Mexiko/USA 2009 · 95 min. · FSK: ab 16 Regie: Cary Joji Fukunaga Drehbuch: Cary Joji Fukunaga Kamera: Adriano Goldman Darsteller: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristyan Ferrer, Tenoch Huerta Mejía, Luis Fernando Peña u.a. |
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Das Leben ist verrückt. Dieses in jedem Fall. |
Nach Norden. Da wollen sie hin. Denn im Norden lockt die Verheißung. Sie heißt »Estados Unidos«, Vereinigte Staaten und bietet Reichtum, Glück, Frieden und Sicherheit. Die Länder aus denen sie kommen, haben all das nicht. Darum fahren sie, die Menschen Mittelamerikas, mit dem Auto, mit Bussen, und vor allem zu tausenden auf den Dächern der Güterzüge, bis zur »Border« am Nordrand Mexikos, der Grenze zum vermeintlichen Paradies, die kaum harmloser gesichert ist, als einst die Zonengrenze, die Deutschland teilte. Auch diese Grenze scheidet zwei Welten.
Sin nombre heißt dieses fulminante Filmdebüt des US-Regisseurs Cary Fukunaga, »Namenlos«, wie jene Migranten, die ihre Papiere wegwerfen und ihre Herkunft vergessen, bevor sie Teil des ununterbrochenen Stroms werden, der sich nach Norden zieht. Sin nombre ist glänzend inszeniert: Dynamisch, musikalisch, überaus human, ohne je in Betroffenheitskitsch abzugleiten. Eigentlich handelt es sich um mehrere Filme zugleich: Der erste handelt von den Flüchtlingen. Der zweite vom Verbrechen und der Mafia. Der dritte, von der Welt, in der wir alle leben.
Das Leben ist verrückt. Dieses Leben in jedem Fall: Ein kleiner Junge, vielleicht elf, zwölf Jahre alt, lächelt. Gerade hat ihn Dutzend junger Männer zusammengeschlagen, dreizehn endlose Sekunden lang. Er blutet aus mehreren Wunden, sein Gesicht ist zerbeult, aber er lächelt. Denn gerade hat er das Aufnahmeritual der Mara überstanden, der wie es heißt »brutalsten Mafiagang der Welt« – aber vielleicht ist das auch nur Gangstermythologie. Von nun an sind die Schläger seine Familienmitglieder und von nun an werden sie ihn Smiley nennen, wegen seines Lächelns.
Wie misst man eigentlich Brutalität? Es ist genaugenommen völlig egal, ob die Mara nun wirklich die brutalste oder »nur« zweit- oder drittbrutalste Sorte Mafia sind – mit solchen Feststellungen webt man allemal nur weiter am Mythos dieser Gang, gegen die alles, was man aus dem Kino so von Scarface über Der Pate bis hin zu Johnnie To’s Hongkong-Mafiaepen gewohnt ist, ziemlich niedlich aussieht. Im Norden Mexikos wo täglich Dutzende in einem blutigen Gangkrieg sterben, den wir Europäer bisher ignorieren, hat der Staat vor ihnen jedenfalls schon vorläufig kapituliert. Man erkennt die Mara an ihren auffälligen Gesichtstatoos. Sie verstecken sich nicht, aber sie wollen auch keine Publicity. Über die Natur dieser Gruppe, die einst in Uruguay gegründet wurde, die man an ihren wilden Gesichtstatoos erkennt, und deren Netz sich heute über ganz Lateinamerika bis hin zu den Bossen in den schicken Villenvierteln von Los Angeles erstreckt, darf man sich allerspätestens seit vergangenem September keine Illusionen mehr machen. Da wurde der Dokumentarfilmer Christian Poveda mit mehreren Kopfschüssen ermordet, nachdem er zuvor über ein Jahr lang in vermeintlicher Nähe zur Mara gelebt, gedreht und allerlei Interviews geführt hatte. Das Ergebnis, sein glänzender Dokumentarfilm La vida loca, der leider jetzt nicht ins Kino kommt, aber soeben auf DVD erschienen ist, war offenbar sein Todesurteil. Auch diese Tat, auch die Feststellung, das Mord Alltag ist für die Mara, und das man vielleicht nicht betroffender über einen toten Regisseur sein sollte, als über jeden anderen Toten, ist auch irgendwie wieder nur Arbeit am Mara-Mythos – dies ist das Dilemma solcher Filme, dem auch Sin nombre nicht ganz entkommen kann.
