74. Berlinale 2024
Kurzkritiken |
Weltpremiere der restaurierten Fassung eines großen Klassikers, für die Martin Scorsese gemeinsam mit seiner langjährigen Editorin Thelma Schoonmaker auch die Farbbestimmung beaufsichtigte. Doch auch ohne dieses Techno-Upgrade ist dieser Film der vielleicht überraschendste und einer der besten Filme in Scorseses Œuvre und die erste Zusammenarbeit Scorseses mit Michael Ballhaus. Die doppel- und dreibödige Komödie ist Freudsche Himmel- und Höllenfahrt in einem, mit Charakteren, die unvergesslich sind (Paul, Marcy, Kiki, Tom, und natürlich Horst). Ein wilder Bildungsroman in einer geil fotografierten New Yorker Underground-Nacht und mit allen Leben, die wir ins uns haben, aber nicht trauen, auszuleben. Mehr als ein arteshot-Geheimtipp! – Axel Timo Purr
Alptraum in New York, Soho. Blonde Frauen mit Sexappeal setzen einem Bürohengst in weißem Anzug zu. Club »Berlin« mit wilder Punk-Disco in Käfigen. Hardcore-Schwule in einer Bar. Alptraumhaft: Der Protagonist kommt nicht mehr aus dem Viertel heraus, verliert sein Geld bei einer rasanten Taxifahrt, finden seinen Love Interest suizidiert vor. Schließlich endet er krachend als Gipsstatue direkt vor den Toren seiner Firma und stetzt sich zurück an seinen Computer. »Hallo Paul.« Das Leben als Büroangestellter ist weniger gefährlich, aber auch weniger aufregend. – Dunja Bialas
»Gegen das Erde Leid gibt es keinen Trost als den Sternenhimmel«, meinte einst Jean Paul. Eine Lektion, die Misa und Takatoshi nur widerwillig lernen. Misa leidet unter starkem PMS, Takatoshi kämpft mit einer Angststörung. Beide können in der stressigen Arbeitswelt Japans nicht bestehen und wurden vom Leben in einer kleinen Firma für Astronomie-Sets abgestellt. Es ist, als betreten sie eine andere Welt: Die Kolleg*innen sind freundlich und unterstützen einander. Langsam bringt die Routine des wenig fordernden Büroalltags eine wohltuende Ruhe in ihre Leben. Der beruflich bedingte Blick in die Sterne hilft ihnen, sich selbst zu erden und wie nebenher ihren Platz im Universum zu finden. Liebevoll und erholsam unzynisch erzählt ist Yoake No Subete ein Film über die Wichtigkeit der zarten zwischenmenschlichen Gesten. – Anna Edelmann
Josef Hader ganz groß. Oder besser: die marode, kleine Welt der österreichischen Provinz als Spiegel der verkommenen, großen Welt. Beziehungen, der Job, kaputte und heile Lebenslinien sind genauso untrennbar miteinander verbandelt wie die Komik und die Tragik in dieser mal zuckersüßen und dann wieder brutal-bitteren Melange, die nie lauwarm, dafür aber heiß unterkühlt serviert wird. Sarkastische Standortbeschreibungen einer Welt, die mit der Bissigkeit Thomas Bernhards formuliert werden und Birgit Minichmayr als Polizistin auf dem Land, die grandios um Leben und Liebe und so etwas Abstraktes wie Selbstbestimmung ringt. Und was für Dialoge: „Waren sie beim Arzt?“ „Nein. Ich war doch krank.“ – Axel Timo Purr
Weichgewaschener Cyberpunk. Schon klar, dass Trauern traurig macht und jeder sich von seinen Toten am liebsten noch einmal verabschieden möchte oder ihre Seele gleich ganz in einem neuen Körper sehen möchte. In den nahenden Zeiten der Singularität wird das kommen und in den großen Meisterwerken des Cyberpunk – man denke nur an Richard Morgans Altered Carbon und die maue Serienadaption – gibt es das schon. Piero Messina macht aus diesen Ideen leider nur ein unentschlossenes Bodyswitch-Melodram über das Leben mit toten Seelen, das sich mehr und mehr in seinen Verschachtelungen verirrt und dem man am Ende wünscht, sich selbst in einen neuen Körper aka Film zu reinkarnieren. – Axel Timo Purr
Nicht einmal das weiche Wasser höhlt den harten Stein. Mit hypnotisierenden Zeitlupen und einem wunderbaren Score lässt Victor Kossakovsky Steine, Berge und Ruinen tanzen und beobachtet, wie in Baalbek alte Monumentansammlungen aufgeräumt werden und ein alter Architekt über seine Sünden und Träume spricht. Das nimmt dem Film zwar etwas von seiner Kraft und erinnert für ein paar Momente an die Sendung mit der Maus, doch am Ende räumt Kossakovsky diese Assoziation beiseite, weil er mit seinen gewaltigen Bildern über die ewige Schönheit des Steins und antiker Architekturen klar macht, dass aller Beton nur schnöder Mammon ist, der durch Erdbeben und Kriege Müll ohne Vermächtnis wird. Die Antwort, warum wir heute Gebäude bauen, die nur noch 40 Jahr existieren, bleibt Kossakovsky in dieser installationsartigen filmischen Meditation allerdings schuldig. – Axel Timo Purr
