde, er handelt von Lektüren, von anderen künstlerischen und journalistischen Arbeiten der Freunde, er handelt schließlich auch von Korrekturen und Revisionen, die das Projekt erfährt, dessen Realisation der Film El Veterano sein könnte, den wir gerade sehen.
Doch was zu sehen ist in den durchweg festen Einstellungen, das sind lediglich Ansichten von Orten: menschenleere Orte, Fassaden, Mauern, Plätze, Straßen, Geschäfte, Plakate, Schilder, Landschaften, locations, die mit den im Voice-Over immer wieder fallenden Ortsnamen korrespondieren.
Die berichtete Suche führt durch viele Straßenzüge von Santiago de Chile, führt in ländliche Provinzen südlich von Santiago, in die Ortschaften Curepto und Licantén, führt dann in die USA, nach Queens, Manhattan, Philadelphia und Iowa.
Diese Bilder von den Orten enthalten uns immer etwas vor, auch das dazwischen eingefügte Found-Footage-Material eines Super-8-Films aus den 50er-Jahren, mit Aufnahmen vom Panama-Kanal, Bildern von der Arbeit am Kanal und private Bilder von amerikanischen Beschäftigten und deren Familienangehörigen, auch diese Aufnahmen liefern nur das Substitut für das Zeitkolorit, in das die Recherche über den US-Soldaten und späteren Missionspriesters Maney eigentlich zurückführen sollte.
Wir haben es hier mit einer Art filmischem Essay zu tun, der Bild und gesprochenen Text mit geradezu provozierender Gleichmütigkeit nebeneinanderherlaufen lässt und der damit die Geschichte, die er anvisiert, in ein Off jenseits von Bild- und Tonspur verbannt.
Dabei baut die Voice-Over-Erzählung mit ihrer sachlich nüchternen, aber doch pointierten Lakonik eine Atmosphäre auf, die an Texte von Jorge Luis Borges denken lässt, an eine Art intellektuelle Detektivgeschichte, in der die Wirklichkeit auf knappe Signaturen reduziert wird: Die Bilder weigern sich aber beharrlich, als Illustrationen zum Gesagten lesbar zu sein, der Voice-Over-Text entzieht uns hartnäckig die versprochene Fiktion, indem er unfertig bleibt. Zwischen Bild und Text insistiert jedoch das Historische der politischen Geschichte, von der Unterwerfung der Mapuche-Indios im Süden Chiles über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg der 50er und 60er Jahre bis zu den Graffiti, die von den Protestbewegungen in der jüngsten Gegenwart Chiles zeugen.
Die Methode des Argentiniers Jonathan Perel (Toponimia, 2015, oder Responsabilidad empresarial, 2020 im Forum) ist geprägt von einer ähnlichen Askese und protokollarischen Konsequenz: radikale Reduktion des Bildes, maximale Faktizität der (re)zitierten Akten und Daten. Perel betätigt sich wie in diesen Filmen auch in seinem diesjährigen im Forum programmierten Camuflaje als filmischer Topograph der Schrecken der argentinischen Militärdiktatur. Er gibt aber nun die strengen Zügel aus der Hand und überlässt dem argentinischen Autor Félix Bruzzone die Leitung durch den Film: die Grundanordnung bleibt jedoch dokumentarisch. Bruzzones Eltern sind Opfer der argentinischen Militärs, sie sind in dem Konzentrationslager verschwunden, das auf dem Armeegelände Campos de Mayo betrieben wurde, das in Camuflaje erkundet wird. Bruzzone lebt in der Nähe dieses Geländes, und als er der Bedeutung dieser Örtlichkeiten gewahr wird, beginnt er zu joggen: um dieses Gelände herum, das als Sperrgebiet nicht frei zugänglich ist und als befremdliche Zone aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt. Bruzzones obsessives Joggen wird zum Leitmotiv des Films. Perel heftet sich mit seinem Kamerateam an die Fersen Bruzzones und folgt den Fluchtbewegungen des Läufers, die in peripheren Bewegungen das Sperrgebiet gleichermaßen zu meiden wie zu erkunden bestrebt sind. Von den Rändern und den Säumen der Zone führen sie immer weiter hinein ins Zentrum / Epizentrum des Militärs.
Parallel zu den Laufbewegungen betätigt sich Bruzzone als redender, Gespräche suchender Interviewer, Gespräche im Gehen oder gar im Laufen: Er spricht mit Verwandten über seine verschwundenen Eltern, er spricht mit Leuten, die das Gelände aus biologischer Perspektive erkunden; als Sperrgebiet ist es zum Rückzugsraum seltener Pflanzen- und Tierarten geworden. Andere sehen hier einen großen Abenteuerspielplatz, auf dem sie sich verbotenerweise herumtreiben, andere holen sich »authentische« Erde aus dem blutgetränkten Boden, um sie in Buenos Aires als Souvenir des Terrors zu verkaufen.
