Ungarn/F 2018 · 142 min. · FSK: ab 12 Regie: László Nemes Drehbuch: László Nemes, Clara Royer, Matthieu Taponier Kamera: Mátyás Erdély Darsteller: Juli Jakab, Vlad Ivanov, Evelin Dobos, Marcin Czarnik, Levente Molnár u.a. |
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Subversive Hinterfragung unserer Gegenwart |
»So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.« – Joseph Roth, Radetzkymarsch
László Nemes' letzter Film Son of Saul – 2015 mit so ziemlich allen Preisen bedacht, die zu vergeben waren – zeigt 36 Stunden im Leben eines jüdischen KZ-Häftlings im Vernichtungslager Auschwitz. Mit einer Kamera, die über zwei Filmstunden auf Armeslänge vor dem Gesicht oder hinter dem Protagonisten positioniert war und das Geschehen dem Zuschauer nur verschwommen zeigte, war das Gezeigte gerade durch das Ungezeigte nicht nur fassbar subjektiv, sondern auch unfassbar grausam.
Auch in Nemes' neuem Film Sunset ist die Kamera ganz subjektiv, ganz nah bei seiner grandiosen Hauptdarstellerin Juli Jakab, die die junge Írisz Leiter darstellt. Doch wir befinden uns dieses Mal nicht im Jahr 1944 in Auschwitz, sondern 31 Jahre zuvor in einem anderen Großreich, in einem der Zentren der kaiserlichen und königlichen Monarchie Österreich-Ungarn. Írisz kommt nach dem Tod ihrer Eltern 1913 aus Triest nach Budapest zurück und sucht in der ehemaligen Hutmanufaktur ihrer Eltern Arbeit als Hutmacherin. Dabei beginnt sie nicht nur zu ahnen, was ihre Eltern bewogen haben könnte, damals Budapest zu verlassen, sondern auch, dass sie einen Bruder hat. Doch Írisz entfaltet sich auf ihrer entrückt kriminologischen Suche nach der verlorenen Zeit nicht nur ihre eigene persönliche Geschichte und Identität, sondern sie stößt auf ihren Streifzügen durch Budapest auch auf Anzeichen, die das Ende des nach Napoleon zweiten großen „europäischen Versuchs“ ankündigen.
Denn in dem opulent ausgestatteten und von Son of Saul-Kameramann Mátyás Erdély brillant auf 35mm gebannten Budapest sieht Írisz die Verbindungen, die das Habsburger Kaiserhaus nach Budapest unterhält, sieht sich selbst von Spiegeln umgeben immer wieder traumwandelnd in schwelender Dekadenz, deutet die notorische Erwähnung von jüdischen Namen auf Antisemitismus hin, schürt eine Anarchistengruppe revolutionäre Gelüste, die das Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo und damit den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorwegnehmen.
Nemes wurde – anders als bei Son of Saul – von vielen Seiten für diese subjektive, assoziative Wahrnehmung und Vermengung von Politik und Privatem kritisiert; ihm wird vorgeworfen, dass er es sich zu einfach gemacht habe, das stilistische Mittel der »meta-subjektiven« Kamera von seinem ersten Film nun auch in seinem zweiten Film, der mit gänzlich anderen, erheblich komplexeren, politischen Vorzeichen operiert, anzuwenden.
Für mich ist das Gegenteil der Fall. Gerade durch dieses stilistische »Skalpell« funktioniert Sunset wie eine Blaupause für unser »Europa 3.0«, denn so wie wir in Sunset das Ende nur ahnen und subjektiv entschlüsseln können, so können wir auch unser gegenwärtiges Europa und seinen Status nur über die endlos vielen Facetten einer politischen und privaten Subjektivität »erahnen«. Wirklich wissen wird erst die Zukunft.
