Großbritannien 2012 · 109 min. · FSK: ab 0 Regie: Will Lovelace, Dylan Southern Kamera: Reed Morano, Spike Jonze Schnitt: Mark Burnett |
||
Cry me a river |
Muss man zur kritischen Beurteilung eines Films wissen, was er ist? Eigentlich schon, denn einem sachlichen Dokumentarfilm fehlende Fantasie vorzuwerfen ist ähnlich unsinnig, wie einem Spielfilm mangelnden Realismus anzulasten. Dokumentarfilme funktionieren nach anderen Regeln als Spielfilme, und selbst diese Kategorien gilt es zu unterscheiden, da bei einem SciFi-Film Faktoren möglich bzw. notwendig sind, die bei einem Drama der Gebrüder Dardenne gar nicht gehen, und bei einer kafkaesken Komödie der Coen-Brüder ist es wieder ganz anders.
Muss man zur kritischen Beurteilung eines Films wissen, was er ist? Eigentlich nein, denn was macht es schon für einen Unterschied, ob das tragische Schicksal eines Flüchtlings, die ironische Entlarvung eines idiotischen Systems oder die herzerweichende Geschichte einer großen Liebe wirklich wahr oder aber gut erfunden ist, oder ob es irgendwo dazwischen liegt: Wenn man also nur so tut, als sei die Geschichte wahr, sie in Wirklichkeit aber erfunden ist (oder
umgekehrt)?
Muss man zur kritischen Beurteilung des Films Shut Up And Play The Hits wissen was er ist? Eigentlich schon, nein, eigentlich nein.
Im ersten Moment mag die Frage danach, was Shut Up And Play The Hits eigentlich ist, sonderbar, wenn nicht gar absurd erscheinen. Shut Up And Play The Hits ist scheinbar eindeutig ein Konzertfilm über das legendäre Abschiedskonzert des LCD Soundsystems, vermischt mit dokumentarischen Szenen vor, während und nach diesem Ereignis. Was gäbe es daran zu zweifeln? Zweifel kommen (zumindest mir) in mancherlei Hinsicht.
Der Film besteht grundsätzlich aus drei ineinander verwobenen Elementen; einem Gespräch, das die zentrale Figur, das LCD-Soundsystem-Mastermind James Murphy, mit dem (Pop-)Journalisten Chuck Klosterman geführt hat, dokumentarische Szenen, die Murphy vor, während und vor allem nach dem Konzert zeigen und der Liveperformance als solchen.
Wenn Shut Up And Play The Hits in den beiden erstgenannten Elementen ein Dokumentarfilm sein soll, dann ist das
mehr als bedenklich, da sie hochgradig gestellt und inszeniert wirken. Man kann endlos darüber streiten, was ein Dokumentarfilm machen darf und können muss, eine Sache erscheint aber unerlässlich: Er muss eine gewisse Wahrhaftigkeit besitzen. Eine solche hat Shut Up And Play The Hits nie.
Das Gespräch mit Klosterman ist eine ziemlich offensichtliche, praktisch unreflektierte (um nicht zu sagen plumpe) Gelegenheit, um James Murphys Selbst- und Weltsicht auszubreiten. Die dokumentarischen Szenen wirken so gestellt, dass sich unweigerlich der Eindruck einer scripted reality einstellt, stellenweise mit dem Problem, dass das Script mittelmäßig ist und der »Darsteller« zum Overacting neigt.
Wenn all das, was hier gezeigt wird, wirklich wahr ist (bis hin
zu den bitteren Tränen des James Murphy angesichts seiner eingelagerten Instrumente), dann scheitert der Dokumentarfilm, weil er die Wahrheit wie Fiktion aussehen lässt.
Was aber, wenn das Gezeigte nicht die nackte Realität ist? Was sollte es denn sonst sein, wenn nicht die die reine Wahrheit? Um eine Antwort darauf zu finden, sollte man einige Dinge bedenken.
Etwa, dass James Murphy allgemein als sehr kluger und raffinierter Kopf gilt, der Pop über die üblichen Grenzen der unterhaltsamen Musik hinausdenkt, der sich mit den Sub- und Metaebenen dieser Kultur befasst und auskennt.
Wissen sollte man auch, dass Spike Jonze, einer der großen Meister der realen Fiktionen und fiktiven Realitäten, an diesem Film beteiligt war. Seine offizielle Funktion ist laut Credits nur die eines Kameramanns, es ist aber nicht abwegig zu vermuten, dass sein
Einfluss bzw. sein Beitrag über das Bedienen einer Kamera hinausging.
Erinnert man sich dann noch an den letztjährigen I’m Still Here, der halbwahren Doku über den erfundenen Karrierewechsel von Joaquin Phoenix, dann stellt sich so langsam eine Ahnung ein, was Shut Up And Play The Hits wirklich ist.