Dieses Spielfilmdebüt des New Yorker Regisseurs Cary Fukunaga ist das fiktionale Pendant zu La vida loca: Eine Innenenansicht des Mafialebens in Mexiko, das zugunsten der Handlung gewiss ein paar Dinge vereinfacht und glättet, aber doch derart getränkt ist mit Wahrhaftigkeit, mit vielen kleinen wahnsinnigen Episoden und unmittelbaren sinnlichen Eindrücken, dass man sagen kann, dass Sin nombre insgesamt ein großartiger, auch glänzend inszenierter Film geworden ist, und eines der spannendsten Filmdebüts der letzten Zeit.
Es beginnt als klassischer Gangsterfilm: Eine harte Männerwelt, brutale Initiationsrituale, Raub, Schutzgelder, schnell der erste Mord. Im Zentrum stehen drei Figuren: Smiley, der Junge vom Anfang, mit dem die Zuschauer die Gang allmählich immer besser von innen kennenlernen: Das Leben aus Korruption, Erpressung, Raub, Schutz gegen Gegenleistung, Verteidigung des Terrains gegen andere Gangs, und Mord, wenn es nötig scheint. Die Anführer, die selbst noch halbe Kinder sind. Und der merkwürdige Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, der nicht nur etwas mit Angst zu tun hat, sondern auch viel mit strenger sozialer Kontrolle und, so merkwürdig es klingen mag, mit Zärtlichkeit und menschlicher Wärme. Denn der Erfolg solcher Gangs wie der Mara liegt, auch das macht Fukunaga in wenigen, klug gewählten Skizzen klar, auch nicht zuletzt darin begründet, dass sie Aufgaben und Verantwortung in einer Welt übernimmt, in der die Eltern verschwunden sind, aus Not oder unglück, und der Staat sich zurückgezogen hat, weil er »schlanker« werden will, oder einfach kapituliert hat.
Trotzdem tendiert Sin nombre nie zur Schönfärberei. Dafür, dass es nie idyllisch wird, sorgt schon Caspar, die zweite Figur, die am Anfang den jungen Smiley in die Gang einführt. Da hat er, offenbar seit Jahren ein Mara, schon begonnen, sich innerlich zu distanzieren: Er ist angeekelt von den Verbrechen und der Brutalität, an der er selbst Anteil hat. Manchmal blickt der ganz leer in die Ferne, und man fragt sich, worauf so einer, der mit 18, 19 Jahren schon
irgendwie am Ende ist, und täglich mit einem brutalen Tod rechnen muss, eigentlich wohl noch hofft? Ob er überhaupt noch hofft? Immerhin hat er mit Martha eine Freundin außerhalb der Gang – auch das ist etwas, was nicht geduldet wird. Als Martha zufällig, aber nicht ganz unabsichtlich, stirbt, ist das für Casper der Moment, an dem er innerlich mit der Mara bricht.
Jetzt kommt Sayra ins Spiel, eine junge Honduranerin. Schon vorher hatte der Film immer wieder in kurzen
Parallelmontagen ihr Leben erzählt. Im Gegensatz zu Casper lebt sie ehrlich und träumt den großen Traum der Armen Lateinamerikas: Die Verheißung vom reichen Norden, den »Estados Unidos«. Auf den Dächern eines Güterzugs macht sie sich auf, um irgendwie illegal zu ihrer Familie in die USA zu kommen. »Sin Nombre« zeigt die erschreckenden Details dieser Flucht, zeigt, wie die Menschen ganz und gar dem Zufall ausgesetzt sind, dem des Wetters, wie den Menschen, denen sie begegnen. In
Tapachula, im Süden Mexikos begegnen sie sich. Als der örtliche Mara-Leader Lil’Mago mit Casper und Smiley den Flüchtlingszug ausrauben will, und Sayra bedroht, schlägt sich Casper, mehr aus der Laune des Augenblicks und seiner allgemeinen Hoffnungslosigkeit heraus auf ihre Seite, und tötet Lil’Mago. Von nun an ist er vogelfrei, denn Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben, und Smiley, der kleine brutale Mafia-Kindersoldat ist ihm auf den Fersen...
Die Flucht von Casper und Sayra, ihre Flucht vor der Polizei, vor Räubern, vor amerikanischen Grenzbeamten und vor ihrer Vergangenheit bestimmt die zweite Hälfte des Films, der nun zu einer Art Road Movie auf dem Zug geworden ist. Auf den ersten Blick hat all das fast etwas Romantisches. Und manche Momente sind tatsächlich »cool und sexy«, wie der Verleih wirbt.