Nemes' Ahnung eines Endes, von dem ja nur wir wissen, dass es ein Ende ist, episch über zweieinhalb Stunden erzählt, erinnert mich immer wieder an andere filmische Großerzählungen, die vom Ende eines Zeitalters und damit verzwirbelten Lebenslinien erzählt haben: an Axel Cortis Radetzkymarsch, an Kubricks fantastischen Barry Lyndon oder Ciminos wahnsinnigen Heaven’s Gate. Und so gegenwärtig wie diese Filme ist auch Nemes' Sunset. Denn so wie Corti mit Joseph Roth, wie Kubrick und Cimino, erzählt auch Nemes seine Geschichte in einer luziden, fast schon wahnwitzigen Selbstverständlichkeit, erzählt von einem europäischen Vorgänger, der vielleicht mehr Europa war, als es unser Europa heute ist oder je sein wird. Und der über einen flirrenden, sogartigen Abstieg in einen Alptraum auch zeigt, wie schwer es ist, aus all der Subjektivität klar zu erkennen, wie nah oder real das Ende ist. Damit klopft Nemes nicht nur die morschen Türen der k.u.k.-Monarchie ab, sondern auch die unserer verwurschtelten europäischen Gegenwart, spiegelt das eine im anderen und hinterfragt beides subversiv und doch poetisch.
Dabei ist Nemes' Film von einer derartigen Intensität, dass seine Bilder auch jetzt noch, mehr als ein halbes Jahr, nachdem ich sie gesehen habe, in meinem Kopf brennen wie ein böser, verführerischer Sonnenuntergang. Was für ein grausam schöner Film, was für ein blendend erhellender Alptraum!
»Ich weiß noch, wie es heller wurde, wie die Wände schimmerten und wir ins Freie fuhren. Wir hatten alle das beunruhigende Gefühl, dass uns etwas Außerordentliches bevorstehe. Wir waren ernst und blickten zu den Fenstern hinaus. Jede dachte im Stillen darüber nach, was da kommen könne. Man kann sich leicht vorstellen, daß nicht eine einzige mit ihren Vermutungen auch nur im Entferntesten an die ungeheuerlichen Überraschungen heranreichte, die unser harrten.«
Frank Wedekind: »Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen« (1903)
Sie wirkt wie eine gute Freundin der Fanny zu Reventlow, wie eine Schwester von Kafkas K., ein wenig hat sie von Lewis Carrolls Alice, doch das Wunderland, das sie mit ihren großen klugen, doch staunenden Augen, die immer wieder schreckensgeweitet noch weiter aufgerissen sind, erforscht, das ist ein von Anfang an vergiftetes Labyrinth, morbide, und dem Tod geweiht, zum Untergang bereit, zum Selbstmord aus Angst vor dem Tode.
Jene Irisz, die Hauptfigur, die fast die gesamte Dauer von Sunset im Bild ist, weil ihr die Kamera auf Schritt und Tritt folgt, kommt wie mit einer Zeitmaschine von ganz woanders hierher, und ist dort, wo sie ankommt, dann Insider und Außenseiterin zugleich.
Sie ist ständig in Bewegung, getrieben und taumelnd, aber zugleich entschlossen und nicht zu stoppen. Sie ist nicht zu fassen. Ihre Antriebskraft überwindet alles, die Etiquette des für eine junge Dame
Schicklichen, die Konventionen der Gesellschaft und die Furcht. »Sie sind genauso trotzig wie er«, vergleicht sie einmal jemand mit ihrem verschwundenen Bruder.
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Der Regisseur beschreibt Irisz im Presseheft als eine »Protagonistin, die teilweise von einem Geheimnis umgeben ist und deren Handlungen die Zuschauer immer wieder bewerten und neu beurteilen müssen.
