Der See der wilden Gänse

Nan fang che zhan de ju hui

China/F 2019 · 111 min. · FSK: ab 16
Regie: Diao Yinan
Drehbuch:
Kamera: Dong Jingsong
Darsteller: Hu Ge, Liao Fan, Kwei Lun-Mei, Regina Wan, Qi Dao u.a.
Filmszene »Der See der wilden Gänse«
Voll visueller Opulenz und großer Kraft
(Foto: eksystent/S. Lehnert Filmdispo)

Funkelnder Neo-Noir

Inszenierung vor Plot – Diao Yinans Der See der wilden Gänse ist eine Annäherung an ein reines Kino

2014 erhielt Diao Yinans Neo-Noir Feuerwerk am hell­lichten Tage den Goldenen Bären bei der 64. Berlinale. Der Film, der von Yinan sowohl insze­niert als auch geschrieben wurde, setzte weniger auf Hand­lungs­logik, als auf Atmo­s­phäre und auf visuelle Einfälle. Diesen Weg setzt der chine­si­sche Filme­ma­cher mit dem Neo-Noir Der See der wilden Gänse fort, der 2019 im offi­zi­ellen Wett­be­werb der Film­fest­spiele von Cannes lief. Bei diesem Film ist Yinan erneut Autor und Regisseur in Perso­nal­union. Noch mehr als in Feuerwerk am hell­lichten Tage gerät die eigent­liche Handlung in Der See der wilden Gänse zur Neben­sache. Der Film besticht durch seine Insze­nie­rung.

In Der See der wilden Gänse wird der Gangster Zhou Zenong (Ge Hu) in eine Ausein­an­der­set­zung mit einer riva­li­sie­renden Gang verwi­ckelt. Dabei erschießt Zhou unbe­ab­sich­tigt einen Poli­zisten. Auf ihn wird eine Belohnung von 300.000 Yuen ausge­setzt. Doch er wird nicht nur von der Polizei, sondern auch von seinen ehema­ligen Gang­mit­glie­dern gejagt. Auf seiner Flucht begegnet Zhou der hübschen Prosti­tu­ierten Liu Aiai (Lun-Mei Gwei). Gemeinsam versuchen sie, die brisante Situation zu meistern.

Der See der wilden Gänse ist ein Neo-Noir wie aus dem Bilder­buch. Fast durch­gängig spielt die Handlung bei Nacht – bevorzugt auch bei Regen. Somit ist Schwarz in diesem Film wirklich die domi­nie­rende Farbe. Oft nur sche­men­haft sind die verschie­denen Gestalten zu sehen. Sche­men­haft bleiben aller­dings auch die Charak­tere. Das Schicksal von Zhou Zenong berührt den Zuschauer nur rein peripher. Es dauert sowieso einige Zeit, bis dessen Lage überhaupt erklärt ist. Die Handlung setzt ein, wo sich Zhou bereits auf der Flucht befindet. Die Vorge­schichte wird in mehreren Rück­blenden aufge­rollt. Dabei verliert man aufgrund der Vielzahl an auftre­tenden Personen schnell einmal den Überblick.

Die Handlung bildet in Der See der wilden Gänse nur ein lockeres Grund­gerüst für die verschie­denen Insze­nie­rungs­ein­fälle. Zu diesen zählt auch eine von mehreren Action­szenen gleich zu Beginn. Bei dieser wird der Kampf einer größeren Gruppe in einzelne isolierte Elemente aufge­spalten. Ein Ausholen, ein Schlag, ein Treffer. Es sind Einzel­bilder, die sich hier in die Netzhaut einbrennen. Immer wieder begibt sich Diao Yinan in Der See der wilden Gänse auf die Suche nach einpräg­samen Bildern – und findet diese. Dabei kontras­tiert Yinan wieder­holt einzelne leuchtend farbige Elemente mit der allge­gen­wär­tigen Düsternis. In einem dunklen Zimmer leuchtet durch ein Fenster ein rosa Schein herein. Ein heller Hut wird zu einem Blick­fänger vor einem dunklen Hinter­grund. Bei einer Tanz­ver­an­stal­tung leuchten neon­far­bene Schuh­sohlen in der Dunkel­heit. Als es zu einer Schießerei kommt, wirbeln diese leuch­tenden Licht­schleifen aufgeregt durch­ein­ander.