Beckett lebt: Stilistisch makellos erzählt Yorgos Zois von Lebenden, Überlebenden, Liebenden und Entliebenden, die alle gleichsam am Leben leiden und nebenher am mysteriösen Autounfall einiger Beteiligter laborieren. Das erinnert vage an David Lynchs Lost Highway, ist aber im Kern klassisches absurdes Theater à la Samuel Beckett. Denn wie Zois immer wieder Szenen in die Länge dehnt, um seine Geister gleich noch eine Runde tanzen und denken zu lassen und sie sich dabei doch wieder und wieder im Kreis drehen zu lassen, ohne das spürbare Erkenntnisgewinne erkennbar wären, ist »Warten auf Godot« in Reinform, und damit fast schon grotesk aus der Zeit gefallen. – Axel Timo Purr
Die Schuhe der Toten. Die griechische Weird Wave ist eigentlich schon vorbei. Yorgos Zois legt aber im Carlos-Chatrian-Wettbewerb »Encounters« noch mal nach: Den nächsten Angehörigen folgen frisch Verstorbene wie deren Schatten-Geister. Sehen ihnen zu, wie sie trauern, treffen sich nachts in einer Limbo-gleichen Bar namens »Arcadia« zu einer Gruppenorgie. Ihr Kennzeichen: Sie können ihre Schuhe nicht ausziehen. Der Tod ist freudlos, absurd und alptraumhaft. Trist stimmendes Re-Enactment aus dem Totenreich, das vom anscheinend unauslöschlichen anthropologischen Pessimismus der Griechen kündet. Und sujetbedingt natürlich nichts mit der real-existierenden Gegenwart zu tun hat. – Dunja Bialas
Geliebte Teetrinkerin. Abderrahmane Sissako berichtet von der westafrikanischen Diaspora im chinesischen Guangzhou, vom Leben und Lieben in Chocolate City. Ein Film, der lange nicht weiß, wo er eigentlich hin will, der immer wieder schwer zu dechiffrieren ist, der zum einen von kontrollierter Liebe wie in Trần Anh Hùngs Geliebte Köchin erzählen will, dann aber zwischen Kitsch und Pathos auf halbem Weg steckenbleibt und mit den Gespenstern aus der Vergangenheit der beiden Hauptprotagonisten dann viel zu wenig anzufangen weiß. Dennoch ist Sissako hoch anzurechnen, von etwas zu erzählen, von dem in Europa niemand etwas weiß. Und das auf eine Weise, die zumindest inhaltlich immer wieder überrascht. Denn Sissako fokussiert auf geglückte Integrationsgeschichten und Assimilierungen, ohne dabei den tief verwurzelten Rassismus der älteren chinesischen Generationen auszublenden. Und er zeigt eindrücklich, wie man wirklich Tee trinkt und genießt. – Axel Timo Purr
Das Kino als Pappkarton betrachtet. Widerstandsgeschichte und Voyeurismusstudie, Weltflucht und Utopie bis zur Orientierungslosigkeit und Selbstaufgabe – Ishii strickt aus der Romanvorlage von Abe Kōbō einen anregend vieldeutigen, labyrinthischen und verstörenden Genrefilm, dessen Prämisse jederzeit vom eigenen Medium her gedacht ist. Der Blick durch den Schlitz im Karton als Reflexion filmischer Kadrierung und Perspektivierung. Kino als Fenster zur Welt und zu den eigenen Obsessionen. Ein fantastisches Wunderwerk. – Janick Nolting
Stadt, Land, ohne Fluss. Juliana Rojas Grundidee ihres zweigeteilten Films ist bestechend. Wird im ersten Teil mit präzisem Blick gezeigt, wie Binnenmigration mit allen ihren Schwierigkeiten in Brasilien vom Land in die Stadt funktioniert, wie gesellschaftliche Hierarchien, Korruption und misogyne Strukturen einen Neuanfang erschweren, verliert sich Rojas im zweiten Teil zunehmend. Zwar überrascht Rojas mit dem Topos des umgekehrten Weges, der Migration zweier junger lesbischer Frauen aufs Land. Doch was im ersten Teil noch präzises Erzählen war, wird im zweiten Teil mehr und mehr zu einer diffusen Melange aus Geisterglaube, erratischen Dialogen und Liebesszenen und einer unausgegorenen Geschichte über den Verlust von familiären Bezugspersonen. – Axel Timo Purr
Formvollendete Klischees: Ein heruntergekommenes Resort in den bayerischen Alpen samt dubiosem Besitzer. Eine dysfunktionale Patchworkfamilie samt rebellischer Tochter im Teenageralter. Dunkle Wälder samt merkwürdiger Geräusche und schemenhaften Schatten. Ja, inhaltlich bietet Cuckoo wenig Neues. Darum: Volles Augenmerk auf die Form. Denn hier beginnt der Film zu strahlen. Langsame, statische Zooms, eine flirrende, dissoziative Tongestaltung, und – über allem thronend – das unglaubliche Set- und Kostümdesign. In Anlehnung an das B-Movie, speziell an den italienischen Horrorfilm der 80er-Jahre (man denkt unentwegt an Argento), entwickelt Singer eine Bildsprache, die so selbstverständlich und aufrichtig anmutet, dass es eine pure Freude ist. Kino als reiner Selbstzweck also, die schiere Lust am Zeigen und Übertreiben. Handlung und Logik fallen diesem Ansatz schnell zum Opfer, gerade das ist aber das Schöne. Ein pulsierender, wilder Film, manchmal etwas drüber, doch selbst dann noch absolut stilsicher. – Benedikt Guntentaler
