Dreimal ist Berliner Recht |
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Chatrian hat es geschafft, renommierte Filmemacher nach Berlin zu lotsen, so wie Paolo Taviani mit seinem FIPRESCI-Preisträger Leonora addio | ||
(Foto: Berlinale Presseservice / Umberto Monteroli) |
Von Sedat Aslan
Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian haben die Berlinale 2019 nach einem von der deutschen Filmbranche argusäugig beobachteten und mit einem offenen Brief flankierten Auswahlverfahren für zunächst fünf Jahre von Dieter Kossslick übernommen. Seitdem zeichnet sie sich für die Geschäftsführung, er für die künstlerische Leitung des größten deutschen Filmfestivals aus, Alfred Bauer, Wolf Donner, Moritz de Hadeln und Kosslick hatten zuvor beide Funktionen in einer Hand vereint.
Nach drei Jahren ist es an der Zeit, eine vorsichtige Bilanz zu ziehen – vorsichtig alleine deswegen, weil alle drei Jahrgänge unter dem Zeichen der Pandemie standen. Wir erinnern uns: Schon 2020 machten die Branchen-Dailies mit Horrormeldungen aus Italien auf, die Chinesen blieben dem EFM fern und plötzlich stand an jedem Einlass Desinfektionsmittel.
Es soll hier nicht ums Detail und einfache Ziele gehen (vielen Dank an dieser Stelle jedoch, dass es das unsägliche „in
competition, but out of competition“ nicht mehr gibt) sondern um den generellen Eindruck, der nach einem solchen Festival bleibt. Wie hat sich die Berlinale neu aufgestellt, und hat sie sich dabei auch neu erfunden?
Vier Thesen zum „Hattrick“ Rissenbeeks/Chatrians:
Anfangs gab es durchaus Skepsis, ob die etablierte Aufteilung der Leitungsaufgaben reibungslos funktionieren würde, denn weder hatte das Team der Berlinale diesbezüglich Erfahrung, noch bewarben sich Rissenbeek und Chatrian ausdrücklich als Team. Wie würde sich eine solche Aufgabenteilung im stressigen Festival-Alltag konkret gestalten, und könnte man wirklich sicher sein, dass sich nicht gegenseitig ins Handwerk gepfuscht werden würde? Oder wäre im Gegenteil ein zu wenig an
Reibung aus gegenseitigem Respekt zu befürchten? Schon das Naturell der beiden Personen ließ eher letzteres erwarten, denn im Gegensatz zu Kosslick sind beide keine Rampensäue.
Nach den Erfahrungen insbesondere diesen Jahres lässt sich sagen: Mariette Rissenbeek hat in dieser Ausnahmesituation, eine kurzfristige Umstrukturierung des gesamten Festivals inklusive, gezeigt, dass sie mit der Durchführung der Berlinale einen sehr guten Job macht. All die Unkenrufe und
Horrorszenarien haben sich nicht erfüllt, die Berlinale ist nicht zu einem Superspreader-Event geworden, nicht einmal das tagtäglich Tausenden von Menschen ausgesetzte Personal wurde sichtbar dezimiert, wie es befürchtet worden war, noch am letzten Sonntag waren vertraute (natürlich teilvermummte) Gesichter im Feldeinsatz, und das in einer fast schon übertrieben wirkenden Personenstärke, die man sich nur annähernd in anderen, ausgedünnt-rationalisierten Servicebereichen
wünschen würde. Von der Berlinale wurde dennoch fleißig berichtet, so dass das Ziel, den eingeladenen Filmen Aufmerksamkeit zu verleihen, erfüllt wurde.
Wo man nach drei Jahren Ausbildung die Gesellenprüfung ablegt, kann man Rissenbeek nach etwas mehr als der Hälfte ihrer Vertragsdauer also durchaus die bestandene Meisterprüfung zugestehen – es fällt schwer, an ein Szenario zu denken, das mehr Herausforderungen zu bieten hätte, die Konfrontation mit der kurz vor der Berlinale durch die Decke gehenden Inzidenz in Berlin sowie der lange Zeit unbestimmte Parcours mit neu gewählten politischen Entscheidungsträgern inbegriffen, die ganzen Unwägbarkeiten wie plötzliche Erkrankungen von Gästen wie Ehrenbär-Preisträgerin Isabelle Huppert oder drohende Quarantäne-Zeiten von Filmemachern mal ganz außen vor.
