Deutschland 2022 · 116 min. · FSK: ab 16 Regie: Christopher Roth Drehbuch: Jeanne Tremsal, Christopher Roth Kamera: Lydia Richter Darsteller: Jana McKinnon, Clemens Schick, Leo Altaras, Julia Hummer, Ina Paule Klink u.a. |
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Dem Traum folgen... | ||
(Foto: Port-au-Prince/24 Bilder) |
Wenn die deutsche Sektion des diesjährigen Filmfests München auf einen gemeinsamen Nenner heruntergebrochen werden müsste, dann wäre das der Topos der »Heimat«. Fast ausnahmslos erinnerten die dort gezeigten Filme an die Zeit des Biedermeier, des heimeligen Atemholens nach den großen Kriegen und gesellschaftlichen Verwerfungen, und einer Zeit, die zumindest in Deutschland der Revolution vorausging. Ein Abwägen über das, was Heimat war und das, was kommen könnte, ein Nachdenken über das Verlorene und sich noch nicht so recht materialisierende Neue. Ein unstetes Treiben im Limbo.
Auch Christopher Roths Servus Papa, See You in Hell, einer der stärksten Filme dieses Jahrgangs, erzählt ausdrücklich von einem Heimatverlust und einer tiefen Sehnsucht nach einer neuen Heimat. Seine Geschichte basiert auf den Erinnerungen von Jeanne Tremsal, Roths Lebenspartnerin und Co-Autorin des Drehbuchs von Servus Papa, die auch in der Rolle ihrer eigenen Mutter zu sehen ist, die ihre Tochter Jeanne (also sich selbst, hier gespielt von Jana McKinnon) seit frühen Kindheitstagen in der Kommune des Aktionskünstlers Otto Muehl im österreichischen Burgenland hat leben lassen, selbst aber mit Jeannes Vater getrennt in einer von Muehls ausgegliederten Stadt-Kommunen lebt und nur selten zu Besuch kommt. Denn Kinder wachsen hier ohne Eltern auf, da die klassische Kleinfamilie als Kern gesellschaftlichen Verderbens verstanden wird, weshalb auch Zweierbeziehungen verboten sind, nur Frauen ein eigenes Zimmer haben und Männer sich jede Nacht eine neue Bleibe bzw. Partnerin suchen müssen.
Roth und Tremsal erzählen – schauspielerisch stark und souverän inszeniert – von der tragischen Endphase von Muehls Kommune, die zufällig in die Endphase eines anderen Gesellschaftstraums fällt, die des real existierenden Sozialismus. Denn während die 14-jährige Jeanne sich ihrer Coming-of-Age-Phase hingibt und von ihrem Umfeld entfremdet, indem sie sich in den ebenfalls renitenten, etwas älteren Mitkommunarden Jean (Leo Altaras) verliebt und damit das Gebot »Sex ist erlaubt, aber Liebe verboten« bricht, öffnen sich die ungarischen Grenzen, erzählen Tremsal und Roth also gleich auf zwei Ebenen von Heimatverlusten.
Dass diesen Verlusten immer auch der Verlust eines Traumes vorausgeht, der Verlust einer Utopie, das machen Roth und Tremsal vor allem auf der gesellschaftlichen Mikro-Ebene ihrer Erzählung deutlich. Sie fokussieren in starken, energetisch ausgespielten Szenen, zum einen auf die gruppendynamischen Rituale der Kommune und die ursprünglichen 1968er-Ideale und demonstrieren gleichzeitig das, was davon übrig geblieben ist, dass transparente Hierarchien dann doch nicht vor hierarchischem Denken und Handeln schützen, dass Macht dann doch immer korrumpiert und Freiheit zu Gefangenschaft wird.
Tremsal und Roth sprechen nie von Muehl, sondern immer nur von Otto – dessen irres Charisma Clemens Schick furchterregend verkörpert – und schaffen damit eine allgemeingültige, ahistorische Schnittstelle, die gerade in Verbindung mit den assoziativen Verweisen auf die sich öffnenden Grenzen und ein neues Europa auf so subtile wie überzeugende Weise offen legt, dass eine Kommune nicht anders funktioniert als heutige Querdenker-Blasen oder die im gegenwärtigen Nachrichtenfluss regelmäßig aufpoppenden 12-Stämme-Abgründe. Damit machen Roth und Tremsal aber auch klar, dass das Ende des geteilten, alten Europas niemals ein Heilsversprechen war, sondern der Beginn eines gnadenlosen Selbstfindungs- und Emanzipationsprozesses, der so destruktiv wie heilsam auf kommunaler Ebene genauso stattfindet und funktioniert wie auf der europaweiten Ebene.
Doch Servus Papa, See You in Hell ist natürlich nicht nur ein wuchtiger, wilder und wichtiger gesellschaftspolitischer Film und ein weiterer faszinierender Baustein in der ungewöhnlichen Filmografie von Roth, der ja auch als Künstler und über die sozio-politische Bedeutung von Architektur arbeitet. Nein, Roth und Tremsal gelingt neben der Darstellung einer ernüchternden Vergangenheit als brutalem, aber auch lehrreichem Zerrspiegel unserer Gegenwart auch ein wunderbarer, zärtlicher Film über das Altwerden nicht nur junger Menschen, sondern auch über das Jungwerden alter Menschen, die ihren Frieden finden, indem sie erkennen, dass man manchmal die Heimat aufgeben muss, um sie zu erhalten.
Politischer und und zugleich poetischer kann man vom Leben kaum erzählen.