Restitution greifbar gemacht: Wie schon in ihrem Film Atlantique sind auch in Diops Dokumentation über die Zurückführung von 26 Kunstschätzen des Königreichs Dahomey in das heutige Benin Geister am Werk, ist auch hier die Überquerung des großen Wassers Heilsversprechen. Nur halt in anderer Richtung. Der Benin-Teil ist dann auch der stärkste Teil von Dahomey, weil Artefakt 26 nicht mehr pathetisch raunen muss, sondern endlich Studenten der Universität von Abomey-Calavi über den Sinn der Zurückführungen diskutieren und zusammen mit Diops Blick auf das neu etablierte Museum für die Artefakte verständlich macht, was in Europa kaum einer mehr versteht: das Kulturerbe immer auch ein unschätzbarer Motor kultureller Identität und wirklicher Unabhängigkeit ist. – Axel Timo Purr
Body Horror im Waldviertel des 18. Jahrhunderts. Die Religion gibt die Weltordnung vor. Agnes kommt in die fremde Gemeinschaft der Flussfischer, ihr Mann hat für sie ein dunkles, heruntergekommenes Steinhaus tief im Wald vorgesehen. Ständig verläuft sie sich zwischen moosüberwachsenen Findlingen, Steinsgrotten und den ewig gleichen Baumstämmen. Schwanger wird sie nicht. Halt geben soll das Beten, Rosenkranz beim Kochen, die Beichte vor dem Tod. Wenn man mit dem Leben nicht klarkommt, gibt es nur einen sehr, sehr grausamen Ausweg, der den historisch verbürgten Plot des Films bildet. Das Regie-Duo Franz und Fiala lassen den Horror ganz allmählich in ihren reduziert inszenierten Film hineingleiten. Ein sehr wahrhaftiges Meisterwerk in Natürlichkeit und Mundart. Wer Genre oder Mystik erwartet, wird enttäuscht. – Dunja Bialas
Grausig war’s. Dieser Film ist stimmungsvoll inszeniert, ja. Seine starr durchkomponierten Horrorbilder sind jedoch so bemüht mit Schwere und Ballast einer angestrebten Authentizität aufgeladen, dass sie kaum merken, wie museal und zäh die zigfach durchgekaute Beobachtung von Fanatismus, Aberglaube und Degradierung geraten ist. Zeitlos brisant soll das sein, doch all die enervierenden Schocker-Szenen dieser Gewalterzählung bleiben ästhetisch im historischen Naturalismus weggesperrt. Erinnert eher an reißerische True-Crime-Geschichtsstunden und Video-Esssays über die finstere, vermeintlich überwundene Vergangenheit und ihre brutalen Praktiken. Das bislang schwächste, berechenbarste Werk des eigentlich starken Duos Franz und Fiala. Lieber Lukas Feigelfelds artverwandten Hagazussa sehen! – Janick Nolting
Schlimmer als der Aberglauben aber ist der Glauben. Der abgetrennte Finger einer hingerichteten Mörderin bringt Fruchtbarkeit. Meint man Mitte des 18. Jahrhunderts in der österreichischen Provinz. Warum die Frau aber das Verbrechen beging: Die Kirche predigt, dass der Freitod zwingend zur ewigen Verdammnis führt – für reuige Mörderinnen aber Absolution möglich ist. Ein Dilemma für eine wie Agnes (mit vollem Einsatz: Anja Plaschg, alias Soap&Skin), eine Fremde in ihrem Dorf, ihrem Leben, in eine Ehe geraten mit einem Mann, der womöglich mit Frauen nichts anfangen kann, leidend an »Melancholie«. Franz & Fiala verabschieden sich vom klassischen Horror-Genre. Liefern ein beklemmendes Geschichtsgemälde mit Blick aufs von der gängigen Historiographie Vergessene, Verdrängte. Die immersive Erfahrung einer Depression in einer Zeit, die keine Begriffe dafür hat außer: Ich will weg von der Welt. – Thomas Willmann
Töten, um zu sterben und erlöst zu werden: Ein Film der ganz großen Bilder, die von klirrender Einsamkeit, autoaggressiver Wucht und einem unbedingten Nein zum Leben und einer ganz großen Anja Plaschg in der Hauptrolle geprägt sind. Wie Veronika Franz & Severin Fiala über diese Bilder dann auch noch vom bäuerlichen Leben in Oberösterreich im Jahr 1750 erzählen, von Frauen, die töten, um selbst endlich getötet zu werden, ist leibhaftig gewordener Horror, aber historisch belegt und immer wieder meisterlich. Dazu die historische Akkuratesse bäuerlichen Alltags, die mit ihren feinen Detailzeichnungen verblüfft und dann nicht nur durch das Grauen dieser Vergangenheit schockt, sondern wie viel von dieser Vergangenheit noch in unserer Gegenwart steckt. – Axel Timo Purr
