Deutschland 2024 · 182 min. · FSK: ab 16 Regie: Matthias Glasner Drehbuch: Matthias Glasner Kamera: Jakub Bejnarowicz Darsteller: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek u.a. |
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Wir leben wie wir sterben, allein... | ||
(Foto: Port-au-Prince) |
Ach, wann gibt es das schon, dass einem in einem drei Stunden langen Film immer wieder der Atem stockt, weil der Regisseur einen völlig anderen Weg geht als erwartet? Dass er Schwerpunkte setzt, die einen vor den Kopf stoßen und dann umhauen, weil einfach Mut dazu gehört, sich über gängige Konventionen und Erwartungshaltungen hinwegzusetzen und dann doch damit zu überzeugen? Szenen, die im ersten Moment so bizarr, ja fast grotesk scheinen, um dann doch in ihrer Stimmigkeit zu überzeugen?
Ganz selten. Und noch seltener ist es, dass man sich über so einen Film dann auch noch wunderbar streiten kann. Mit allem und jedem. Ein Film, der polarisiert und doch überzeugt. Auf der letzten Berlinale hat es für diesen Film immerhin den Silbernen Bären gegeben, hat Sterben von Matthias Glasner genau das geschafft, von dem ich geschrieben habe.
Das ist umso erstaunlicher, als es in diesem aufregenden Film um außergewöhnlich sperrige Themen geht. Um dysfunktionale Familienverhältnisse, um die Sehnsucht nach Selbstmord, um klassische Musik, Nichtlieben statt Lieben, vor allem aber um das Sterben in uns allen und die Frage, warum wir nur alle so furchtbar sind, denn das sind wir ja, wenn wir einmal ganz ehrlich in uns hineinschauen. Die Antwort hat schon Manès Sperber gewusst, der seinem Opus Magnum Wie eine Träne im Ozean die Einsicht voranstellte: »Um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.«
Genau dieser Anweisung folgt Matthias Glasner. Er erzählt mit Anleihen der Geschichte seiner eigenen Familie von den vielen Todesfällen, die jeder von uns erleidet, von den Narben des Verzichts; im Elternhaus, im Beziehungshaus und im Arbeitshaus und mit einem überragenden Ensemble bohrt sich Glasner in die Tiefen und Untiefen gleich mehrerer Leben. Er folgt dem Dirigenten Tom (Lars Eidinger), seiner Schwester Ellen (Lilith Stangenberg), ihrer Mutter Lissy (Corinna Harfouch), dem Komponisten Bernhard (Robert Gwisdeck), dem Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld), Ronja (Saskia Rosendahl) und Liv (Anna Bederke). Er folgt ihnen völlig unausgewogen, unausgeglichen, und vertieft die Akzente, wie es ihm gefällt, wie es die Geschichte, die hier erzählt wird, gerade braucht. Dazu gehört ab Minute 100, gespielt von Corinna Harfouch und Lars Eidinger, einer der großartigsten und längsten Mutter-Sohn Dialoge der letzten Jahre – für den sich dieser Film allein schon lohnt –, und zwanzig Minuten später eine Sexszene, so wild und überraschend und schmerzvoll und großartig und völlig deplatziert, wie so vieles in diesem wunderbar traurigen Film.
Denn natürlich kann man sich gerade an der Sexszene und der Rolle, die Stangenberg mehr taumelnd als aufrecht inszeniert, stören, an vermeintlichen Klischees, an der grotesken Karikatur eines Komponisten, an der spätpubertären Hauruck-Kritik an bildungsbürgerlichen Verhältnissen. Aber Herrgott noch mal: man muss sich erst einmal trauen, das so zu inszenieren und dabei auch noch Gefühle zu evozieren. Und vor allem den Mut haben, Ellen während eines Konzerts ihres Bruders Tom sich das Leid am Leben auskotzen zu lassen. Wem das zu aufdringlich und platt sein sollte, der hat noch nicht gelebt, der hat vielleicht nie den Mut gehabt, sich seinen eigenen Abgründen zu stellen.
