Seefeuer

Fuocoammare

Italien/F 2016 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: Gianfranco Rosi
Drehbuch:
Kamera: Gianfranco Rosi
Schnitt: Jacopo Quadri
Samuele auf hoher See

Feuer auf dem Meer

Ein Rettung auf hoher See. Rührend spricht die Beamtin der italie­ni­schen Seenot­ret­tung auf jene Stimme auf der anderen Seite des Funk­ver­kehrs ein, die offen­sicht­lich in höchster Panik um ihr Leben und das ihrer Leidens­ge­nossen fleht. Dann hört man die Musik des örtlichen Radio­sen­ders der Insel Lampedusa, und die Ansagen des auf der ganzen Insel bekannten DJ...

Härter könnte der Kontrast nicht sein. Und doch ist es genau dieser Kontrast, um den es hier geht. Und nicht nur hier. Dieser Film, ein essay­is­ti­scher, also in seiner Haltung auch sehr persön­li­cher, subjek­tiver Doku­men­tar­film über diese Insel im Mittel­meer ganz im Süden von Italien, die seit einem schlimmen Unglück mit vielen toten Flücht­lingen vor drei Jahren zum Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt für das Flücht­lings­drama geworden ist.
All das spielt eine Rolle in Fuoco­ammare, es wird keines­wegs zur Kulisse degra­diert, aber es ist doch auch nicht das Zentrum. Dieses Zentrum bilden schon eher die Italiener, genauer gesagt die Bewohner von Lampedusa.

Seefeuer – so heißt der deutsche Titel von Fuoco­ammare – also wörtlich: »Feuer auf dem Meer«. Was damit gemeint ist, das erschließt sich erst mit der Zeit im Film des Italie­ners Gian­franco Rosi. Rosi ist bekannt für sehr spezielle Doku­men­tar­filme – sie sind persön­lich, essay­is­tisch, und sie blicken auf Bereiche unseres Lebens, die unter dem Radar der jour­na­lis­ti­schen Bericht­erstat­tung oft verloren gehen. Rosis neuester Film handelt vom Leben auf der südita­li­en­schen Insel Lampedusa, wo monatlich hunderte von Flücht­lingen stranden – aber nicht aus Sicht der Flüch­tenden, sondern eben aus italie­ni­scher Sicht.

Bewun­derns­wert ist, wie der Regisseur beide Welten parallel im Gleich­ge­wicht hält, ohne sie zu verbinden. Gerade das ist eine Stärke von Fuoco­ammare, dass das Leben der Italiener auf der Insel und der Über­le­bens­kampf der Flücht­linge auf ihren über­la­denen Booten vor der Insel nichts mitein­ander zu tun haben. Denn im realen Leben, in unserem Alltag, hat dieser Alltag ja auch in den meisten Fällen nichts mit dem der Flücht­linge zu tun.

Auch ansonsten weicht Gian­franco Rosi dem Offen­sicht­li­chen geschickt aus – er fragt also nicht zum Beispiel die Italiener vor Ort danach, was sie eigent­lich über die Flücht­linge denken. Dieser Art von Teilhabe, in jeder zu allem, wovon er nichts versteht, seine Meinung sagen darf, in der jede Meinung gleich viel wert ist, weil ja jeder Mensch gleich viel wert ist, solche Pseu­do­de­mo­kratie, in der fast immer die Stunde des Ressen­ti­ments und der Vorur­teile schlägt, vermeidet Rosi.

Mit seiner Kamera geht er dahin, wo keiner Bescheid weiß, wo sich keiner wohl fühlt, dahin, wo es wehtut. Rosi zeigt das wirklich Unan­ge­nehme, wie Leichen und Sterbende – das macht Fuoco­ammare zu einem Para­de­bei­spiel poli­ti­scher Moral und hebt den Film über übliche Repor­tagen im Fern­seh­in­fo­stil und das übliche inhal­tis­ti­sche Rele­vanz­kino, das Filme auf deren Nach­rich­ten­wert und Themen abklopft, weit hinaus.

Rosi stellt Menschen vor, zum Beispiel den zwölf­jäh­rigen Fischer­sohn Samuele, den er durch seinen Alltag, beim Spielen und beim Arzt­be­such begleitet.
Samuele will ein starker Junge sein, aber er ist es nicht, aber er ist lernfähig. Damit wird er zum Stell­ver­treter, zur Metapher für ein Europa, das gerade mehr mit sich selbst kämpft als mit äußeren Feinden.