Ein Verdienst dessen ist, dass sich in der zweiten Festivalhälfte mehr Berliner in die Vorstellungen getraut haben, weil die Corona-Lage sich entspannter zeigte und in diesem Zusammenhang von der Berlinale keine Hiobsbotschaften zu vermelden waren. Man kann daher mit Fug und Recht behaupten: Wegen der Berlinale werden sich viele Berliner zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ins Kino getraut haben, was ein Verdienst für die gesamte deutsche Filmindustrie ist. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Zuschauer professionell waren und die Maßnahmen mitgetragen haben. Die Idee einer Sommer-Berlinale wie 2021 ist charmant, wird sich wegen des engen Festival- und vor allem Filmmarkt-Kalenders aber nicht wiederholen.
Allerdings hätte ich mir bei aller Liebe zum Kinosaal doch gewünscht, dass, wie auch im letzten Jahr, die Onlinerechte verhandelt worden wären, gibt es doch viele Kollegen, die aus berechtigten Gründen nicht nach Berlin fahren konnten oder wollten, wenn aber die Industrie problemlos Wettbewerbsfilme online sehen kann, frage ich mich, wieso das nicht auch der Presse zugänglich sein sollte. Es bleibt ferner offen, wie sich die Berlinale in Zukunft digital zu präsentieren gedenkt. Hybride Formen müssen nicht der Untergang des Präsenzteils sein, ganz im Gegenteil, und auch ein „Publikumsfestival“ kann sich nicht endlos in der analogen Welt ausdehnen.
Auch Carlo Chatrian kann man ein positives Zeugnis ausstellen. Sein ausgewiesener Geschmack war schon von Locarno bekannt. In Berlin kann er aber um so deutlicher zeigen, dass er sich nicht auf eine bestimmte Art des Weltkinos festlegen lässt, im Gegenteil sogar eine breitere Leinwand für seine Vision eines populären und dabei filmkünstlerisch diversen Festivals zur Verfügung hat. Film soll bei ihm eben nicht nur unterhalten oder anregen, sondern bilden.
An den Berlinale-Galas
ließ sich zu Kosslicks Zeiten ja immer auch eine bestimmte Boulevard-Affinität ablesen, die „Bunte“- und „Gala“-Fotostrecke gern mitgedacht. Diese anachronistische Fixiertheit auf Glamour und den Roten Teppich geht Chatrian aber völlig ab, wenn er einen Altherren-Schocker wie Dario Argento neben Maggie Peren oder den genialen Quatschkopf Quentin Dupieux neben Dokumentarfilmer Simon Brückner in die Reihe stellt. Über den Wettbewerb und die
„Encounters“ wird noch zu sprechen sein.
Die diesjährige Filmanzahl musste aufgrund der bekannten Umstände noch einmal um ein Viertel reduziert werden. Neben der Halbierung der Platzkapazitäten führte dies zu einem immer noch beachtlichen Ticketverkauf von 156.000 Einheiten – die freilich nicht annähernd der halben Million Zuschauer entsprechen, die vor der Pandemie erreicht wurden. Dennoch hatte das Programm nicht den Anschein, nur „Berlinale light“ zu sein. Ja, viele Filme wirkten tatsächlich zu leicht für Preiswürden, nicht ihres Genres, sondern der Tiefen wegen, die sie ausloten wollten oder eben nicht, wegen der erzählerischen, thematischen oder ästhetischen Wucht, die sie entfalteten. Kein Film aus dem Wettbewerb 2022 drängte sich so sehr für den Hauptpreis auf wie im letzten Jahr noch Bad Luck Banging or Loony Porn oder Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?, neben einer Handvoll weiterer preiswürdiger Filme 2021 von Hamaguchi, Sciamma, Speth, Schrader und Graf, und der Goldene Bär 2022 ist mindestens eine milde Enttäuschung.
Dennoch hat es Chatrian geschafft, nach einem für die globale Filmproduktion schwierigen Jahr, einige hochkarätige Namen in Berlin zu versammeln, und das, nachdem Cannes im Vorjahr nicht nur später stattfand als sonst, sondern mit unerhörten 24 Wettbewerbsfilmen den sowieso ausgedünnten Markt über Gebühr abgegrast hatte. Hier haben ihm seine Verbindungen, sein guter Ruf und sein Überzeugungsgeschick dazu verholfen, nicht nur internationale renommierte Filmemacher wie
Claire Denis, Denis Côté, Ursula Meier, François Ozon oder Paolo Taviani in den Wettbewerb zu lotsen, sondern auch noch ein starkes „Encounters“-Ensemble aufzustellen.
