USA 2009 · 138 min. · FSK: ab 16 Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Laeta Kalogridis Kamera: Robert Richardson Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Emily Mortimer, Michelle Williams u.a. |
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Auf den Spuren Hitchcocks |
Wahnsinn und Gesellschaft: Ein schlafloser junger Mann begegnet seinen inneren Dämonen. Eine Irrenanstalt hat zunehmend Ähnlichkeit mit einem Lager, Seelenexperimente treffen auf die Paranoia der 50er. Und Martin Scorsese dreht in diesem Film dem braven Departed-Terrain wieder den Rücken und besinnt sich auf seine ureigenen Interessen: Geschichten über Abgründe: Was »wahr« ist, was halluziniert, das wird zunehmend unklar in diesem Vexierspiel.
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»Any call can be murder, any stop can be suicide, any night can be the last. And you thought your job was hell?« – Tagline zu »Bringing Out the Dead« von Martin Scorsese
Schon äußerlich erinnert er in Hut und Anzug an James Stewarts Figur in Hitchcocks Vertigo. Auch dieser Mann namens Teddy, den Leonardo di Caprio in Shutter Island eindringlich spielt, ist ein Polizeidetektiv, auch er hat traumatische Erlebnisse hinter sich – als GI befreite er am Ende des Zweiten Weltkriegs Dachau, seine Frau kam bei einem Feuer ums Leben –, und auch ihn holt im Laufe der Ermittlung die eigene Vergangenheit ein, und stürzt ihn in einen Taumel der Verunsicherung.
Martin Scorseses neues Werk, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Denis Lehane, beginnt mit der Ankunft zweier US-Marshalls (DiCaprio und Mark Ruffalo) im Jahr 1954 auf jener titelgebenden abgelegenen Insel vor Boston. Sie beherbergt Ashecliffe Hospital, eine Klinik für Schwerstverrückte, und in drei Blöcken aufgeteilt ein Kabinett des Wahnsinns: Psychisch Kranke, die eine Gefahr für ihre Mitmenschen sind; viele von ihnen haben Angehörige auf dem Gewissen. Dieser Ort
ist eine Art realisierte Utopie, die unter ihrer Realisierung zur Dystopie geworden ist: Ein Widerlager der restlichen Welt, in dem »die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«, gewissermaßen ein Ort »außerhalb aller Orte.« (Michel Foucault). Die Polizisten sollen hier nun das mysteriöse Verschwinden einer Patientin aufklären. Schon früh liegt etwas Merkwürdiges in der Luft. Die Wachen wirken kaum weniger irr, als ihre
Patienten, die Ärzte sind nicht eben kooperativ: Ben Kingsley spielt Dr. Cawley, einen humanen Doktor, der in einem Zeitalter, in dem Elektroschocks und Lobotomie der Normalfall der Psychiatrie waren, sanftere Therapien predigt. Relativ am Anfang des Films noch erläutert der Arzt seine Behandlungsmethode: Einfühlsam und human nähere man sich den Kranken. Die Verschwundene etwa halte die Pfleger für ihre Nachbarn, und »wir Ärzte spielen das Spiel mit.« Das Spiel mitspielen, vielleicht
ist das hier überhaupt der Schlüssel zu vielem.
Trotz aller Freundlichkeit: Die Ärzte spielen das Spiel der Ermittler nur widerwillig mit, alles wirkt abgeschottet, und irgendetwas scheint auch mit Dr. Cawley nicht zu stimmen. Erst recht um so mysteriöser wirkt Dr. Naehring (Max von Sydow), der düstere Schattenkönig von Ashecliffe Hospital. Zudem ist er deutschstämmig. Könnte es sich um einen ehemaligen KZ-Arzt handeln, der nun hier seine Menschversuche fortführt? Indizien
zumindest gibt es.
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Schon früh ist klar, das auch DiCaprios kopfschmerzgeplagter Polizeidetektiv ein persönliches Trauma mit sich herumträgt: Der Film spielt nur neun Jahre nach der Kapitulation Nazideutschlands, die Männer tragen Hüte zu ihren Trenchcoats und die seelischen Wunden des Kriegs sind noch kaum verheilt. Die Begegnung mit Naehring wirkt für Teddy als Auslöser für die Wiederkehr des Verdrängten: Die Erinnerungen an seine schrecklichen Kriegserlebnisse kommt wieder in ihm
hoch.
Im Kino war die Veteranenverzweiflung zuerst nur sehr gedämpft und humanisiert präsent, als »liberal schmaltz« wie einige US-Kritiker etwas hart den Film The Best Years of Our Lives von William Wyler abtaten, der immerhin 1946 als erster das Problem überhaupt zur Sprache brachte.
Zugleich häufen sich die Indizien, dass noch viel grundsätzlicher etwas faul ist in Ashecliffe Hospital. Bevor sich das Dunkel lichtet, treibt einen Scorsese tief hinein ins Dickicht des Irrationalen, und zieht dabei alle Register des klassischen Genrekinos, das zur Zeit seine Wiederauferstehung erlebt: Shutter Island ist in der Bildsprache des Film Noir erzählt, jener prächtigen Schwarzen-Serie, die sich vom Deutschen Expressionismus inspirieren ließ. Der Kriminalfilm wandelt sich unter der Hand in ein Rachdrama, wird zum Horrorthriller, zum verstörenden Alptraumkino, um dann doch als Psychothriller zu enden.