Auf Inter­views verzichtet Rosi voll­s­tändig, und seine Perspek­tive ist nicht voll­kommen eindeutig. Wir lernen auch den politisch wie humanitär sehr enga­gierten Arzt der kleinen Insel kennen und hören seine scho­ckie­renden Schil­de­rungen vom mise­ra­blen gesund­heit­li­chen Zustand vieler Flüch­tender bei ihrer Ankunft.

Dies ist ein künst­le­ri­scher, radikaler Film. Eine kluge, einfühl­same, stel­len­weise witzige, dann wieder auch bittere Betrach­tung Europas und der Ohnmacht und Unfähig­keit der Reichen, mit der Heraus­for­de­rung durch die Flücht­linge aus dem Süden ange­messen umzugehen.

Von manchen, vor allem Älteren wurde Rosi bei der Berlinale trotzdem Voyeu­rismus vorge­halten – im Bild­me­dium Kino ist das sowieso ein merk­wür­diger Vorwurf. Rosi zeigt Leichen und Sterbende, und natürlich können diese nicht mehr gefragt werden, ob sie gefilmt werden wollen. Aber Kino hat prin­zi­piell etwas mit Zeigen zu tun, nicht mit Wegschauen.

Nur sehen die Flücht­linge bei Rosi nicht so aus, wie es sich manche viel­leicht wünschen: Er zeigt Flücht­linge nicht dankbar, nicht gerettet, und Tote als Tote – und nicht von einem Kommentar zugedeckt und nicht gleich einge­ordnet.

Nur manchmal läuft Rosi Gefahr, in der Poesie seiner Bilder und seinem melan­cho­li­schen Blick die poli­ti­schen Realitäten und die Ursachen der Flucht­lings­massen, also unsere eigene Verant­wor­tung, aus dem Blick zu verlieren. Da kann man diesen Film dann gegen jenen anderen ausspielen, der etwas sehr Ähnliches und doch auch sehr anderes erzählt: Lampedusa in Winter (2015) von Jakob Brossmann zeigt auch Rettung auf hoher See, auch den Insel-DJ, auch Kinder, auch nette Italiener, auch gelang­weilte Italiener. Bross­manns Film ist aber konkreter, poli­ti­scher: Er zeigt Einhei­mi­sche, die Flücht­lingen helfen, die enga­gierte Bürger­meis­terin der Insel, die den Einhei­mi­schen auch mal die Meinung geigt, ihnen aber trotzdem hilft. Die Paral­lelen und Über­schnei­dungen, auch die Ähnlich­keiten beider Filme sind so frap­pie­rend, dass uns der Vergleich eine ganze Menge erzählt, vor allem über den Zustand des Doku­men­tar­films heute, über seine Chancen und Grenzen.

Denn man stellt sich die Filme­ma­cher, ihre Produ­zenten und nicht zuletzt die Redak­teure beim Themen­finden vor: Dass sie völlig unab­hängig vonein­ander auf das Gleiche kommen, dieselben Ideen haben, zeigt, wie eng da die Denke ist: Essay­is­tisch darf es nur auf der Bildebene sein. Kommentar ist schlecht, weil »didak­tisch« und »bevor­mun­dend« und – besonders schlimm – »intel­lek­tuell«. DJ ist gut, weil man dann »echte«, »eigent­liche«, »ursprüng­liche« Musik im Film hat, bres­son­haft behaupten kann, zu »finden« und sich nichts »bloß auszu­denken«. Kinder sind auch ganz wichtig, weil Unschuld verkör­pernd. Und dann muss unbedingt eine mora­li­sche Instanz her. Auch da greifen beide Filme ins Arsenal des ganz Archai­schen: Was dem einen der Arzt ist dem anderen der Priester.

Trotz solcher Klischees vergessen wir nicht: Beide Filme sind gut, beide Filme lohnen das Ansehen. Nur: Man sollte den einen nicht vergessen, den einen nicht gegen den anderen ausspielen. Man stellt sie am besten neben­ein­ander.

Ein lohnens­werter, span­nender, und – ja – schöner Doku­men­tar­film ist Fuoco­ammare in jedem Fall.