Das All ist überall. Sagt ja schon der Name. Warum also nicht den kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den »Einsern« und den »Nullern« in ein heutiges nordfranzösisches Küstenkaff verlegen? L’empire hätte dabei eine platte Genre-Parodie werden können, wenn Provinz-Kackspechte die Lichtschwerte schwingen. Vielmehr aber setzt Bruno Dumont nur den mit P'tit Quinquin und seinem Jeanne d’Arc-Zyklus beschrittenen Weg fort. Und findet das Humane im Absurden, das Mythische im Alltäglichen. Auch wenn der Film sich zwischenzeitlich narrativ ziemlich totläuft: Auf wundersame Weise bringt er zwischen Kathedralen-Raumschiffen und Laiendarstellern als Dorfpolizisten dem SF- und Fantasy-Genre das Staunen, die profunde Naivität, die an Daseinsfragen rührende Magie zurück, wie es in den letzten Jahren kaum ein Blockbuster mehr geschafft hat. – Thomas Willmann
Gut und Böse sind hier einfach nur »Nullen« und »Einsen«. Moralisch entleerte, reine Setzungen. Theologe Bruno Dumont schickt außerirdische Krieger in den manichäischen Kampf. Das ist bei ihm alles recht irdisch, angesiedelt im bretonischen Jeanne-d’Arc-Setting zwischen menschenleeren Sanddünen und kargen Bauernhöfen. Wer hier böse, wer hier gut ist, und vor allem auch, warum, spielt keine Rolle mehr. Es geht um die Prinzipien in Reinform. Ebenso pur ist die Inszenierung. Lichtschwerter leuchten zwischen Kuhfladen, knappe Bekleidung sind martialische Insignien. Die Frauen: allesamt Amazonen, die Männer: rechte Trottel. Die Bunker an der Küste dienen als Andockstationen für die gigantischen, frei fliegenden Kirchen-Raumschiffe. Bruno Dumont lässt den Theismus in einer abstrakten Allmacht aufgehen, während die Ermittler aus P'tit Quinquin vergeblich versuchen, die Ereignisse zu durchschauen. – Dunja Bialas
Autofiktionale Spurensuche jenseits aller Schmerzgrenzen: Die Autorin Christin Angot tut das mit der Kamera, womit sie schon literarisch Tabus gebrochen hat: Über den Missbrauch durch ihren leiblichen Vater erzählen. Das ist brutal, übergriffig und in der rohen Hyperrealität zeitweise kaum zu ertragende Work in Progress, mehr noch als wir uns hier im vermeintlich reflektiven, französischen Bildungsbürgertum befinden. Ein Film, der ohne MeToo nicht möglich gewesen wäre und auch dadurch besticht, dass Angot ihr Lebensthema einerseits verflucht, um dann doch gnadenlos Bekannte, Freunde und Familie an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Die dunkle Variante von Joan Baez – I Am a Noise, nach der sich jeder zur gesunden Selbstregulierung Sarah Polleys Stories We Tell ansehen sollte, um das Modell Familie nicht komplett in die Tonne zu treten. – Axel Timo Purr
Aufstand der Waisen. Klassischer kann man das Feelgoodmovie-Potential kaum ausreizen. Und wohl auch kaum vorhersehbarer. Arme Waisenmädchen in einem venezianischen Waisenhaus der katholischen Kirche emanzipieren sich über die Musik. Doch Margherita Vicarios gelingt es dann immerhin, über die vielen kleinen Nebenschauplätze und historischen Details Interesse zu wecken. Sei es die Andeutung, dass schon die französische Revolution auch ein erstes Aufbegehren der Frauen war, als auch die musikalischen Details, angefangen von einem der ersten Klaviere bis zu vergessenen Komponistinnen, denen dieser Film gewidmet ist. – Axel Timo Purr
»Es tut mit leid, dass du mir vertraust«: Die freiwillige Helferin, die eine Katze anlockt, meint es gut – weiß aber, dass sie dem Tier erstmal seine Selbstbestimmtheit, Unversehrtheit nimmt. Es leben viele streunende Katzen am Gogoku Tempel in einem japanischen Hafenort. Zu viele, findet man. Und lässt jedes Jahr einige von ihnen sterilisieren. Dennoch kümmern sich Dorfgemeinschaft, Touristen und Fischer fürsorglich um die liebgewonnenen Streuner. Kazuhiro Soda setzt seine Reihe beobachtender Dokus fort – mittlerweile selbst Einwohner des Örtchens Ushimado. Was als Film über die Tempelkatzen beginnt – schon da mit sehr starken (tierischen) Charakteren – entfaltet sich ungezwungen, subtil, menschlich zu einem Blick auf eine überalternde Gemeinschaft und den ewigen Zyklus von Vergehen und Neugeburt. – Anna Edelmann & Thomas Willmann