Bis sie an einem Punkt im Film sogar eine Figur von unbekannter Dimension wird, so wie eine eigenwillige Johanna von Orléans Mitteleuropas.«
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Das ist nicht ganz falsch. Ganz richtig ist es aber auch nicht. Zumindest wenn man glaubt, dass Johanna von einer »Mission« erfüllt und einer Überzeugung getragen war. Trotzdem fehlt auch ihr, wie uns Zuschauern, der Überblick. Sie ist allein und verloren in ihrer Welt. Einer Welt, die sie vergeblich zu verstehen versucht. Sie kann die Informations-Puzzlesteine auch nicht zusammenfügen. Das macht den Film zu einem Paranoiathriller. Irisz scheint zu spüren, dass diese Welt an der
Schwelle zu einem fundamentalen Umbruch steht. Nie erscheint Hoffnung auf ihrem Gesicht. Sie will nur ihre Suche erfolgreich vollenden; diese Suche nach den Ursprüngen der Familie lässt sie durch eine Welt am Rande des Chaos mäandern.
Es ist der Anfang vom Ende der Welt.
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Dieser Film ist so realistisch, wie ein Roman von Kafka oder ein Song von Lana del Rey. Insofern liegen alle falsch, die Sunset mangelnde historische Akkuratesse vorwerfen. Denn dieser Film ist viel präziser, als die Buchhalter ahnen.
Das 20. Jahrhundert definiert unsere Gegenwart. Zugleich ist es ein Mysterium, in seiner Selbstzerstörung besonders. Sie ist in Fakten schon gar nicht zu erfassen. Diese Ahnung der Kapitulation der Fakten vor der Macht
der Realität ist kein Widerspruch, sondern eine Bedingung unserer Faszination für Geschichte. Sie ist längst zu Poesie geworden, zu besserem Regietheater.
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Mit seinem KZ-Drama Son of Saul sorgte der junge Ungar László Nemes vor vier Jahren für Furore. Der Film gewann einen Oscar und viele weitere Preise, zugleich spaltete er, man konnte ihn obszön finden – an Nemes' stilistischer Meisterschaft zweifelte aber keiner.
Man sollte nun aber nicht den Fehler machen, diesen Film mit Son of Saul zu vergleichen, oder beide Filme aneinander zu messen. Man tut damit beiden Filmen keinen Gefallen. Eine Parallele ist offenkundig: Die Methode, den Blick des Zuschauers ganz an das Treiben einer Hauptfigur zu binden, ihn auf Gedeih und Verderb auf ihr Niveau zu setzen, und dies durch eine Kamera, die entfesselt ist, aber zugleich gekettet an das, was diese Figur erlebt.
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Die Mittel sind romantisch, modernistisch und latent hysterisch. Es gibt keine göttliche Perspektive. Stattdessen Fragilität des Blicks, Fehlen von Information. Es gibt keinen Plot. Keine Narration mit Worten, Charakterentwicklung, mit Motivation und Katharsis. Dieser Film ist die Kapitulation aller Drehbuchbesserwisser vor dem reinen Kino. Sunset ist ein Film der Atmosphäre, in die wir uns fallen lassen müssen, in die wir eintauchen müssen, um zu verstehen. Trotz des Unbehagens, das fünfzig Jahre schlechte Filme in unseren Gemütern gesät haben. Dieser Film ist nicht bequem, bei aller Schönheit und Fühlbarkeit der Dekadenz, er ist so erdrückend wie faszinierend.
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Eine Traumnovelle, ein filmischer Bewusstseinsstrom. Wie Arthur Schnitzlers Roman folgt der zweite Spielfilm von László Nemes einer jungen Frau aus besseren Kreisen durch einen phantasmagorischen Taumel zwischen Wirklichkeit und Wahn, sozialem Druck und innerem Instinkt. Ebenso Handelnde wie Getriebene scheint ihr Weg durch das Österreich-Ungarn kurz vor dem Ersten Weltkrieg ständig an Tempo und Intensität zu gewinnen – eine großartig choreographierte, souverän inszenierte Achterbahnfahrt durch Kulissen der Kulturgeschichte und ein Film, der sein Publikum aus der Komfortzone der Erzählstandards des Historienfilms reißt.