Ein spielerischer Gestus der Autofiktion scheint Bruzzones Laufmanie und seine Befragungen zu leiten, der plaudrige Ton der Gespräche lullt trotz der schweren Thematik ein – doch das ist eine Täuschung, das ist Tarnung. Die Camouflage des Joggers eröffnet nämlich unversehens einen Zugang zum Gelände, der zunächst undenkbar schien. Es findet dort ein kommerzielles Event, eine Art Volkslauf statt, ein Military-Hindernisrennen, der sogenannte »Killer Race«. Als Teilnehmer dieses Laufes gelangt Bruzzone mit der ihn begleitenden, seinen Lauf als Hobby-Sportler dokumentierenden Kamera nun in Bereiche des ehemaligen Lagers, für die sonst wohl keine offiziellen Drehgenehmigungen gegeben worden wären. An diesem Höhepunkt des Films wird nicht mehr geredet, es herrscht nun Schweigen, eine beklemmende Wortlosigkeit, mit der er Verschanzungen, Bunker und verliesartige Anlagen passiert, in denen seine Mutter gefangen gewesen und umgekommen sein könnte. An einer früheren Stelle des Films beging Bruzzone eine virtuelle Nachbildung des Lagers mit einer VR-Brille: die künstlichen Simulationen kamen in keiner Weise an die Beklemmung heran, die nun für den Teilnehmer des militärischen Hindernisrennens entstehen.
Perel und Bruzzone führen das Dokumentarische über den Durchgang durch das Autofiktionale an eine performative Vergegenwärtigung des Wirklichen heran, die nicht ohne die bewusst gemachte Präsenz der Filmkamera möglich ist. Darum ist auch die ansonsten folgenlos bleibende Begegnung des Filmteams mit patrouillierenden Soldaten in der Sperrzone von struktureller Bedeutung: hier ist eine Erneuerung des Cinéma-Vérité-Gedankens von Jean Rouch und Edgar Morin zu bemerken, der Spurenelemente des Autofiktionalen in diesem Konzept aufzuzeigen vermag.
Führen der Chilene und der Argentinier das Dokumentarische an die Grenzen des Erzählens, um es wirkungsvoller zurückzubinden an Reales, an Historisch-Politisches, so finden sich in einem anderen Filmduett des Forums Formen der Aufhebung des Dokumentarischen in einem essayistischen Duktus, der nichts Geringeres anstrebt, als neue Arten des Naturverhältnisses zu artikulieren. Afterwater von Dane Komljen und Super Natural von Jorge Jácome stehen in einem Resonanzverhältnis, das sich auch in einem gegenseitigen Respons der Regisseure auf ihre Filme auf der Arsenal-Seite des Forum-Programms niederschlägt (Komljen über Super Natural; Jorge Jácome über Afterwater).
Beide Filme sind nicht-narrative, non-fiktionale und auch nicht-dokumentarische Arbeiten, die vor allem mit essayistischen Strukturen und gefilmten Performance-Elementen aufwarten, die lose Impressionen und Momentaufnahmen sammeln und bündeln in meditativen Tableaus.
Man kann sie in einem gewissen Sinn als Diskurs-Installationen bezeichnen, die aktuell diskutierte Ansätze inklusiven und anti-speziestischen Denkens aufgreifen und die im Anthropozän manifest gewordene Dominanz des Menschen in Natur und Kosmos zu überwinden streben. Beide Filme haben Züge einer Landschafts- und Natur-Meditation, die traditionelle Arten der Naturvereinnahmung (wie romantische Korrespondenzlandschaft oder technische Naturbeherrschung) hinter sich lassen.
Jácome macht das auf spielerische Weise, die auch das alberne Scherzo nicht verschmäht, Komljens Tableaus von Körpern in Gewässerlandschaften strahlen eine sublime Eleganz aus, die performative Formen der Naturanschmiegung vorführt. Immer steht in diesen Filmen jedoch das Sinnliche vor dem Begrifflichen, die Anschaulichkeit des Gezeigten lässt keine konzeptuelle Festlegung zu, sondern lädt zu poetischer Offenheit ein.
Wir haben hier Beispiele einer womöglich neuen Filmsprache jenseits narrativer und demonstrativer Schemata, die das Verhältnis zwischen dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen grundlegend neu verhandeln.