Eine staubige Parabel in den felsigen Landschaften des iranischen Hinterlandes. Beitollah braucht für die Bergung eines ge- oder auch nur erträumten Münzschatzes einen nicht-gläubigen Handlanger. Er selbst möchte seine Erlösung durch Gott nicht verwirken, wenn er das fremde Geld an sich nehmen würde. Nur als Geschenk seines Begleiters dürfte er es ungestraft behalten. – Ein Porträt Samuel Becketts im Schaufenster einer Buchhandlung weist den beiden Männern den Weg ins Nirgendwo, das gut auch »Godot« heißen könnte. Düstere Bartträger verrennen sich in der Sackgasse ihrer Trostlosigkeiten. Die steinigen Hänge geben keine Antworten. Geröll und verfallende Mauern wollen nur als das gesehen werden, was sie sind. Sodass sich hier selbst das Allegorische als leer und hohl erweist. Das große Nichts als letzter Sinn. – Wolfgang Lasinger
Zukunft ist Vergangenheit. Über drei Stunden dauert dieser merkwürdige Film, der sich grazil bewegt zwischen Dokumentation und Essayfilm, unterfüttert mit sanften Anleihen an das experimentelle Kino. Erzählt wird von Henry Fonda und dessen schauspielerischen Laufbahn, immer wieder verknüpft mit damaligen politischen Entwicklungen. Regisseur Horwath verbindet diese Erzählungen mit Aufnahmen des heutigen Amerikas, erzählt also vom Vergangenen und dem, was sich
daraus entwickelt. Das Kino als Reenactment, in dem Fiktion und Realität verbunden werden, die Vergangenheit befragt wird, um die Gegenwart zu verstehen. Diesen Ansatz setzt der Film meisterhaft um, insbesondere, weil die Nachstellung hier nicht fiktional ist, sondern durch Archivaufnahmen oder dokumentarische Form gefasst wird. Dabei zeigt sich: Das Kino ist – in sämtlichen Formen – mehr als eine Annäherung an das Reale, es zeigt immer mehr als da ist, lässt das
Unmögliche erahnen.
Ein triumphales Werk. – Benedikt Guntentaler
Autofiktion im Lockdown. Dokumentarisch nähert sich die Kamera von Eric Gautier einem kleinen Dorf im Département Yvelines. Apfelbäume. Grüne Wiesen. Aufblühende Natur. In die Jahre gekommene alte Häuser, Landsitz des Bürgertums. Keine Bauernhöfe, kein Leben auf dem Land. Dazu kommentiert Olivier Assayas aus dem Off: Wie verlassen alles ist, wie grün die Wiesen stehen. Dass die Kunst und das Kino den Kontakt zur Natur verloren haben, anders als noch bei Jean und Auguste Renoir… So der melancholische Horizont. Wechsel in die fiktionale Ebene. Des Filmemachers Alter Ego (Vincent Macaigne) verbringt mit seinem Bruder (Micha Lescot) den ersten Lockdown im April 2020 zwischen Crêpes-Zubereitung und Revenge Buying. Standardsituationen des Lockdowns eben. Außerdem sind da die zwei frischen Freundinnen dabei. Eine Komödie und einer der persönlichsten Filme des französischen Regisseurs. – Dunja Bialas
Es reicht mit David Hockney! »Pauls« Freundin kann’s nicht mehr hören, dass er Äußerungen des Malers ständig als Autorität zitiert. »Paul« ist Olivier Assayas alter Ego. Und die Hockney-Zitate nur eine Facette seiner Selbstkarikatur. Ausgerechnet Assayas' Lockdown-Film entpuppt sich als sein lockerstes Werk seit Langem. Ein Mix aus dokumentarischer Autobiographie über das dörfliche Elternhaus, in dem der Regisseur, sein Bruder und beider Lebensgefährtinnen den ersten Pandemie-Sommer verbrachten – und einem fiktionalisierten Selbst- und Gruppenportrait. Die Ausnahmesituation verschärft die Charaktereigenheiten, bringt zwischenmenschlichen Konflikte zum Ausdruck. Assayas schafft es mit diesem vergnüglich-weisen Film, nicht nur formal innovativ zu werden, sondern auch eine Außenperspektive auf sein Selbst zu finden. – Anna Edelmann & Thomas Willmann
Menschen lachen, Menschen weinen. Ivo (Minna Wündrich) ist ambulante Palliativpflegerin, sie fährt von Patient zu Patientin, eine davon ist ihre Freundin Solveigh (Pia Hierzegger). Mit deren Mann Franz (Lukas Turtur) hat Ivo eine Affäre: zwei, die aneinander festhalten, während sie eine geliebte Person verlieren. Das alles ist ganz unaufgeregt erzählt, in dichten, fein beobachteten und liebevollen Szenen: wie Ivo einen Stein aus dem Schuh eines Patienten holt, ihr Schrank voll von geschenkten Sektflaschen und Pralinen, das gemeinsame Beobachten von Treppenliften, die sich wie Raupen bewegen, die Tauben am Haus und die Frau von nebenan die Pasta für eine eben Verstorbene vorbeibringt. Neben den Schauspieler*innen sind es auch die Menschen, die in ihrer Profession agieren, als Ärzte oder Pflegekräfte, die den Film so genau und berührend machen. – Nora Moschüring
