Film Socialisme

Schweiz/Frankreich 2010 · 101 min. · FSK: ab 0
Regie: Jean-Luc Godard
Drehbuch:
Kamera: Fabrice Aragno, Paul Grivas
Darsteller: Catherine Tanvier, Christian Sinniger, Jean-Marc Stehlé, Patti Smith, Robert Maloubier u.a.
Das Lama an der Tanke – Godard kann auch witzig sein

Muss man Jean-Luc Godard verbrennen?

Muss man Jean-Luc Godard verbrennen? Viel­leicht sollte man darüber einmal disku­tieren. Manche scheinen jeden­falls dieser Ansicht zu sein. Godard ist schließ­lich auf den ersten Blick unver­s­tänd­lich. Er ist gegen das Copyright und er liest Philo­so­phen, die den Eid auf den Kapi­ta­lismus noch immer nicht geschworen haben. Lange kann das nicht mehr gut gehen. Was ist Europa jenseits des Euros? Demo­kratie und Tragödie. Also, einfacher gesagt: Politik und Kultur. Wenn die Kultur erst am Schluss kommt, kann sie nichts mehr ausrichten. Was ist Sozia­lismus jenseits des Traumes vom starken Staat? »Der Traum der Menschen: 'Zwei sein'«. Also, einfacher gesagt: Freiheit und Wider­stand. Was ist Kino jenseits der Fort­set­zung der Literatur mit anderen Mitteln? Musik und Philo­so­phie, Bilder und Denken. »Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, bricht die Gerech­tig­keit das Gesetz.« Das ist ein gefähr­li­cher Satz, denn mit ihm lässt sich viel Schwach­sinn recht­fer­tigen, sogar Terror. Ist er deswegen aber falsch? Soll Godards Kino verboten werden? Nochmal: Muss man Godard verbrennen?

»Ich mache nicht, was ich will. Ich mache, was ich kann.« – Jean-Luc Godard

Muss sich alles immer gleich von selbst erklären? Ist Godard, nur weil er nicht der Ideologie des konsu­mis­ti­schen Kinos und des Erzählens reprä­sen­ta­tiver Geschichten anhängt, böse? Godards neuer »Film Socia­lisme« kommt genau richtig – dies ist der Film zur poli­ti­schen und kultu­rellen Krise Europas. Grie­chen­land steht ja noch für mehr als nur Schul­den­berge und der Euro war mal gedacht als Mittel für einen poli­ti­schen Zweck.

Jean-Luc Godards Kino macht Angebote. Er weiß, dass er recht hat mit seiner Diagnose, und er weiß, dass der Patient so krank ist, dass er den Arzt nicht mehr verstehen kann. Fangen wir mit Europa an: »Europa besteht aus 27 Ländern, aber man sieht nie einen norwe­gi­schen oder einen bulga­ri­schen Film im Fernsehen. Auch in den Nach­richten kommen die Länder fast nicht vor. Die EU besteht bloß aus ein paar Gesetzen und Dekreten, welche die USA kopieren wollen. Heute disku­tieren wir viel über die Idee von Europa. Aber Europa gibt es doch schon lange, ich habe in der Schule gelernt: Mozart, Victor Hugo und Tolstoi verkör­perten es. Das poli­ti­sche Europa, das nun propa­giert wird, gefällt mir gar nicht. Die EU hat Mühe zu exis­tieren, und das begüns­tigt extre­mis­ti­sche, sogar faschis­ti­sche Tendenzen. Die Demo­kratie hat in dem Gebilde einen schweren Stand. ... Die Europäi­sche Gemein­schaft begann mit Kohle und Stahl, die heute keine Rolle mehr spielen. Dann hat man die Währung hinzu­er­funden. Man müsste Europa auf der Kultur aufbauen. Wenn sie am Schluss kommt, kann sie nichts ausrichten. ... Nehmen wir Grie­chen­land: Die Leute sagen oft, das Land habe die Demo­kratie erfunden. Sie vergessen aber, dass zur Zeit von Perikles auch Autoren von Tragödien wie Sophokles in der Blüte standen. Demo­kratie und Tragödie stammen aus der gleichen Zeit, sie gehören zusammen. Die Leute täten gut daran, dies nicht zu vergessen. Gerade heute.«