Parallel zeigt der Film weiter das Innere der Gang und die Außensicht der Flüchtigen. Das alles ist, wie gesagt, glänzend und einfallsreich, ohne echte Fehler und mit nur ganz wenigen Schwächen inszeniert. Nur die Figuren sind ein wenig schematisch, aber dafür verzichtet Fukunaga auf die meisten Üblichkeiten jener »filmischen Erzählweise«, die viele sogenannte Independent-Filme so langweilig und berechenbar macht. Sin nombre ist ein Film voller hartem Realismus und brennend aktuell: Er gibt den Schicksalen ein Gesicht, von denen wir täglich in der Zeitung lesen. Dieser Tage erst konnte man die Meldung hören, dass immer mehr der Mittellosen, die nach Norden ziehen überfallen werden, beraubt, mitunter vergewaltigt, oder gar ermordet.
Fukunaga erzählt seine Story im Prinzip kühl, zeigt das Gang-Milieu ungeschminkt und brutal, die Flucht dafür in oft schönen Bildern, manchmal nahe an Postkartenpanoramen. Die atemberaubenden Bilder der vorüberziehenden Landschaften stehen in Kontrast zum Elend auf dem Zugdach. So versucht der Regisseur alles für uns, für das verwöhnte Wohlstandspublikum im Westen, erträglich zu halten. Denn natürlich ist die Wirklichkeit viel schlimmer, als in diesem Film. Mit dieser ebenso klugen wie eingängigen Mischung hat der 1977 geborene New Yorker Regisseur gewiß eine große Zukunft vor sich. Sin nombre ist – das zeigt der Vergleich mit La vida loca – in vielen authentisch, aber er ist ein Spielfilm, und macht deshalb ein paar legitime Kompromisse. Dass der Regisseur das alles nicht selbst erlebt, und weder Gangster, noch Sozialarbeiter ist, muss man ihm nicht vorwerfen. Es ist unser verwöhnter westlicher Blick, und unsere Befremdung, mit der er für uns auf eine unbekannte Welt schaut. Und es ist sein Verdienst, dass sie auch nach dem Abspann ihr Geheimnis nicht verloren hat.
Es tut gut, mal wieder einen Film zu sehen, der nicht mit einem Vorgriff auf das Ende beginnt und der dann mit dem stereotypen Insert »10 Jahre früher« zur eigentlichen Handlung überleitet. Man wird sehr schnell hineingenommen in die Welt der Mara Salvatrucha-Gang in einer Stadt im Süden Mexikos. Das 18-jährige Gangmitglied El Casper (Edgar Flores) führt seinen sehr jungen Freund Smiley (Kristian Ferrer) in seine »Familie« ein. Dieser wird zunächst von einigen Gruppenmitgliedern zusammengeschlagen, wobei auch sein Freund El Casper mitwirkt, und muss dann aus nächster Nähe einen Mann töten, der gefangen wurde, weil er einst einer befeindeten Gang angehört hatte. Gangleader Lil' Mago (brutal: Tenoch Huerta) hält dabei seinen Säugling im Arm, damit dieser sich schon mal an die Gewalt gewöhnen kann. Eine Initiation der besonderen Art, auch für den Zuschauer.
Während ein Handlungsstrang die Geschichte von El Casper erzählt, der die Gruppenregeln bricht, weil er unsterblich in Martha Marlene (Diana Garcia) aus dem „falschen“ Stadtviertel verliebt ist und sie heimlich trifft, zeigt der zweite Handlungsstrang das Mädchen Sayra aus Honduras, die mit Verwandten auf einen „Todeszug“ genannten Güterzug steigt, um illegal in das gelobte Land USA zu gelangen. Das Milieu der Mara wird mit relativ wenigen Bildern sehr genau und beklemmend gezeichnet: Schutz und Heimat auf der einen Seite, symbolisiert durch extreme Tattookörperlichkeit und ritualisierte Begrüßungsgesten – Kontrolle und bedingungslose Unterordnung auf der anderen Seite. El Casper, vom Typ her überhaupt kein Revoluzzer, will von seiner Geliebten nicht lassen und gerät so in einen Strudel der Konflikte, der ihn schließlich an den Rand des Ausgestoßenwerdens und seiner Freundin den unglücklichen Tod bringt. Edgar Flores spielt sehr überzeugend und natürlich ein naives und eher wortkarges Durchschnittsmitglied, das plötzlich die ganze Härte der Gruppe zu spüren bekommt, weil es aus Liebe zu einer Frau die Regeln nicht einhalten will, weil Liebe und Loyalität nur für die Gruppe reserviert sind.