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Der Sonnenuntergang des Titels ereignet sich gleich zu Beginn. Noch bevor der Film richtig anfängt, sehen wir ein spätimpressionistisches Gemälde. Es zeigt eine prachtvolle Straßenecke im Stil der Belle Epoque. Langsam verfärbt es sich vom hellen Mittagsblau in ein warmes Abendrot, bis das Bild komplett nachtschwarz wird. Dazu läuft ein Stück aus Schuberts »Der Tod und das Mädchen«. Dann erscheint der Titel. Dass dieser auch metaphorisch gemeint ist, macht bereits die folgende Inschrift unzweideutig klar. Sie setzt mit »Budapest im Jahr 1913« Zeit und Ort präzis und verweist darauf, 1913 sei Ungarns Hauptstadt zur zweitwichtigsten Metropole des Kaiserlich-Königlichen Habsburgerreichs aufgestiegen, sei Schwester und Rivalin Wiens geworden. Dies setzt von Beginn an gewisse Erwartungen: Sunset und die Nacht, die in den ersten Sekunden anbricht, muss auch den Zusammenbruch des Alten Europa meinen, jenen Moment, als »in Europa die Lichter ausgingen«, wie ein berühmtes Zitat den Ausbruch des Ersten Weltkriegs charakterisiert. Fünf Jahre später wird der Weltkrieg verloren und das Habsburgerreich durch Revolutionen hinweggefegt sein, die Monarchie der Dynastie nach fast 1000 Jahren aufgehört haben zu existieren. Von Anfang an liegt daher bei aller Schönheit kaum Idyllisches, eher eine bedrohliche Stimmung und die Ahnung bevorstehender Umbrüche über allem. Geheimnis und Nervosität liegen in der Luft. Fast alles hier ist unsicher.
Es beginnt mit schönen, sofort auf angenehme Weise rätselhaften Bildern: »Lüften wir den Schleier«, sagt eine weibliche Stimme, und man sieht nun minutenlang die Großaufnahme einer jungen Frau. Sie ist in einem Hutkaufhaus – dem »Kaufhaus Leiter«, offenbar das erste Haus am Platz – probiert Hüte an, scheint aber mit den Gedanken woanders; in die Ferne schweifend; sehnsuchtsvoll; abgelenkt. Tatsächlich: »Ich bin wegen der Stelle gekommen«, sagt sie. Und wird Zelma vorgestellt, einer Art Oberaufseherin über die Angestellten. Im folgenden Gespräch stellt sich heraus, dass die junge Frau Irisz Leiter heißt und die Tochter des Gründerehepaares ist, das vor vielen Jahren bei einem mysteriösen Brand ums Leben kam. Bald erfährt Irisz auch von einem Bruder, von dem sie bisher nichts wusste. Dieser scheint als Anarchist im Untergrund die Weltrevolution herbeizubomben.
Irisz bekommt die Anstellung zunächst nicht. Man begegnet ihr keineswegs mit offenen Armen, eher mit Abneigung und Misstrauen. Die Fragen stehen im Raum, wie ihre Ansprüche: Warum kommt sie überhaupt zurück? Fordert sie Wiedergutmachung? Was will sie? Von wem? Etwas Unterschwelliges erfüllt die Atmosphäre, Unerbittlichkeit und Bedrohung stehen im Raum, Barbarei scheint unterschwellig immer präsent, und schon hier erfasst der Regisseur, der auch das Drehbuch gemeinsam mit seiner französischen Son of Saul-Co-Autorin Clara Royer schrieb, sehr präzis den Zeitgeist um die Jahrhundertwende, wie sein Film auch unübersehbar als Bestandsaufnahme unserer Gegenwart lesbar ist. Irisz scheint eine Bedrohung zu sein für das Schweigekartell, das hier dominiert, das Einverständnis, nicht über das zu sprechen, was offenbar passiert und unaussprechlich ist. Ein bisschen erinnert dieses Kaufhaus damit an das »Schloss« in Kafkas Roman und Irisz an Kafkas Helden K. Wie dieser wird auch Irisz nicht lockerlassen, sie wird hartnäckig um das Kaufhaus kreisen, Präsenz zeigen, und im Laufe des Films ihren Einlass erzwingen. Sie will den Weg, der ihr vorbestimmt zu sein scheint, zu Ende gehen. Sie wird dabei auf ihren Bruder treffen, geheimnisvollen Menschen und seltsamen Ritualen begegnen, Verrückten und Autoritären, Gewalt und einer hysterischen Gesellschaft. Irisz wirkt fragil und verwundbar, zunehmend aber auch entschlossener. Als ob sie wüsste, dass es kein Zurück geben kann.