Und es ist dann auch nicht nur die wütende Kritik an bestehenden Verhältnissen, es ist auch eine kluge, differenzierte Analyse von Mutter-Kind-Dyaden, Liebesirrungen und Lebenszweifeln, die zum einen über großartige, furiose Dialoge ausgefochten werden, zum anderen aber auch über die Musik. Und vielleicht ist es gerade diese Ebene, die ein weiterer Grund ist, Sterben unbedingt zu sehen. Denn wann gibt es das schon einmal, dass sich ein Regisseur die Zeit nimmt, mit einem Gegenwarts-Komponisten klassischer Musik zusammenzuarbeiten, mit Lorenz Dangel, und über eine Komposition – die dem Film übrigens seinen Titel gibt – dem ganzen Film seine eigentliche Struktur zu geben. Dangel spricht in einem Filmdienst-Interview ausführlich über diese unkonventionelle Herangehensweise, die nicht nur einen ungewöhnlichen Cliffhanger etabliert (wird die Aufführung der Komposition gelingen oder nicht?), sondern auch die Frage stellt, wo in der Musik Kitsch anfängt und die Musik als Kunst aufhört zu existieren.
Offensichtlich stellt Glasner diese Frage nicht nur für die Musik, sondern auch für seinen Film, der auf einer Metaebene genau das durchexerziert, was Tom als Dirigent mit der Komposition seines Freundes Bernhard versucht. Denn was hier als grundsätzliche Frage für Bernhards Komposition gestellt wird, ob mit oder ohne Chor, mit oder ohne Gefühl, mit Kitsch oder ohne Kitsch, dem Narrativ des Komponisten oder dem des Dirigenten folgend, genau diese Frage stellt Glasner auf einer großartigen Metaebene auch seinem Film, spielt er genauso probeweise wie seine Hauptdarsteller ihre Musik, die Genres in seinem Film durch und ist deshalb das exaltierte Melodrama, das von einigen Kritikern als die Schwäche des Film deklassiert wird, genauso wichtig, um mit dem Zuschauer herauszufinden, was für ihn und die erzählte Geschichte am besten funktioniert. Und natürlich, um Metaphern nicht brav zu reproduzieren oder sie zu verballhornen, sondern sie einmal ganz wörtlich auszulegen: jemanden bzw. in diesem Fall einer Beziehung »auf den Zahn zu fühlen« oder der Standardredewendung »das kotzt mich an« einen neuen Anstrich zu verleihen.
Das ist am Ende aufregendes, ganz seltenes, partizipatives Kino, das nicht nur berührt, sondern auch nachdenklich macht, das vor den Kopf stößt und vereinnahmt. Ein Film wie drei Therapiestunden, nach dem man – wie nach jeder guten Therapie – als anderer Mensch den Raum verlässt. Kurzum und auch eine letzte Wiederholung nicht scheuend: großes Kino.
Die Zuschauer von Sterben teilen sich in drei Gruppen: Etwa gleich groß ist die Zahl derjenigen, die den Film in jeder Hinsicht super finden, und dann derjenigen, die finden, der Film sei zwar ganz gut, entgleite dem Regisseur aber nach etwa eineinhalb Stunden: »Ab einem bestimmten Punkt gerät Sterben ... dann aus der Spur. Spätestens wenn Toms Schwester Ellen ins Spiel kommt. Das liegt nicht an Lilith Stangenberg, es ist eine Schwäche von Inszenierung und Drehbuch« schreibt Peter Körte in einem tollen Artikel in der FAS. Oder, nicht wirklich satisfaktionsfähig im TIP: »Mit dem Auftritt von Ellen gerät 'Sterben' aus der Spur. Eine halbe Stunde muss man dieser Figur nun beim Saufen und Vögeln, Singen und Schreien zusehen, was den Film so sehr entgleisen lässt, dass auch die starken Szenen, die noch kommen, ihn nicht mehr ganz zurück in die Spur bringen.« Wenn man weiß, dass das Michael Meyns geschrieben hat, bekommen vielleicht manche gerade darum Lust auf den Film.
Die dritte Gruppe ist kleiner. Zu ihr gehöre ich. Es ist die Gruppe für die der Film erst nach eineinhalb Stunden und erst mit dem Auftauchen dieser von Stangenberg gespielten Ellen seine Richtung und überhaupt seine Gestalt bekommt. Erst im Licht dieser Szenen, des Gesangs und der Bar-Momente Stangenbergs, der wahnwitzigen Zahnarztbehandlungsraumszenen versteht man, dass Sterben eben wirklich kein harmonieseliger Familienzusammenführungsfilm und keine xte bourgeoise Moralpredigt über den Wert der Liebe und der Kinder ist. Sondern eine Abrechnung damit und mit aller Kunstheiligkeit, – vielleicht wider Willen des Regisseurs – ein Blick ins Schwarze Loch unseres Daseins. Da muss man lachen; denn was bliebe sonst?