DFF statt DAF. Claire Burgers ist auf den ersten Blick ein immer wieder leichtes und jugendliches Coming-of-Age-Drama zweier Schülerinnen eines Austauschprogramms einer Leipziger und einer Straßburger Schule. Aber die deutsch-französische Freundschaft, die sich hier unter vielen Hindernissen anbahnt, ist auf den zweiten Blick dann doch viel mehr. Denn im Kern zeigt Burger über die verschiedenen Generationen auch das Coming-of-Age unseren jungen Europas. Während die älteren Generationen noch unter Lug und Trug leiden, geht die junge Generation – vereint im Antifa-Denken, Techno, schoko-überzogenen Mushrooms und unbedingter Wahrheitsliebe – offen aufeinander zu. Ein echter Europa-Film und trotz etwas übereifriger Drehbuchkapriolen, allein schon deshalb wichtig und sehenswert. – Axel Timo Purr
My Favourite Cake (Irland/F/S/D 2024 – R: Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha – Wettbewerb)
Trinkst du ein Glas Wein mit mir? Mit verschmitztem Lächeln zaubert die 70-jährige Mahin eine uralte Flasche verbotenen Alkohol aus ihrem Versteck. Der Taxifahrer Faramarz und sie kennen sich erst seit ein paar Stunden. Aber sie teilen eine
gemeinsame Vergangenheit: Sie haben den wilden Iran der 70er erlebt – und sind doch nach der Revolution geblieben. In dieser einen Nacht lassen sie hinter zugezogenen Vorhängen alle Zwänge und einige Gesetze hinter sich. Sie trinken, sie tanzen und sie lieben sich. Verwoben in eine Art Before Sunrise, zeigt My Favourite Cake ein selten gesehenes, unerhört und
komisches, aber ehrliches Bild des Lebens im Iran: Nicht reduziert auf eine Opferrolle, rebellieren Mahin und Faramarz im Privaten und erkämpfen sich voller Glück und Lebensfreude ein Stück verlorener Freiheit und längst vergangener Jugend zurück. – Anna Edelmann
Ein Stück Stoff, der Hijab, wird zum Emblem der Unterdrückung. Die im Jahr der iranischen Revolution Khomeinis 1979 geborene Regisseurin Farahnaz Sharifi gibt einen sehr eindringlichen Einblick in die Repression, die Frauen in dem islamischen Staat erfahren. Die Einschulung erlebt sie als einschneidende Trennung von Öffentlich und Privat, als Diebstahl ihres Planeten der unbefangenen Freiheit. Anhand von 8mm-Filmen, die aus der eigenen Familie und aus anonymen Nachlässen stammen, dokumentiert und kommentiert die Regisseurin das Private als einzigen Rückzugsraum der Frauen, in dem sie etwa tanzen, singen, sich artikulieren können. Wie das Persönlich-Intime vom Öffentlich-Politischen kündet, das zeigt dieser aufwühlende Tagebuch-Doku-Essay bis zu den jüngsten Unruhen im Iran, die sich am Tragen des Hijabs entzündeten. – Wolfgang Lasinger
Seit 40 Jahren: Gehen sie für ihre Freiheit auf die Straße. 40 Jahre: Der immergleiche Kreislauf von Hoffnung und Enttäuschung. Sie hat keine Hoffnung mehr, sagt eine der Frauen auf dem Heimweg. Aber sie lachen dabei. Es ist einer der Hunderte privater Momente im Freundes-, Familienkreis, die Farahnaz Sharifi eingefangen hat. Sharifi filmt, manisch: All die Momente bewahren, die den öffentlichen Bildern des Iran widersprechen. Wo ihre eigenen Foto-, Handy-, Video-, Filmkameras nicht hinkamen, sammelt sie fremdes Super8-Material. Frauen daheim beim Tanzen; Parties, bei denen die Sittenpolizei an der Tür klingelt; A capella-Karaoke mit John Lennons »Imagine«. Sharifis Film schließt die Kluft zwischen den gewohnten, genrehaft gewordenen Bildern von Protest und Heimfilmerei. Bringt einem frappant nah: Das sind alles ganz normale Menschen – das könnten alles wir selber sein. – Thomas Willmann
Hier waren unzweifelhaft Drogen im Spiel. Pepe ist in Lateinamerika der Name eines beliebten Zeichentrick-Nilpferds, das nicht nur fliegen kann. Der dominikanische Regisseur Nelson Carlo de los Santos Arias hat »Pepe« zu seiner Titelfigur gemacht und lässt das Nilpferd mit KI-generierter Stimme aus dem Limbo sprechen. Es klärt darüber auf, dass es, in Kolumbien erschossen, eigentlich aus Namibia kommt, tut das zweisprachig, in Spanisch und Afrikaans. Währenddessen wird rückblickend der Transport und das Auswildern einer dreiköpfigen Nilpferd-Herde im Drogenboss-umkämpften Hinterland erzählt. Hubschrauber-Aufnahmen zeigen die wie Steine im Fluss ruhenden Tiere, Nahaufnahmen ihre Wendigkeit unter Wasser. Ein überaus hybrider Spiel-Essay-Film, der Historisches, Zeichentrick und Fiktion zum großen Imaginären eines verlorenen Kontinents webt. – Dunja Bialas