Liebe und Bürger­krieg

»Die Perioden des Glücks sind leere Blätter im Buch der Welt­ge­schichte.« – Georg Friedrich Wilhelm Hegel, zitiert in »Deutsch­land Neu(n) Null. Allemagne 90 Neuf Zero«

Jean-Luc Godard, geboren 1930 ist der größte Regisseur der »Nouvelle Vague« und einer der letzten Über­le­benden dieser wich­tigsten aller Film-Bewe­gungen, die Ende der 50er, Anfang der 60der Jahre das europäi­sche Kino neu erfand – gegen das Hollywood-System, aber mit einigen Hollywood-Regis­seuren wie John Ford, Alfred Hitchcock und Otto Preminger, um nur einige zu nennen. Filme Godards wie Außer Atem oder Die Verach­tung wurden Welter­folge. Und bis in die späten 80er-Jahre gehörte er zur Avant­garde des Films. Dann allmäh­lich starben die Wegge­fährten und die Zeit ging über ihn hinweg.

Aber er drehte unver­drossen weiter, in den letzten Jahren vor allem doku­men­ta­ri­sche Essay­filme wie Eloge auf die Liebe über das gleich­na­mige Buch des Philo­so­phen Alain Badiou, und Notre Musique über den Bürger­krieg in Jugo­sla­wien. Sie wurden in Cannes urauf­ge­führt und liefen in Frank­reich erfolg­reich; trotzdem mochte sich kein deutscher Verleiher dafür begeis­tern. Doch jetzt kommt, nach über zehn Jahren, endlich wieder ein neuer Godard ins Kino.

»Viva Don Quixote!!«

Der Film ist eine Collage in drei Teilen. Der erste heißt »Des choses comme ça«; der zweite »Quo vadis Europa«; der dritte »Nôtre Humanité«. Dass der deutsche Verleih das alles übersetzt und verein­deu­tigt, mag populär sein, hilft aber dem Vers­tändnis auch nicht, denn um Vers­tändnis geht es hier nicht. Jean-Luc Godards Englisch auf der origi­nalen Unter­ti­tel­spur ist wie das der Indianer im Western: »first produce no say show first what’s possible« Oder: »Think hard what you fight for may obtain.«

Der erste, längste Teil zeigt eine Kreuz­fahrt im Mittel­meer, auf einem Riesen-Ozean­dampfer, der »Titanic« heißen könnte oder das Schiff sein, auf dem bei Manoel de Oliveras Um filme falado gereist wurde. Dieser Teil verbindet Tourismus mit Refle­xionen über Imperien: Byzanz, Rom, Grie­chen­land, Ägypten. Britische und deutsche Bomber im Zweiten Weltkrieg, Kamikaze, Napoleon vor Moskau. Am Tag, als er die brennende Stadt verlässt, hat er das Dekret zur Gründung der Comedie Française erlassen. Und so weiter... Dialek­ti­sches Denken und asso­zia­tives Kommu­ni­zieren mit der Kamera, das sich selbst erklärt und versucht, der Empirie Thesen abzu­ringen. Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehin­weise wie Balzacs »Verlorene Illu­sionen« und Texte von André Gide oder Nagib Mahfus.
Im zweiten Teil geht es um eine Klein­fa­milie in der fran­zö­si­schen Provinz. Die Kinder proben den Aufstand. Das Fernsehen ist dabei. »Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten«, sagt eine Tochter.
Der dritte, kürzeste Teil verbindet dann Palästina und das Opfern der Söhne durch die Väter seit Abraham – »I see the fire, but I dont see the lamb.«/»God will do the Holocaust« – mit der Sprach­theorie von Roman Jacobson, die eben im frag­li­chen Holocaust-Winter 1942/43 entwi­ckelt wurde. Man hört »Sag mir wo die Rosen sind«, dann kommt Eisen­steins Treppe in Odessa, ein grie­chi­sches Theater und – »democracy + tragedy married. One child: civil war«. Spanien: Barcelona, Barças Iniesta in Zeitlupe und eine Feier »Viva Don Quixote!!« Es fehlt also nichts Wesent­li­ches in diesem Film. Aber was soll das jetzt alles?

