Österreich/Schweiz 2006 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Glawogger Drehbuch: Michael Glawogger, Barbara Albert Kamera: Martin Gschlacht Darsteller: August Diehl, Paulus Manker, Michael Ostrowski, Pia Hierzegger, Maria Bill u.a. |
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Zu den traurigen »Traditionen« bei artechock gehört es, auf die unglaublich guten aber meist auch ebenso unglaublich erfolglosen Filme von Michael Glawogger hinzuweisen.
Dessen neuester Film Slumming ist einmal mehr ohne größeres Aufsehen zu erregen in einem einzigen (auch das ist so eine deprimierende Glawogger-Konstante) Münchner Kino (Monopol) angelaufen und nach einer lächerlich kurzen Spielzeit auch schon wieder verschwunden.
Das ist um so tragischer, da es sich bei Slumming (das ist die erfreuliche Glawogger-Konstante) um eine brillanten, bewegenden, wunderschönen und mitreißenden Film
handelt, der trotzdem (und das ist der immer gleiche Skandal) nicht einmal zumindest die im Arthouse-Bereich üblichen Zuschauerzahlen erreichen wird.
Auf den ersten Blick ist Slumming tatsächlich kein besonders »einladender« Film. Wien zur Faschingszeit (was da alles passieren kann, hat man in Florian Flickers Der Überfall schon sehen können), saukalt ist es und mittendrin bzw. am unteren Rand zwei der abstoßendsten Kino-Drecksäcke seit langem.
Der eine Drecksack heißt Kallmann, ist ein 50jähriger Halb-Sandler,
Säufer und selbsterklärter Poet. Er überzieht seine Umwelt mit einem steten Strom von Verwünschungen, Flüchen und Nötigungen der derbsten Sorte und schreckt beim Gelderwerb vor keiner Niederträchtigkeit zurück, lässt sich dabei trotz allem manischen Größenwahn für ein paar läppische Euros aber auch gnadenlos erniedrigen. Aggressivität ist sein Grundzustand, eine psychische Erkrankung ist nicht auszuschließen und sein Benehmen liegt jenseits jeder Verträglichkeit.
Der andere Drecksack ist Sebastian, ein schicker, reicher Berliner Thirtysomething, das Innbild des bis zur Degeneration verzogenen und gelangweilten Berufs-Erben, der seine Tage damit ausfüllt, weiblichen Internetbekanntschaften heimlich unter den Rock zu fotografieren, mit seinem Kumpel in Lokalen und Orten der untersten Kategorie rumzuhängen (das sogn. Slumming) und den Menschen feige und gemeine Streiche zu spielen. Sein Sozialverhalten ist genau so gestört wie sein Sexualtrieb und trotz aller superabgebrühter Übermensch-Haltung ist er doch ein jämmerlicher Feigling, der total durchdreht, wenn sich jemand erdreistet, sich gegen seine Beleidigungen zu wehren.
Das Leben dieser beiden Widerlinge bekommt eine entscheidend neue Richtung, als sie aufeinander treffen.
Sebastian findet bei einer nächtlichen Tour mit seinem Freund Alex den bis zur Bewusstlosigkeit besoffenen Kallmann auf einer Parkbank von dem Wiener Westbahnhof. Ein Bewusst- und Wehrloser ist genau das richtige Opfer für Sebastian, weshalb man Kallmann in den Kofferraum verfrachtet, ins tschechische Znaim fährt und ihn dort immer noch schlafend und seines Ausweises
beraubt, auf eine Bank vor den örtlichen Bahnhof legt.
Für Kallmann beginnt damit am nächsten Morgen eine aberwitzige und (möglicherweise) kathartische Odyssee zurück nach Wien.
Auch für Sebastian soll diese Aktion nicht ohne Folgen bleiben. Das Verhältnis zu seiner neuen Freundin Pia leidet darunter ebenso, wie das zu seinem Komplizen Alex. Ausgerechnet der Spaß mit einem echten Kotzbrocken, der eine solche »Lektion« verdient zu haben scheint, wird zum moralischen Stolperstein für Sebastian, weshalb er sich zunehmend die
Sinnfrage für sein eigenes Leben stellt.
So grob man die Handlung von Slumming umreißen kann, so unmöglich ist es doch zu erklären, worum es in diesem Film grundsätzlich geht. Denn hier ist nichts so eindeutig wie es scheint, hier führt nichts zwangsläufig dahin, wohin man es erwartet, hier gibt es keine einfache Antworten und noch nicht einmal einfache Fragen. Hier ist schlicht alles wie im täglichen Leben, das sich üblicherweise auch durch das Fehlen von Konstanten und Eindeutigkeiten auszeichnet. Möglicherweise ist dies die Erklärung für die Erfolglosigkeit von Glawoggers Film(en).