Als Casper zusammen mit Smiley und Lil’ Mago den »Todeszug« besteigt, um sich als Flüchtling auszugeben, um die echten Flüchtlinge dann auszurauben – ein perfides »Geschäft« mit der Hoffnung der Heimatlosen – kreuzen sich die Lebenswege der zwei Protagonisten. Casper ermordet im Affekt Lil’ Mago, der Sayra fast erwürgt, als diese ihm kein Geld geben will. In wenigen Sekunden hat er damit die Seiten gewechselt und ist ab diesem Zeitpunkt Zielobjekt der Mara-Rache. Seinen verstörten Freund Smiley schickt er zurück zur Gang, die sofort ihr weitverzweigtes Netz aktiviert, um den Mörder zur Strecke zu bringen.
So wechselt der Schwerpunkt der Erzählung zum Fluchtmovie und die vorsichtige Annäherung von Sayra und Casper rückt in den Vordergrund. Das Mädchen (Paulina Gaitan spielt ihre Rolle sehr natürlich und unaufdringlich) fühlt sich zu ihrem Lebensretter hingezogen und erkämpft sich mit Beharrlichkeit und gegen seine fast apathische Zurückgezogenheit seine Wegbegleitung. Hier unterläuft der Film die einschlägigen Erwartungen des Zuschauers, indem er keinen Thriller oder eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, sondern eine Geschichte des Verpassens erzählt. Casper, der sich eine neue Identität geben will, sich Willy nennt und sein auffälliges Tränen-Tattoo unter dem Auge wegkratzt, hat sich innerlich schon aufgegeben, weil er zu genau weiß, dass er der Rache nicht entkommen kann. Und der Zuschauer ahnt es auch. Außerdem ist er noch ganz in das erlebte Liebesglück mit Martha Marlene verstrickt und schaut auf seiner Kamera selbstgedrehte Liebesvideos seiner verstorbenen Geliebten an, während Sayra neben ihm liegt und sich mehr von ihm erhofft. Er ist nicht offen für eine neue Liebe. Dies wird alles unspektakulär und tieftraurig erzählt – mit einfachen, unaufdringlichen Bildern, die einen auf dem Zug mitfahren lassen und in einen tragisch-ruhigen Sog der Unabwendbarkeit hineinziehen.
Einzig der Höhepunkt bietet vielleicht dann doch noch genretypische Bilder: das verzweifelte Flüchtlingsmädchen auf dem Lastwagenreifen auf dem Grenzfluss, ihr Retter, der seine Kamera und damit symbolisch sein vergangenes Liebesglück als Bezahlung für ihren Weg in die Freiheit geopfert hat, das Netz der Mara, das sich am Fluss unerbittlich zusammenzieht und der Show-Down. Natürlich muss es dann Smiley sein, der sich für die »Familie« entschieden hat, der in einem Kreisschluss zum brutalen Anfang den Ausgestoßenen stellt und die tödlichen Schüsse abfeuert. Hier hätten sicher originellere Bilder gefunden werden und eine oder mehrere Einstellungen der verzweifelten Sayra eingespart werden können. Einen richtigen Hoffnungsschimmer kann die erfolgreiche Rettung wenigstens des Mädchens aus Honduras, die alle Mitgereisten verloren hat, nicht vermitteln und soll es wohl auch nicht. Das gelobte Land am Ende ihrer langen Reise ist zunächst nur ein Einkaufszentrum und eine Telefonnummer. Mehr erfahren wir nicht.
Meisterlich an diesem international sehr erfolgreichen Regiedebüt (u. a. Regiepreis sowie der Preis für die Beste Kamera beim Sundance Festival) ist die absolut stimmige und gradlinige Erzählweise, welche die Bilder stets mit abwechslungsreicher und stimmungsintensiver Musik (Marcelo Zarvos) unterlegt. Gitarre, Akkordeon und Streicher fügen sich nahtlos in die vorbeiziehenden Landschaften (Originalschauplätze in Mexiko) ein und geben der Handlung leichte Impulse, wenn dies nötig ist. Ein harter, aber bei aller Präzision des jungen amerikanischen Regisseurs Cary Fukunaga, künstlerisch extrem ökonomischer Film, der ohne aufdringlich zu werten menschlich berührende Geschichten aus verschiedenen Lebenswelten erzählt und dabei Bilder erschafft, die sich tief einprägen.