Einzelne Akzente setzt Yinan auch bei der Gewalt. Da wird schon einmal ein Regen­schirm zu einem äußerst blutigen Mord­in­stru­ment zweck­ent­fremdet. An anderer Stelle kommt ein massiver Schlag­ring zum Einsatz. Die Gewalt hat in ihrer Darstel­lung etwas Comic-haftes. Sie ist näher an The Raid 2 (2014) als an Drive (2011). An dieser Stelle zeigt sich, dass Der See der wilden Gänse ein chine­si­scher Film ist. Solch eine slap­stick­ar­tige Gewalt folgt eher einer asia­ti­schen Tradition als den Normen des Hollywood-Kinos. Das gilt auch für den Vorrang, den die Insze­nie­rung hier vor dem Plot hat. Der See der wilden Gänse ist fast wie eine Ansamm­lung von einzelnen Kabi­nett­s­tück­chen, die nur lose durch den Hand­lungs­rahmen zusam­men­ge­halten werden.

Der See der wilden Gänse ist eine Annähe­rung an ein reines Kino. Der Film besteht aus einer Abfolge von Bildern und Klängen, die nur durch die allge­gen­wär­tige Düsternis und durch die gleich­falls düstere Stimmung zusam­men­ge­halten werden. Die Handlung bleibt sperrig und stre­cken­weise ziemlich undurch­sichtig. Zhou umgibt eine allge­gen­wär­tige Atmo­s­phäre der Bedrohung, die wesent­lich greif­barer wirkt als die Verfol­gung durch konkrete Personen. Der Film ist ein Mood-Piece wie John Cass­avetes' Neo-Noir Die Ermordung eines chine­si­schen Buch­ma­chers (1976). Im Gegensatz zu Cass­avetes wartet Yinan jedoch mit visueller Opulenz auf. Der See der wilden Gänse hat eine große Kraft.

Wuhan – eine Stadt sucht einen Mörder

»Meeting at South Train Station«: Diao Yinans Der See der wilden Gänse ist begeisterndes Kino von großer visueller, neon-blutiger Wucht

»Ra Ra Rasputin« – das Lied von Boney M. ist auch heute noch ein Hit in der chine­si­schen Provinz, dort wo irgendwo jener See der wilden Gänse liegt, der dem Film den Titel gibt. Überhaupt ist deutscher Pop dort offenbar beliebt. Etwas später hören wir noch »Dschingis Khan«. Disco­sound, bemer­kens­wert uncool für so einen coolen Film.
Der Boney M.-Song erzählt von einer teuf­li­schen amora­li­schen Figur, und erst recht, wenn die Zeile »Never mind the Zar« ertönt, drängen sich Paral­lelen zum heutigen China auf.

Die Szene, in der dies in der Mitte des Films gezeigt wird, verbindet beiläu­fige Schil­de­rungen des Alltags mit der Grund­hand­lung, einem span­nenden Katz- und Maus-Spiel, in dem mehrere Parteien um die Beute ringen – das Kopfgeld, das auf einen gesuchten Poli­zis­ten­mörder ausge­setzt ist, einen Mörder freilich, der zum Verbre­cher aus verlo­rener Moral wurde, aus Versehen, und der eigent­lich einer der wenigen »Guten« in diesem Spiel ist.

Voraus geht dem Ganzen ein Gangster-Krieg unter zwei Biker-Gangs. Es ist die klas­si­sche, uralte Geschichte von Rivalität und Verrat, von der Hoffnung auf Befreiung und von ihrer Zerschla­gung im Alltag, in der Mühle des Lebens und der Arbeit. Und auch das Gangster-Leben ist hier vor allem harte Arbeit – das macht der Film früh klar.