»Ideen trennen, Träume verbinden! Nein Albträume!«

Der Film unter­nimmt eine geschichts­phi­lo­so­phi­sche Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das Erbe Europas, verbindet viele Ebenen. »Quo Vadis Europa?« ist die Leitfrage, das Mittel­meer als der Geburtsort von Demo­kratie und Menschen­rechten – das antike Grie­chen­land, das Ägypten der Pharaonen, Rom, Karthago, Odessa, Barcelona und Neapel – bilden die räum­li­chen Eckpunkte dieser Reise. Es sind Orte, in denen sich christ­liche und andere Kulturen vermi­schen und treffen. Als Godard den Film 2010 fertig­stellte, konnte er noch nicht wissen, dass es 2011 in Nord­afrika demo­kra­ti­sche Rebel­lionen gegen die Dikta­toren geben sollte.

Also was soll das jetzt alles? Der Film ist ein Versuch, eine Summe des 20. Jahr­hun­derts zu ziehen. Die notge­drungen skeptisch ausfallen muss. Tolstoi schrieb seinen Roman »Krieg und Frieden« 56 Jahre nach Napoleons Rußland­feldzug. Die Reflexion braucht Zeit. Aber jetzt wird es Zeit, langsam damit anzu­fangen, dem 20. Jahr­hun­dert, insbe­son­dere den Jahren 1933-1945, eine Form zu geben. Paranoia hat ihren Platz. Es geht viel um Gold, das Spanische, das angeblich von den Kommu­nisten geklaut wurde. Das der Bank von Palästina. Das der Araber in den Trans­porten der Skla­ven­ka­ra­wanen.

Die Stimmung ist von Trauer und Abgesang geprägt. Und von Hoffnung: »20 Jahre alt sein, recht haben, sehen statt lesen.« Godard ist auch ein Filme­ma­cher, der sich nie um klare Aussagen herum­ge­drückt hat: »Ideen trennen, Träume bringen zusammen«, lautet eine davon. Und es geht um Utopie. An der will Godard fest­halten. »Ich will nicht sterben, bevor Europa glücklich ist.« Hoffent­lich geht dieser Wunsch in Erfüllung. Film Socia­lisme ist extrem anregend. Solche Filme müsste man machen. Mehr machen. Dies ist genau das, wozu Kino da ist.

Film criti­cisme

»Als Film Socia­lisme letztes Jahr in Cannes seine Urauf­füh­rung erlebte, wurde Jean-Luc Godard mal wieder seinem Ruf gerecht und machte es seinem Publikum nicht gerade leicht.« Frage dazu: Muss es ein Regisseur seinem Publikum leicht machen? Wenn ja: Warum eigent­lich?
»Statt das Spra­chen­ge­wirr auf Fran­zö­sisch, Englisch und Deutsch wie üblich ganz zu über­setzen, gab es lediglich selektive Unter­titel, die sich oft nicht einmal mit dem Gesagten deckten.«
Frage: Warum sollte ein Regisseur die Dinge machen, wie üblich?
Zweite Frage: Wenn ein Regisseur die Dinge anders macht, als üblich, ist das dann gut oder schlecht?
»Seit den späten sechziger Jahren verfügen seine Filme über eine distink­tive Ästhetik aus Zwischen­ti­teln, intel­lek­tu­ellen Exkursen, und vor allem einem sehr spezi­fi­schen, von Disso­nanzen und Störungen geprägten Umgang mit Montage und Ton. Dass sich Godard einer ganz eigenen, filmi­schen Sprache bedient, ist durchaus als Kompli­ment zu verstehen.«
Frage: Was bedeutet der letzte Satz? Ist es ein Kompli­ment Godards für den Zuschauer, dass Godard das tut? Oder für Godard durch den Kritiker? Oder für den Kritiker durch Godard, weil er es versteht?
»Aller­dings scheint diese Sprache kaum jemand mehr zu verstehen.«
Mag sein. Fall es so ist: Was folgt daraus? Darf man nur Sprachen sprechen, die auf ein Mindest­quorum an Vers­tändnis rechen können? Wie groß wäre solch ein Quorum?
»Eine wirkliche Linie ist bei dieser kalei­do­sko­pi­schen Blick­weise kaum auszu­ma­chen.« Frage: Ist Anti­li­nea­rität nicht gerade das Wesen des Kalei­do­sko­pi­schen?
(Alle Zitate von Michael Kienzl aus critic.de)