Die bislang unbekannte Juli Jakab spielt jene Irisz in einem Auftritt, den man wahnwitzig nennen muss in seinem Mut, seiner Konsequenz und Virtuosität, mit der diese Darstellerin ihr Publikum durch den Film führt und jede Schwierigkeit meistert. Jakabs Irisz lächelt wenig. Ihre großen, weit geöffneten Augen scheinen diese Welt zu durchdringen und auf den Grund der Dinge zu blicken, der sich als Abgrund entpuppt.
Etwas Surreales geht von dieser Figur aus, das den Schluss nahelegt, diese Irisz, wie alles hier, nicht (abbild-)realistisch zu verstehen. Die Figuren in diesem Film sind eher Geister – und sie sind Ideenträger. Sie stehen für Klassen, Haltungen, Lebensweisen. Irisz ist unter ihnen die Offenste. Eine Projektionsfläche, aber auch eine ewige Wanderin. Der Weltgeist? Wenn sie die Kleidung wechselt, und gegen Ende des Films wie ein Junge aussieht und wie einer der Anarchisten, und wenn sie dann, in der letzten Szene des Films, in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs auftaucht, dann könnte man dieser Ansicht sein.
Irisz flaniert durch einen Parcours, der mit Versatzstücken der Kulturgeschichte bestückt ist: Das Kaufhaus, der Boulevard, der Massenaufmarsch, das Treffen mit der Gräfin, der Empfang der Oberschichten, der Unterschlupf der Anarchisten, die Viertel der Unterschichten, das Siechenhaus, der Besuch des Erzherzöge, die Fahrt zum Hof nach Wien, die revolutionären Unruhen, der Weltkrieg. Die Realität in diesem Film ist keine organische Einheit mehr, und darum auch nicht interpretierbar und verstehbar. Es ist das Eindringen der Kontingenz, das verstört und schockiert; deren Fluss scheint der gesamten Fiktion ihre Logik aufzuzwingen. Und um dieses Kontingenzerfahrung geht es vor allem.
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Sunset ist ein Kunstwerk wie ein Trance; Intensitätssteigerungskino, gedreht auf 35mm und in einer bereits in Son of Saul von manchen als »Künstlichkeit« empfundenen genuin eigensinnigen Ästhetik. László Nemes vollzieht den Bruch mit den visuellen Konventionen und zwar willentlich. Er überträgt die visuelle und ästhetische Methode seines preisgekrönten KZ-Dramas Son of Saul auf andere Welt: Wieder minutenlange Einstellungen. Wieder eine intensive, schwebende, rastlose Kamera (Matyas Erdely), die ihrer Hauptfigur im Rücken, konstant auf den Fersen klebt, sie nicht aus dem Auge lässt. Wieder das atemlose, permanent bewegte Mäandern in Großaufnahmen und bestenfalls Halbtotalen, nie Totale, nie Überblick und Orientierung, immer enge Rahmen, Desorientierung. Das alles noch verdoppelt durch eine oft überlaute Tonspur, eine gelegentlich atonale Musik, durch Dialoge, die nur in Fetzen dargeboten werden, abbrechen, unvollendet bleiben, keine Informationen liefern, sondern desinformieren, oft zu geheimnisvollem Flüstern und Murmeln werden, und damit den Eindruck des Irrealen und Paranoiden verstärken.