Die Haupt­figur, die wir schnell kennen lernen, ist sozusagen ein Manager in diesem Gangster-Betrieb, ein Leader, einer, der die Orga­ni­sa­tion führen muss und kann, dem aber – weil er seine Mitar­beiter, sein Team einmal nicht unter Kontrolle hat – ein Fehler unter­läuft.

Von nun an ist er vogelfrei – eigent­lich ein wandelnder Toter, ein Zombie, den es früher oder später, wahr­schein­lich früher, erwischen wird, und der nur noch diesen seinen Tod aufschiebt, um bestimmte Dinge zu Ende zu bringen.
Die Chronik eines ange­kün­digten Todes

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Man kennt solche exis­ten­ti­ellen, univer­salen Stoffe schon aus alten Filmen, aus dem Berlin oder dem Paris oder dem Shanghai der 20er, 30er Jahre, vor allem aber aus dem New York und Chicago der 40er und 50er – aus den berühmten Film Noirs, jener ameri­ka­ni­schen »Schwarzen Serie«, die zum Besten gehört, was das Kino in seiner kurzen Geschichte hervor­ge­bracht hat.

Der chine­si­sche Regisseur Diao Yinan, einer der inter­es­san­testen seiner Genera­tion, hat alle wesent­li­chen Zutaten des Film Noir jetzt in seinem neuen, seinem vierten Film als Regisseur zusam­men­ge­fügt.
Yinan ist ein enger Mitar­beiter von Jia Zhang-ke, für dessen Asche ist reines Weiß er das Drehbuch geschrieben hat. Jias Hand­schrift hat auf ihn abgefärbt. Man erkennt diese Nähe nicht nur an Momenten wie der anfangs beschrie­benen Tanzszene.

Man erkennt es zum Beispiel auch an der Haupt­figur

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Ein Noir-Thriller aus dem China von heute – das heißt einer­seits ein »hard­boiled« Stoff, also harte Männer und ebenfalls harte Frauen, femmes fatales – in diesem Fall gleich zwei.
Noir heißt auch: Korrup­tion. Und zwar univer­sale Korrup­tion. Moral hat schlechte Karten in dieser Welt. Oder anders gesagt: Moral, die von abstrakten Prin­zi­pien ausgeht, funk­tio­niert hier überhaupt nicht. Statt­dessen gefordert ist Prag­ma­tismus, ist Anpas­sungs­fähig­keit. Es geht also um eine elas­ti­sche Moral, eine Moral des Exis­ten­zi­ellen, der Todesnähe und Todes­be­reit­schaft.

Die Nüch­tern­heit, mit der alle Menschen hier die Dinge angehen, kennt kaum noch absolute Prin­zi­pien. Ein grund­sätz­li­cher Fata­lismus durch­zieht den Film: Die Verhält­nisse sind, wie sie sind, die Menschen und ihre Leben sind durch­lässig für diese Verhält­nisse, denn gegen sie aufbäumen können sie sich nicht.
Diese Menschen erwarten nichts vom Leben, nicht über den Tag hinaus; das Prinzip Hoffnung haben sie immer schon preis­ge­geben. Statt­dessen gilt das Prinzip Überleben.

Der See der wilden Gänse ist ein Film des Über­le­bens und der Todesnähe. Es ist auch ein Film der Schönheit. Einer Schönheit, die darin liegt, aus dieser häss­li­chen Welt das Beste zu machen. Auch wenn das nicht immer gut genug ist, haben alle Menschen hier große Würde.

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Es regnet die ganze Zeit. Außer in wenigen Momenten des Friedens am titel­ge­benden See, unter anderem dem Augen­blick, in dem die beiden Haupt­fi­guren Sex haben – von einer Liebes­szene möchte man nicht sprechen, auch wenn sie jenseits des »Deals«, um den es hier geht, von einer Einigkeit durch­drungen ist, einem kurzen Augen­blick des Friedens und Verständ­nisses.