Sozia­lismus

»Geld ist ein öffent­li­ches Gut« – »Wie das Wasser?« – »Genau.«– Dialog aus dem Film

»Die Auto­ren­theorie stimmt im Kern, aber sie wurde über­trieben ausgelegt. Heute nimmt man den auteur viel zu wichtig. Ich bin beispiels­weise gegen Urhe­ber­rechte und für das freie Zitieren und Kopieren. Ich lebe zwar von den Tantiemen, die man mir bezahlt, wenn meine Filme am Fernsehen laufen. Aber wenn das Urhe­ber­recht abge­schafft wird, bin ich nicht unglück­lich. ... Ich bin nicht reich. Ich lebe mittel­s­tän­disch. Aber ich finde, man sollte für Arbeit bezahlt werden, nicht für die Verwer­tung seines Produktes. Dann wird es nämlich kompli­ziert: Wenn Ihre Zeitung ehrlich wäre, müsste sie mir für dieses Gespräch ein Honorar bezahlen, weil ich hier die haupt­säch­liche Arbeit leiste. Sie wird es nicht tun. Sie sehen also: Das Urhe­ber­recht ist eine Fiktion.« Dies sagt Godard über das im Kern längst überholte, nur noch nicht preis­ge­ge­bene klas­si­sche bürger­liche Modell des Urhe­ber­rechts. Er fordert Zugang statt Eigentum. Dieses neue Kino wird ein Kino jenseits des Copy­rights sein, oder es wird nicht sein.
2009 hat Godard jemandem, der wegen Urhe­ber­rechts­ver­let­zung bezahlen sollte, 1000 Euro spendiert: [www.popkon­text.de/index.php/2010/09/14/jean-luc-godard-schenkt-verur­teiltem-urhe­ber­rechts­ver­letzer-1000-euro/] Er sagt: »Je suis contre Hadopi [das fran­zö­si­sche Internet-Copy­right­ge­setz], bien sûr. Il n'y a pas de propriété intel­lec­tu­elle. Je suis contre l’héritage, par exemple. Que les enfants d’un artiste puissent béné­fi­cier des droits de l'œuvre de leurs parents, pourquoi pas jusqu'à leur majorité... Mais après, je ne trouve pas ça évident que les enfants de Ravel touchent des droits sur le Boléro.«

Ach Deutsch­land!

»Die Schwie­rig­keiten Frank­reichs sind viel inter­es­santer als die Einfach­heit Deutsch­lands. Das Leben ist erst inter­es­sant, wenn man krank ist, weil man dann ans Leben denkt. Wenn man immer gesund und in Form ist, hat man weniger Inter­essen.«– Jean-Luc Godard

Eine junge Frau steht an einer Tank­stelle. Neben ihr ein Lama. Sie liest Balzacs »Verlorene Illu­sionen«. Deutsche Touristen halten, fragen, wo es denn hier zur Côte d’Azur gehe. Sie antwortet: »Marschiert doch woanders ein!«. Sie brüllen: »Scheiß-Frank­reich!«. Und sie seufzt: »Ach, Deutsch­land!«.

Tourismus und Terro­rismus. Godard, unser Reise­leiter durch Europa, macht ein ausge­spro­chen elitäres Kino: Er macht auch ein witziges Kino. Er macht anre­gendes Kino. Man muss kein einge­fleischter Godardist sein, um das zu verstehen, nur neugierig, und ein bisschen gebildet. Voll­s­tändig deko­dieren wird man es aber nie. Wozu auch? Mehr davon!

»Alle Filme, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, muss man dreimal schauen, um sie zu verstehen. Ich sage dies nicht aus Arroganz oder aus der Haltung eines Regis­seurs, der seinen Filmen ein zu entschlüs­selndes Geheimnis einge­schrieben hat. Sondern einfach, damit man die beiden Länder und ihre Grenze erfasst: das Land des Tons, das Land des Bildes und ihr Zusam­men­spiel. So erschließt sich einem Film­ge­schichte.«

»No Comment«. – Letzter Satz in Film Socia­lisme.

Zum Weiter­lesen: Antoine de Baecque, »Godard. Biogra­phie«, Ed. Grasset, Paris 2010, und Alain Badiou, »Lob der Liebe«, Passagen, Wien 2011.