Denn selbst die anspruchsvollen Kinogänger, die ja auch vor den Herausforderungen eines Michael Haneke-Films nicht zurückschrecken, haben es in der letzten Konsequenz dann doch gerne übersichtlich und unmissverständlich, wer und was gut bzw. schlecht ist und was man als Zuschauer von dem Gezeigten denn nun zu halten hat.
Michael Glawogger verweigert ausnahmslos solche Orientierungshilfen und lässt den Zuschauer mit seinem eigene Urteil alleine zurück. Für viele Zuschauer
offensichtlich eine sehr unangenehme Vorstellung.
In Slumming muss man sich somit ganz allein zurechtfinden, was einem durch die differenzierte Sichtweise des Films nicht leichter gemacht wird.
Immer wenn man sich z.B. bequem im Hass auf Kallmann und Sebastian eingerichtet hat, tun die beiden etwas erstaunlich Gutes oder sind einfach nur sympathisch.
Wenn man glaubt, die Verkommenheit und Schlechtigkeit der heutigen Welt vorgeführt zu bekommen, gibt es prompt einen positiven Kontrapunkt.
Auf
eine Läuterung oder Besserung von Kallmann und Sebastian kann man wortwörtlich bis zur letzten Sekunde hoffen, Gewissheit darüber erlangt man aber nicht.
Noch nicht einmal die Frage, ob es sich bei Slumming um eine realistische Beschreibung oder ein phantastisches Märchen handelt, lässt sich zweifelsfrei beantworten.
Genauso unsinnig ist es, den Film hinsichtlich seines Genres bzw. seiner Stimmung in eine bestimmte Ecke zu stellen. Manchmal ist er dramatisch bis hin zur schwer erträglichen Direktheit, andererseits ist er aber auch sehr subtil komisch (die typisch österreichische Melange aus Schmerz und Komik). Einige Szenen sind trist melancholisch, während andere surreal pittoresk glänzen.
Hand in Hand mit dem Fehlen von Eindeutigkeiten geht Glawoggers Verzicht auf Extreme.
Leicht hätte der Film der gleichen Faszination für das Slumming erliegen können, wie seine Protagonisten. Man hätte hinabsteigen können in den gesellschaftlichen Keller der Stadt Wien, hätte sich wohlig schaudern können am Elend, am Absturz, am Versagen.
Doch solcher Voyeurismus fehlt ebenso, wie eine übertrieben bedeutungsvolle Ausstellung des technisierten und durchdesignten
Alltags von Sebastians. Die Rechnung: kalte, leere Wohnung zeugt von kaltem, leeren Herzen, ist Glawogger (zu Recht) zu einfach.
Auch das ganze Arsenal der Verstörung und Provokation, das etwa Glawoggers Kollege Ulrich Seidl so gerne auffährt, sucht man hier vergebens.
Kann man Slumming alleine deshalb schon inhaltlich vorbehaltlos empfehlen, so bewegt er sich auch noch auf der gestalterischen Ebene auf höchstem Niveau.
Glawoggers außergewöhnliche Bildgestaltung zusammen mit der hervorragenden Kameraarbeit, einem kongenialen Soundtrack und einem makellosen Schnitt erheben Slumming weit über die uninspirierte Wackel-Digital-Billig-Ästhetik, mit der manch andere Regisseure versuchen,
ihren Geschichten mehr Bedeutung zu verleihen.
Großartig schließlich auch die Schauspieler, allen voran der österreichische Komplettkünstler Paulus Manker als keifender Kallmann und August Diehl als infantiler Gefühlskrüppel Sebastian.
Es scheint fast so, dass Diehl in der Rolle des Manischen die Nachfolge von Klaus Kinski antritt und wenn ihm dabei vielleicht auch ein wenig die Wandlungsfähigkeit fehlen mag, so ist (sofern ihm die passende Rolle gegeben wird) seine Darstellung des ruhelos Besessenen doch kaum zu
überbieten.
Doch auch die Nebenrollen sind in Slumming bis ins Kleinste zielsicher besetzt und lebendig ausgestaltet.
Slumming hat somit fast alles, was ein guter Film haben muss. Das einzige was ihm fehlt, ist Erfolg. Dass er diesen nicht hat, liegt nicht auf Seite der Produzenten, sondern der der Konsumenten.