Der Regen ist das Leitmotiv, viel­leicht das Einzige in diesem Film. Er verbindet die Szenen, er schafft glänzende, glit­zernde, gleißende Licht­ef­fekte, aber er wäscht keine Sünden weg, wie es das Klischee will, sondern vermischt im Gegenteil alles mitein­ander, löst Grenzen auf, durch­dringt die Verhält­nisse und verschlammt und verdreckt damit alles.

Der Ort, an dem das alles spielt, wird zwar nicht sehr über­sicht­lich geschil­dert, denn der Regisseur wünscht die Desori­en­tie­rung seiner Zuschauer, aber er wird dennoch glasklar charak­te­ri­siert: Es ist, so spielt der Zufall, Wuhan, der Geburtsort des »chinese virus«. Unsere Nach­rich­ten­bilder sind hier nicht wieder­zu­er­kennen. Keine Megacity – das China der Booms und Blasen ist fern –, sondern ein Ort wo dieses neue China und das alte, ewige clashen. Alte Häuser stehen hier noch immer, fünf­stö­ckige Miets­ka­sernen mit einem Gemein­schaftshof und einem offenen Gang nach innen, der sehr viel Licht reinlässt und den man »ameri­ka­nisch« nennen würde, läge er nicht auf der anderen Seite der Welt.

Dieses Wuhan bei Diao Yinan ist gar nicht verworren oder unüber­sicht­lich, aber es ist zu groß für einzelne Menschen.

»Meeting at South Train Station« – auch der Filmtitel ist eigent­lich ein anderer. Und der nun ist wirklich wie in einem Noir.
Dieses Meeting an einer großen Bahn­sta­tion ist es, womit der Film beginnt: Eine Frau und ein Mann. Sie sollen sich treffen, aber sie kennen sich nicht. Sie trägt einen roten Pullover, sie trägt einen Kurz­haar­schnitt wie Jean Seberg in À bout de souffle, wie diese hat sie eine Zigarette in der Hand, sie tut etwas, was man sonst nicht tut: sie spricht ihn an, und fragt nach Feuer. Es dauert eine Weile, da wird sie sein Feuerzeug besitzen.
Er heißt Zenong Zhou und ist der flüchtige Gangster, sie Aiai Liu und ist eigent­lich Prosti­tu­ierte.

Ähnlich wie die Filme von Fritz Lang ist dies mate­ria­lis­ti­sches Kino. Die Poesie liegt in Objekten und Bildern, sie liegt nie in der Psyche, den Beweg­gründen und Idealen, oder auch nur den Körpern der Menschen.
Wie in M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Fritz Langs Meis­ter­werk, bei dem auch eine ganze Stadt von der Mörder­jagd infiziert ist, und der Mörder selbst wie ein gehetztes Tier, zunehmend in die Enge getrieben, unser Mitgefühl bekommt, sieht man hier zwei Systeme bei der Arbeit, im Wett­be­werb der Effizienz, aber moralisch gleich­ge­stellt: Gangster und Polizei. Sie jagen und wollen Zenong Zhou fassen, die einen tot, die anderen lebendig. Aber auch die Polizei will ihn vor allem fassen und ist in ihrem durch Bruta­lität kaschierten Dilet­tan­tismus nicht besser als die anderen – nur wissen wir, weil es ja ein chine­si­scher Film ist, dass sie schließ­lich siegen werden.

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Der See der wilden Gänse zeigt also in schwer auszu­schöp­fenden Bildern vieles, auch Uner­war­tetes aus dem China von heute. Ein Film der Mensch­lich­keit und Klugheit, spannend erzählt, der in coolen Neon­farben bis zum Schluss über­ra­schende Wendungen parat hat.

Aber nicht nur deshalb, sondern als Film­kunst­werk von großer visueller Wucht und hinreißendem Stil ist dies begeis­terndes Kino. Meis­ter­lich, episch, tief und groß.