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Wahrscheinlich ist dies ein Männerfilm. Das zeigt auch die Männernominierung durch die deutsche Filmakademie. Wenn man mal von Corinna Harfouch absieht, wurden alle interessanten Frauen bei diesem Film nicht nominiert, die Männer aber schon.
Im Fall von Saskia Rosendahl finde ich das zwar bedauerlich, aber verstehe es noch, denn ihre Rolle der Assistentin und Teilzeitgeliebten des Lars-Eidinger-Dirigenten, die sehr liebenswert ist, aber doch genau so spießig und langweilig, dass er sie sich vom Leib halten kann (glaubt er), ist recht klein, und dies ist nach allen großartigen Rollen Rosendahls, selbst in schlechten Filmen (Werk ohne Autor), ein eher entbehrlicher Auftritt.
Aber Lilith Stangenberg hätte man nicht übersehen dürfen!
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Aus meiner Sicht spricht es allein schon für diesen Film, dass er manche Leute aggressiv macht. Siehe oben. So richtig aggressiv. Fast unerwartet in manchen Fällen – etwa ein sehr geschätzter Redakteur, der mir aber ein Interview zu dem Film absagte mit der Begründung, er fände ihn »so richtig scheiße« und darum wolle er das Interview nicht im Blatt.
Auch ich habe mich zunächst schwer getan. Als es losging mit einer Corinna Harfouch, die gleich in der ersten Szene buchstäblich in der Scheiße sitzt, also in einem entsprechenden Ersatz vom Production-Design-Department und schlimmer auf hässlich geschminkt ist, denn je, da dachte ich im Kino: Au weia, wenn das schon so losgeht, das halte ich keine drei Stunden aus. Schauspieler, bei denen Hässlichkeit und Ekel anstatt ihres Spiels die Authentizität beglaubigen sollen, finde ich unerträglich. Aber so ist der Film gar nicht, von diesem buchstäblichen Tiefpunkt bewegt er sich in großartige Höhen.
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Zwei Szenen gibt es in diesem Film, die man nicht so schnell wieder vergisst: In der einen sitzt Zahnarzthelferin Ellen (Lilith Stangenberg) in einer Hamburger Spelunke und säuft sich mit dem neuen Zahnarzt (Ronald Zehrfeld), mit dem sie ein Verhältnis beginnt, einen an. Der fällt vom Stuhl, ihm bricht ein Zahn halb heraus und darum führen die beiden an Ort und Stelle eine blutige Notoperation ohne Narkose, aber im Vollrausch durch.
In der zweiten Szene erklärt Ellens
sterbenskranke, aber eisern ruhige Mutter Lissy (Corinna Harfouch) ihrem Sohn Tom (Lars Eidinger), warum er »ein Unfall« war, und zwar doppelt: Zuerst ungewollt und dann als Baby auf den Boden geworfen, weil sie seine Schreierei nicht mehr aushielt.
Beide Momente sind brutal ehrlich und darin grotesk durchgeknallt, sie sind ausgedacht und wahrhaftig. Genau von dieser Spannung lebt der Film.
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Von seinem Titel sollte man sich jedenfalls nicht täuschen lassen: Dieser Film ist trotz seines Titels eine Komödie. Wer ihn zu ernst nimmt und wer überhaupt alles wörtlich nimmt, verfehlt die Ästhetik; verfehlt auch den Spaß, den dieser Film machen kann, und verfehlt nicht zuletzt die Intention seines Regisseurs.
Denn alles, was man lesen und hören kann über Sterben, ist bestenfalls die halbe Wahrheit und führt mindestens zum Teil in die Irre: Ja, dies ist
unter anderem auch ein autobiografischer Film, der uns etwas über die Person des Regisseurs und Drehbuchautors Matthias Glasner erzählt, vermutlich auch über seine Eltern, vermutlich auch über sein gestörtes Verhältnis zu seiner Schwester, vermutlich auch über seine Kunstauffassung.