Ein Ruinen-Musical. Mitten in Buenos Aires steht ein altes Gefängnis. Das Kriminelle will man aus Wohnraum und Wahrnehmung verbannen, also bleiben nur verfallene Mauern übrig. Lola Arias und eine Gruppe ehemaliger Inhaftierter schreiten nun zur subversiven Tat und beleben diesen Schauplatz mit ihren Geschichten, Fantasien, schmissigen Musical-Nummern. Es geht darum, jenes Verdrängte wieder in eine Präsenz zu überführen, Empathie zu entwickeln und den realen Erfahrungen zu lauschen, die die einzelnen Frauen in geskripteter, brüchiger Form durchspielen. Wie Arias’ Teatro de guerra ist auch dieses Projekt ein kluges, offenes Experiment mit dem Schauspiel an sich, das die eigene Fiktionalität und Illusion nach deren sichtbaren und unsichtbaren Codes abtastet und sie zum Einsturz bringt. – Janick Nolting
Von Gebäuden und Biografien. Da steigt er hinunter: Der nackte, männliche Genius und begrüßt alle angehenden Studierenden in der Aula der HfbK Hamburg. Das Wandgemälde »Die ewige Welle« (1918) von Willy von Beckerath bildet zusammen mit dem Fritz Schumacher Bau (1911-13) und dem Nachbarbau, dem Institut für Geburtshilfe (1911-14), das Eintrittstor für Pethkes klugen Film über Frauen in der Kunst. Anhand der Biografie ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihrer eigenen, sucht sie nach den Gespenstern der Vergangenheit. Alle drei haben hier studiert, alle drei haben unter dem Gemälde gesessen, aber nur Pethke macht bis heute Filme – und hat zwei Kinder. Eine sehr persönliche, dichte Analyse von Strukturen, veranschaulicht in Architektur und an Kunstwerken, die in sich auch eine Befreiung ist. – Nora Moschüring
Ist das eine digitale Faust? Nein, freilich nicht! Doch auch wenn das Verbrechen in die Virtualität entfleucht, braucht’s einen wie Detective Ma, es zu stoppen. Kurz flirtet der vierte Teil der The Roundup-Filme mit der Kluft zwischen Mas brachialen Methoden und der modernen Welt, wo Gangster Online-Casinos betreiben. Aber dann ist schnell wieder alles beim Alten. Unter uns: Die Reihe war nie die Speerspitze innovativen Action-Kinos. Ihr Verhältnis zu Polizeigewalt bleibt... nun, nennen wir’s sorglos. Und allmählich tritt sie in die Phase, wo’s mehr um pavlovsche Begeisterungs-Reaktion auf’s Bekannte geht als virtuose Variation. Selbst der einst originellen Konfrontation von Mas massigem Boxer/Street Brawler-Stil mit filigranerer Martial Arts gehen die neuen Moves aus. Aber: Nach ein paar Tagen Berlinale reicht’s, und macht’s glücklich, wenn Don Lee einfach ganz analog auf die Mütze gibt. – Thomas Willmann
Es ist noch Mutterkuchen da: In der Wildnis kann man nicht zimperlich sein – und lieber bekommt der hungrige Berglöwe die Nachgeburt statt des Neugeborenen. Zu dem Zeitpunkt ist die zottelige Viererbande im Zentrum dieses Offroad Trip-Films ohnehin durch die Fährnisse ihres Daseins schon dezimiert. Wir folgen den Bigfoots durch vier Jahreszeiten. Mit Riley Keough, Jesse Eisenberg & Co. im Ganzkörperkostüm und lediglich Grunzlaut-Dialogen. Klingt nach Gimmick – aber funktioniert unerwartet wunderbar. Obwohl die Primaten-Masken nicht den expressivsten Stand der FX-Makeup-Kunst repräsentieren, baut man schnell eine emotionale Bindung zu dem Waldmenschen-Clan auf. Die Zellners (Damsel) zelebrieren freilich weiterhin ihren trocken absurden Humor – doch ihr Beitrag zum »Kreislauf des Lebens«-Themas, das diese Berlinale prägt, ist insgeheim überraschend wahrhaftig und berührend. – Thomas Willmann
Es war ja nur Sex. Findet ein Schornsteinfeger, als er seinem Freund und Vorgesetzten erzählt, dass er spontan mit einem Kunden geschlafen hat. Und dabei zum ersten Mal mit einem Mann. Für ihn ein profundes Erlebnis – das vermeintlich aber nichts an seiner Ehe ändert. Nur seine Frau sieht das dann nicht so locker. Trotz des knalligen Titels ist der Film eine in dezidierten Einstellungen eingefangene Folge von Zwei- (und mitunter Drei-)Gesprächen. Ein Konversationsstück – das sich in seltsamere Sphären schraubt. Weder mit den gefällig einfachen Antworten einer sexpositiven Beziehungskomödie – auch wenn es eine hochvergnügliche Szene mit einer resoluten Ärztin gibt. Noch mit der Strenge und Zerknirschung etwa eines Bergman – auch wenn SEX Glaubensfragen stellt und Hannah Arendts Theorien zu Identität, Freiheit, Gesellschaft anklingen lässt. – Thomas Willmann