Nein, der Film ist kein Hoax in Stile von I’m Still Here, auch war das LCD-Abschiedskonzert kein Fake wie die Rapkarriere von Joaquin Phoenix. Shut Up And Play The Hits ist vielmehr die konstruierte, stilisierte und inszenierte Fiktion eines wahren Ereignisses.
Es ging bei diesem Filmprojekt wohl nie darum, dass objektiv von außen jemand einen Blick auf das
Konzert wirft, um es zu dokumentieren. James Murphy ist ein Kontrollfreak, der seine Musik kontrolliert (und im Studio deshalb fast alle Instrumente selber spielt), der das System bzw. die Marke LCD Soundsystem kontrolliert und der natürlich auch das Ende dieses Projekts kontrolliert und deshalb inszeniert, weshalb er nicht zufällig einer der Produzenten von Shut Up And Play The Hits ist (wenn Leute Filme über sich selbst produzieren (lassen), muss man immer
aufmerken).
Im Gegensatz zu I’m Still Here geht es bei Shut Up And Play The Hits nicht um eine Verarsche, um damit irgendwas oder irgendwen zu entlarven oder der Lächerlichkeit Preis zu geben. Hier geht es um Popkultur im weitesten Sinne, um Mythenbildung, um ein vielschichtiges Gesamtkunstwerk, um eine freundliche Ver- und Irreführung, um das alte Spiel von Schein und Sein (wozu auch gehört, auffällig offen und ausgiebig über solche Aspekte der kulturellen Verklärung zu sprechen).
So gesehen ist es dann doch wieder egal, was der Film nun wirklich ist, ob Fiktion oder Realität, denn entweder lässt man sich derart verführen, taucht ein in den Kosmos LCD Soundsystem und glaubt an den Mythos (der eben wie bei Elvis oder den Beatles oder Michael Jackson anziehender ist als die jeweilige profane Realität) oder nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern und Zuschauern, bei denen das funktioniert und die sich begeistert zeigen, versagt diese Mythenbildung bei mir (um das klarzustellen: ich bin seit Jahren großer Fan der Musik vom LCD Soundsystem und schätze mich bis heute glücklich, eines ihrer fulminanten Konzerte besucht zu haben). Mir ist das alles zu berechnet, zu clever, zu offensichtlich, zu aufdringlich, zu pophistorisch und popphilosophisch um die Ecke gedacht und letztlich zu ungreifbar. Mythos entsteht eben auch aus Wahrhaftigkeit, und die fehlt hier.
Die fehlt leider auch im dritten, bisher noch nicht erwähnten und eigentlich wichtigsten Element dieses Films, der Liveperformance. Hauptproblem ist dabei der Sound, der großartig ist, leider zu großartig. Die Musik ist hier nicht atmosphärisch, als ob sie in diesem Madison Square Garden tatsächlich jemals erklungen wäre, um von Mikrophonen wieder eingefangen zu werden. Nein, sie geht direkt aus den Instrumenten in das Mischpult und in den Computer. Dort wird sie erst noch
einmal perfekt abgemischt (wieder der Kontrollfreak Murphy) und kommt schließlich wie ein Soundtrack direkt von der Tonspur in den Kinosaal. Das klingt für jeden Fan dieser Musik wunderbar, mit dem Erlebnis eines Livekonzertes hat es aber leider nichts zu tun.
Traurigerweise ist auch die visuelle Umsetzung der Konzertszenen erschreckend konventionell und erinnert über weite Strecken an die glatten Standards, die aktuelle in Handy-Werbespots und MTV/VIVA-Livemittschnitten
vorherrschen.
Gerade bei solchen Bildern denke ich mir wieder, dass hier etwas nicht stimmen kann. Will der ach so sophisticated Popquerdenker James Murphy, der Disco-Punker im Yves-Saint-Laurent-Outfit, ausgerechnet mit diesen ausgelutschten Popklischeebildern (heulende Fans!!!) einen Schlusspunkt unter ein Projekt setzen, das sich wortwörtlich bis zum Schluss als unangepasst gegeben hat? Meint er das wirklich ernst? Ist die Antwort ja, dann ist das bedauerlich. Ist die Antwort nein, dann sollte man sich als Zuschauer dessen zumindest bewusst sein (sofern es einem eben nicht egal ist, da man es so oder so gut findet).
Trügerisch (und somit möglicherweise symptomatisch für den Film) ist übrigens schon der Titel Shut Up And Play The Hits, der im ersten Moment den Frust eines Musikers vermuten lässt, der die Schnauze voll davon hat, von der Allgemeinheit auf eine gesichts- und meinungslose Hitfabrik (herab)reduziert zu werden (was etwa im Titel der Doku The Dixie Chicks – Shut Up and Sing durchklingt). Tatsächlich ist der Titel wohl nicht mehr (und nicht weniger) als ein augenzwinkernder, pop-referenzieller Witz.