Diese Auswahl zeigt übrigens nicht nur, dass in der frankophonen Welt die Filmproduktion scheinbar schneller wieder hochgefahren wurde; viele der Titel können und wollen auch nicht verschleiern, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. Das hat nichts damit zu tun, dass wie bei Hong Sang-soo Masken
im Film auftauchen. Die Filmemacher*innen arbeiten vielmehr mit reduziertem Figurenpersonal, zeigen stark konzentrierte Räume, arbeiten über Gebühr mit Close-Ups und der Tonebene, auch die Geschichten sind entsprechend verdichtet. Am deutlichsten wird das bei Petite Maman von Céline Sciamma aus dem Vorjahres-Wettbewerb, aber auch anhand von Un été comme ça von Denis Côté oder Avec amour et acharnement von Claire Denis lässt sich das gut zeigen. Regisseur*innen werden noch in 20 Jahren aufs Oeuvre zurückblicken und aufgrund der besonderen Ästhetik ohne jede Denkpause bestimmen können: Das war mein „Corona-Film“.
Die Profile beider Hauptsektionen, von denen die Außenwirkung der Berlinale abhängt, waren solide, und auch die Nebensektionen weniger beliebig. Der Zwang zu einer reduzierten Auswahl hatte kein schwächeres Programm zur Folge, im Gegenteil war es schwer, auf einen richtig schlechten Film zu stoßen. Die dennoch locker sechsstellige Besucherzahl zeigt: Man kann auch ein Publikumsfestival abhalten, ohne dass nach dem Bauchladenprinzip vorgegangen werden muss, und vielleicht ist das ein Weg, die seit der Jahrtausendwende schleichend verlorengegangene Bedeutung als A-Festival zurückzugewinnen.
Nach der ersten Pressemeldung zur neuen Sektion ließen sie nicht lange auf sich warten, die kritischen Stimmen – Ist die Berlinale nicht sowieso schon aufgebläht genug? Kreiert man damit nicht eine interne Konkurrenz? Es kristallisierte sich aber immer klarer heraus, dass es gute Gründe gab, eine Nebensektion ähnlich „Un Certain Regard“ zu schaffen, in der man gute, interessante und sehenswerte Filme, die aus diversen Gründen (Nachwuchs-Regie, kleinerer und/oder stärker experimenteller Ansatz etc.) nicht in den Wettbewerb passen, nicht wie zuvor in Nebenreihen wie dem Forum versteckt oder gar in die Gefahr gerät, sie absagen zu müssen, weil andere Festivals wie Cannes nun einmal diese stärker sichtbaren Nebenreihen besitzen, sondern ihnen jetzt eine viel beachtete Ausstellungsfläche und gewissermaßen auch ein Steigbrett für den Wettbewerb bieten kann.
Chatrian hat sich damit ein starkes Argument geschaffen, Filmemacher*innen, die in einem umkämpften Festivalmarkt immer auch auf andere A-Standorte schielen, zu überzeugen, nach Berlin zu kommen – erst recht, weil er glaubhaft versichern kann: „Encounters“ ist mein Baby, ich stehe dafür und bin vollkommen davon überzeugt, dass es euch Sichtbarkeit bringt, und kann nach nur drei Jahren zum Beleg auch Namen nennen wie Sandra Wollner, Ruth Beckermann und Kurdwin Ayub (man sieht schon, welche Nation sich die Sektion heimlich unter den Nagel gerissen hat) oder auch Bertrand Bonello, Alice Diop und Ramon Zürcher.