Der sehr besondere Taumel, in den man durch dies alles hineingezogen wird, ist der Taumel eines Tanzes auf dem Vulkan, des labilen, von inneren Konflikten geschüttelten Europas 1913, das erst im Rückblick als ein Vorkriegseuropa sichtbar ist. So zeigt der Film uns eine überaus zivilisierte, liberale Welt, die unter einem kaum greifbaren Schmerz leidet, einem Schmerz, der keinen realen Grund hat, mehr einem Überdruss gleicht. Ein Rückzug in Fatalismus und Schicksalsergebenheit
verbindet sich mit der Sehnsucht, aus diesem ungreifbaren Druck ausbrechen zu können.
Es war die Stunde der Selbstzerstörung Europas. Es ist die Welt vor der Vernichtung, die Nemes zeigt. Wie Hanekes Das weiße Band kann man Sunset als Prequel zu Son of Saul, also zur
Shoah begreifen. Es ist der Beginn des Abstiegs in den Maelstrom der Selbstvernichtung des alten Europa. Zugleich aber ist Irisz geradezu der Prototyp einer »displaced person«, einer, die heimkehrt nach der großen Vernichtung – »dem Brand«, wie es im Film heißt, wohl kaum zufällig unter Anspielung auf den Ursprung des Wortes »Holocaust« – die Überlebende, und zusammenklaubt, was vom Alten noch geblieben ist.
Vor allem aber zielt dieser Film auf die Parallelen zur heutigen »geistigen Situation der Zeit« und einer europäischen Öffentlichkeit zwischen Demagogie, universalem Wahrheits-Zweifel und Sehnsucht nach (zu) einfachen Sicherheiten. Der Vorschein kommender Dinge, die dunkle Ahnung von unglaublichen Ereignissen, die niemand sich vorstellen konnte, die aber mit Gewissheit geschehen und das Bestehende erschüttern mussten, erfüllt dieses visuelle Abenteuer und verbindet es mit unser Gegenwart.
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Die Handlung mit ihrer Entfesselung des Chaos hat aber noch andere Aspekte. Denn dieser Paranoiathriller ist mit Zitaten aus dem Fin de Siècle und der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts gepflastert: T.S.Eliots »The Waste Land« wird zitiert, und neben Spuren von Kafka, Schnitzler und Musil, von Joseph Roths »Radetzkymarsch«, seiner »Kapuzinergruft«, den Romanen von Heinrich und Thomas Mann, ist dies offenkundig auch inspiriert von Frank Wedekinds Novelle »Mine-Haha oder Über
die körperliche Erziehung der jungen Mädchen« von 1903. Bereits 2004 wurde sie mit Unschuld von der Französin Lucile Hadzihalilovic verfilmt, hier liefert sie Ideen. Wie die von dem Mädchen, das »auserwählt« wird, und dann einem dekadenten Hof aus Erwachsenen zugeführt. Hier erfasst Sunset Perversion, Ausschweifung und Dekadenz als die Säulen der bürgerlichen
Gesellschaft.
»The horror of the world hides beneath these infinitely pretty things«, sagt jemand zu Irisz.
Die »Welt von gestern« (Stefan Zweig) ersteht hier nicht in historischer Korrektheit wieder auf, sondern eher als kubistisch dekonstruiertes labyrinthisches Stationendrama, das die Vergangenheit aus ihrem Schneewittchensarg reißt und entfesselt. Sunset ist vor allem ein Werk des phantastischen Kinos, ein Paranoiathriller – formal großartig, und unerschöpflich in seinen Anregungen und produktiven Irritationen, gärt dieser Film noch viele Stunden in den Köpfen des Betrachters weiter.
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Der Anfang vom Ende der Welt. Dieses Ende dauert an. Sein erstes Kapitel ereignete sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Das zweite in den Vernichtungslagern im Osten. Das dritte in Hiroshima. Das letzte, die Vernichtung der Zivilisation, steht noch aus. Die Zeichen aber sind da. Wir weigern uns, sie zu sehen. Dieser Film breitet sie vor uns aus. Sein Geheimnis ist die Botschaft.