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Aber zugleich ist dies ein Film, der eine völlig fiktive, durchgeknallte überhitzte Geschichte über eine dysfunktionale Familie und ein heutiges Deutschland am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt. Der uns zeigt, wie klarsichtig und wie spielerisch Glasner auf das alles, auf sich selber und diese keineswegs leichten Konstellationen blickt. Wie sehr er sich über einen Künstler lustig machen kann, der ihm vielleicht ähnlich ist, vielleicht auch nicht; der jedenfalls seine Kunst mit jeder Faser seines Körpers und Geistes 120-prozentig geradezu fanatisch und ohne sozialen Sinn egomanisch betreibt. Und über einen zweiten Künstler, den Dirigenten Tom, der an einer Komposition mit dem Titel »Sterben« arbeitet und zwischen Liebesangst und Familiensehnsucht, zwischen Empathie und Kälte zum Ersatzvater für den Sohn seiner Ex-Freundin wird. Man sollte die beiden Künstler dieses Films keineswegs allzu schnell mit Matthias Glasner verwechseln.
Dass dieser Film vor allem eine – groteske, dunkle – Komödie ist, macht vielleicht kein anderes Kapitel dieses in fünf Kapiteln geordneten Films besser klar, als das über die Schwester Ellen. Lilith Stangenberg ist nicht nur die allerbeste Darstellerin, sondern ihre Ellen die interessanteste, weil überraschendste Figur des Films. Während ansonsten manchmal Tragik und Schwere hier überhandnehmen, bleibt ihre Figur immer leicht und die Szenen witzig bis zur Albernheit – sie zeigen, wie man auch manche Momente von Corinna Harfouch und Robert Gwisdeck, der einen so narzisstischen, wie sozial desorientierten Komponisten spielt, betrachten müsste.
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Jeder stirbt und jeder kämpft hier auf die eine oder andere Weise ums persönliche Überleben, auch wenn er sich die meiste Zeit in einem betäubenden Zustand befindet. Das Sterben des Films ist also kein bestimmter, sondern ein Dauerzustand.
In vielen Szenen ist Sterben ganz nah an der allgemeinen deutschen Wirklichkeit. Im »Seelennotstandsgebiet« der Republik, wie es die FAZ jetzt genannt hat.
Mit einigen außergewöhnlichen Dialogen und eigentümlichen Charakteren, die uns immer wieder an uns selbst erinnern, machen die Schauspieler Sterben zu einem Erlebnis, das uns einlädt, über unser eigenes Leben nachzudenken. Und über die Gesellschaft, die wir schaffen und in der wir leben müssen, ob wir es wollen oder nicht.
Wie ein buntes Puzzle aus vielen Teilen fügt sich alles zusammen, während wir die besondere Persönlichkeit jeder der Figuren
kennen lernen.
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Dies ist insgesamt ein sehr guter Film und ein überaus ungewöhnlicher Film. Jedenfalls für deutsche Verhältnisse. Dies ist keine Einschränkung, sondern eher eine Klarstellung, die deutlich machen möchte, dass dieser Film einfach etwas sehr Besonderes ist. Ich habe sichere Indizien dafür, dass Christian Petzold in der Berlinale-Jury am liebsten gar keinem deutschen Film irgendeinen Preis gegeben hätte, und es deswegen der Drehbuchpreis für Sterben das
einzige war, was irgendwie drin war.
Unbedingt zu loben ist die Kamera für diesen Film: Jakub Bejnarowicz.
»Kältestrom« und »Vergletscherung der Gefühle« – das hat man über die Filme von Michael Haneke gesagt. Man kann sie auch über Matthias Glasner sagen, allerdings mit einem großen Unterschied: Die Kälte erzeugt hier Hitze und Erregung und Exaltation, nicht Erstarrung.
Kälte wird in der Rezeption dieses Films jetzt oft betont. Das ist genauso falsch, wie dass gerne betont wird, dass Lars Eidinger und Corinna Harfouch die »Hauptdarsteller« dieses Films seien. Es fehlt hier
nämlich ein Drittel und das ist Lilith Stangenberg. Man muss sich schämen für die deutsche Filmakademie, bzw. ihre abstimmenden Mitglieder, dass sie das hier so vollkommen übersehen haben.
Wir alle sterben. Wie wir davor leben, müssen wir selbst herausfinden.