Gab es unter Kosslick noch die ein oder andere dubiose politische Bekenntniserklärung wie den Aufruf zum Veganismus im „Kulinarischen Kino“, nachdem an anderen Abenden so ziemlich jedes Tier im Topf landete, oder den als Bild der Anklage angemessen plakativen, leergebliebenen Stuhl von Jafar Panahi, halten sich Rissenbeek und Chatrian diesbezüglich zurück, von gelegentlichen Pressemitteilungen über Sachen, zu denen es bestenfalls keine zwei Meinungen geben kann, mal abgesehen. Man hat sowieso den Eindruck, dass sich die beiden in unserem sozial-medialen Überwachungsstaat nichts zu Schulden kommen lassen, denn wo früher die Luxuslimousine für ein paar Meter vorfuhr, geht Chatrian wie selbstverständlich zu Fuß, und Rissenbeek nimmt gleich die S-Bahn, wenn sie zum „Kino im Kiez“ ans andere Ende der Stadt muss.
Die Mär von der Berlinale als politisches Festival habe ich sowieso nie geglaubt, seit dem Goldenen Bären für Stammheim 1986, der von Polizeischutz begleitet werden musste, ist davon nichts im kollektiven Gedächtnis haften geblieben, selbst wenn sich die Berlinale über die Jahre bemüht hat, dieses Prädikat als Alleinstellungsmerkmal für sich vermarkten zu wollen, was allerdings nie mit
echter Haltung und Überzeugung gefüllt war, sondern rein zur Abgrenzung benutzt wurde, nach dem Motto: Cannes hat die besseren Filme, aber wir sind die besseren Menschen.
Heute ist die Berlinale auf dem Weg zu einem filmkünstlerisch diversen, wagemutigen Festival, ohne zwingend spitzes Profil. Für eine solche Art Diversität unter Teilhabe des Publikums ist einfach mehr Raum als an anderen Standorten, und das passt auch wie selbstverständlich zu den monströsen Dimensionen
Berlins, gerade im Vergleich zu den meisten anderen traditionellen Festival-Standorten. Stärker denn je ist der Anspruch ästhetischer, nicht politischer Natur.
Wann ist ein Festival denn politisch? Nicht, wenn es einige Filme mit politischem Thema ins Programm nimmt oder gar regelmäßig prämiert (letzteres liegt sowieso nicht in der Hand der Macher) – das wäre, als wenn man sagt, Salz in der Suppe sei ein kulinarisches Alleinstellungsmerkmal. Entweder müsste sich ein Festival immer wieder lautstark in den politischen Diskurs einmischen, was weder seine Aufgabe sein kann noch dem Naturell des Leitungsduos entspricht, oder es bräuchte eine eigene politische Reihe, die sich der Förderung und Kuratierung dezidiert politischer Filme, wie etwa dem exzellenten Myanmar Diaries, diesjähriger Gewinner des Dokumentarfilmpreises, widmet, ob mit unbestimmtem oder festgelegtem, jährlich wechselndem Fokus/Thema, ähnlich dem Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Nur so würde man wirklich politisch wirken, jenseits von Phrasen und Wohlfühl-Rhetorik.
Die Berlinale braucht eine solche Reihe nicht, könnte sie sich aber leisten. Auch hier ließe sich das mit der besonderen Geschichte Berlins ganz organisch verbinden. Bis dahin sollte jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die wichtigste politische Mission der Berlinale einzig und allein darin besteht, Jahr für Jahr das Programm mit der größten künstlerischen Integrität nach Berlin zu holen – und eben nicht den politischen Diskurs vom Kinosaal hinaus in die Welt zu tragen.
Abschließend lässt sich sagen, dass sich das Gesamtbild ausgangs der Pandemie optimistischer darstellt als noch zur Online-Edition vor einen Jahr, Filme wie A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe und insbesondere Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush können den Rückenwind des Festivals hoffentlich dazu nutzen, im Kino etwas mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als es den deutschen Wettbewerbsbeiträgen der letzten beiden Jahre vergönnt war.
Ferner bleibt zu hoffen, dass die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth ihren verheißungsvollen Eröffnungsworten die bitter nötigen Taten folgen lässt und mit einer breiten und sachverständigen Front aus Filmemachern und Verleihern (über Interessenvertretungen wie der Produzentenallianz), den Förderanstalten und Sendern den Behemoth des Filmförderungsgesetzes zukunftsweisend reformiert, damit die Filmkunst in diesem Land nicht noch mehr an den Rand gedrängt wird, und ihrer Kabinettskollegin Bettina Stark-Watzinger bestenfalls noch den Wink gibt, bei der nächsten Kultusministerkonferenz Film und generell Medienkompetenz endlich flächendeckend in den schulischen Lehrplänen zu verankern. Erst dann kann es nachhaltig bergauf gehen.