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Und so ver-rücken sich die Perspektiven des Films selbst immer wieder: Dioes ist ein Film voller Ambivalenzen, offen angelehnt, an die traditionelle schwarzromantische gothic novel, jenen populären Schauerroman – sozusagen ein B-picture der Literatur, der in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich, England, Italien, Spanien und Amerika nie so recht Fuß fassen konnte –, deren Bildsprache sämtliche B-Movie-Genres inspirierte. Da Gothic-Thema ist, sehr allgemein gesagt: Das Irrationale, das Unheimliche, Nicht-Fassbare, Chimärenhafte. Es ist »das Andere«.
Inszeniert wird das ungemein kraftvoll und sehr stilisiert, vollgestopft mit billigen Jahrmarktsgags, die aber insgesamt alle an der überhitzen Grundstimmung arbeiten, die hier entstehen soll. Musik von Mahler und Ligeti tragen zu diesem opernhaften »bigger than life« bei, und immer wieder gibt es Momente, in denen man sich als Zuschauer einfach verliert in diesem Film.
Trotzdem: Scorsese ist, das sollte man, wenn es einem im Kino zwischendurch schwarz vor Augen wird,
wie Hitchcock immer ein Rationalist.
Sein neuer Film ist einerseits eine Hommage an das klassische Paranoia-Kino Hollywoods, an Filme wie – als prägnantestes Beispiel – Samuel Fullers Shock Corridor, an das Horrorkino jener Jahre, an die B-Filme mit ihren »Körperfressern« (Don Siegels Invasion of Bodysnatchers), ferngesteuerten Menschen, »Gehirnwäschen« und anderen Angsteinfällen, aus denen sich die Theorie der universalen Manipulation jener Jahre speist. Eine wichtige Rolle dabei spielen auch die Geister aus der Vergangenheit, die nicht ruhen wollen, die die die Gegenwart heimsuchen, so wie Otto Premingers Laura, wie Out of the Past von Jacques Tourneur, oder eben wie Vertigo. Vielleicht stand sogar Kubricks Shining Pate. Dies ist in jedem Fall eine Hommage, deren wunderschöne, perfekt inszenierte Bilder geprägt sind von der Liebe des Regisseurs zu diesen Filmen seiner eigenen Kindheit. Hierzu gehört gezielte Übertreibung. Und Künstlichkeit. Die wummernde Musik, die Farben wie auf einer Provinzopernbühne sollten einen also nicht verwundern: Das ist gewollt, das gehört zum Zitatenspiel. Man muss das nicht mögen. Um es zu identifizieren, muss man die Vorbilder freilich kennen.
Damit ist dies nicht nur eine Analogie auf das McCarthy-Amerika der Hexenjagd, oder gar dessen subtile Verklärung in Nostalgie, sondern ein abgründiger Kommentar zu unserer Gegenwart. Auch in der stehen Vernunft und Wahn eng beieinander: Für unsere Kriege, unsere Terrorangst, unseren Sicherheits- und Gesundheitswahn findet Scorsese einen Spiegel in den fünfziger Jahren. Schwarze Aufklärung über die Nähen von Wahnsinn und Gesellschaft.
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So ist dieser Film alles in allem ein echter Scorsese: Mit einem getriebenen Helden, der über seine Grenzen geht, sich verwandelt, sich in einem gewissen Sinn opfert. Leonardo die Caprio, der Selbstbewusstsein mit Verwundbarkeit, Charme mit Verbitterung verbinden kann, in seiner vierten Zusammenarbeit mit Scorsese, deren offenkundige gegenseitige Inspiration von Außen fast wirkt, wie ein künstlerisches Vater-Sohn-Verhältnis, und dessen Spiel diesen Film trägt, ist längst zu einem typischen Scorsese-Helden geworden: Einer den seine Leidenschaft treibt, einer, der eine Reise in die Nacht unternimmt. So wie Nicholas Cage in Bringing Out the Dead, der dort auch einer jungen Frau begegnet, die ganz im Sinne der gothic tale ein Dämon ist. Vergessen wir nicht, dass auch Travis Bickle, der Taxi Driver, ein Kriegsveteran war, einer, den die Vietnam-Erfahrungen traumatisiert hatten. Immer wieder zeigt Scorsese »Hexenkessel«, immer wieder erzählt er von versehrten, irgendwie getriebenen jungen Männern, die Schuld auf sich geladen haben, und an ihr verzweifeln, die Erlösung suchen. Wenn nun manch einer findet, hier sei ein »großer Regisseur in einen großen Irrtum hineingeraten«, dann täuscht er sich womöglich. In jedem Fall ist das Urteil ein wenig vorschnell und leichtfertig. Machen wir uns stattdessen, bitteschön, auf alles gefasst.
Dies ist, mehr als viele andere Scorsese-Werke, ein grandioses Vexierspiel, in dem die Überraschungen bis zum Ende nicht aufhören: Kino als fiebriges Grand-Guignol-Spektakel, Horror als Instrument der Erkenntnis.