Der Name des Todes. Die iranische Filmemacherin will ihren dämonisierten ersten Nachnamen (wörtlich »Märtyrer«) loswerden und muss dafür dem zuständigen Kreisverwaltungsreferat in Deutschland noch ein psychologisches Gutachten über ihre posttraumatische Belastungsstörung vorlegen. Eine Schauspielerin gibt den Avatar von Narges (Shahid) Kalhor, die Dreharbeiten werden wegen Unsicherheiten in der Rekonstruktion der Vergangenheit immer wieder durchbrochen, und auch sonst ist der zweite Film der begnadeten Fiktionsironikerin wieder einmal hochgradig selbstreflexiv. Schwarzgewandete tanzende Derwische heben immer wieder aufs Neue an, während der Film sich schwindelerregend im Kreis zu drehen beginnt. »Zwischen dem Gestern und dem Morgen fängt meine Geschichte an.« – Dunja Bialas
Beobachtender Alltagsrealismus in der kolumbianischen Großstadt Medellín. Die Kamera heftet sich an die alleinerziehende Sandra, die einen Security-Job in einer Shopping Mall antritt. Die Kontrollgänge in Uniform, lange Busfahrten zum Arbeitsplatz, der Tratsch mit den neuen Kolleg*innen, der 15-jährige Sohn zu Hause, der sich mehr für die neue Freundin interessiert, der Flirt mit dem Busfahrer… Unglamouröse Wirklichkeit wird halbdokumentarisch in geduldig intensiven Einstellungen eingefangen. Vor allem die urbane und soziale Geräuschkulisse und der populäre Straßensound des Barrio Belén Las Violetas in Medellín geben dem Debütfilm von Yennifer Uribe Alzate einen unvergleichlichen Touch. Und Hauptdarstellerin Alba Liliana Agudelo Posada verleiht ihrer Figur Sandra große Überzeugungskraft auch in den kleinsten Gesten und Regungen. – Wolfgang Lasinger
Kosmonaut nach Haus telefonieren. Jakub und seine schwangere Frau Lenka führen – zumindest vorübergehend – die entfernteste aller Fernbeziehungen: Er schwebt auf werbefinanzierter Solo-Mission im All und sie wohnt in Tschechien. Einzig eine retro-futuristisches Telefonkabine verbindet die beiden „Star-Crossed Lovers“. Doch die räumliche Distanz lässt Lenka an ihrer Ehe zweifeln und im Weltraum klingelt das Telefon nicht. Die Isolation lässt Jakub über sein Verhalten sinnieren, wobei ihm ein freundliches, spinnenartiges Alien namens Hanuš ungebetene Hilfe leistet. Voller Experimentierfreude schöpft „Spaceman“ seine Inspiration aus der großen Tradition des tschechischen Fantastischen Films, aus den Werken von Stanislaw Lem und selbst aus Antonín Dvořáks „Rusalka“. Eine wilde Mischung, die zwar nicht ganz stimmig ist, aber bis zum Schluss die Faszination für das Unbegreifliche aufrechterhält. – Anna Edelmann
Warum wir so furchtbar sind: Mathias Glasner gelingt fast schon die Quadratur des Kreises. In drei Stunden, die niemals zu lang sind, erzählt er gnadenlos, mal lakonisch,mal sarkastisch und dann wieder umwerfend zärtlich von dysfunktionalen Familien- und Gesellschaftsverhältnissen, dem ganz normalen bildungsbürgerlichen Wahnsinn unserer Gegenwart, erzählt von Liebe und Nichtliebe und vom Sterben im Alter, im Jungsein und in der Musik und ist dabei ganz bei Manès Sperber, denn »um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Dazu gehört ab Minute 100 einer der großartigsten und längsten Mutter-Sohn Dialoge der letzten Jahre und zwanzig Minuten später eine Sexszene, so wild und überraschend und schmerzvoll und großartig wie so vieles in diesem wunderbar traurigen Film. – Axel Timo Purr
»Ein Furz ins Gesicht der Avantgarde!«, empört sich ein blasierter Zuhörer nach der Uraufführung. »Sterben« heißt die Komposition – wann immer der Film über sie spricht, spricht er über sich selbst. Und karikiert gleich schonmal alle seine möglichen Kritiker. Immerhin spürt man, dass für Matthias Glasner persönliche Dringlichkeit in diesem Werk stecken muss. Und hätte er’s wie sein Komponist im Film gemacht – reduziert, aufs Wahrhaftige konzentriert – es hätte was werden können. Doch er beerdigt diesen Kern unter endloser Länge; dem alten pubertären Bedürfnis, auf die Kacke zu hauen (hochnotpeinlich: sein Portrait von Alkohol-Exzessen); tausend schlimmen deutschen Kinoklischees von wie die Welt ist, wie Menschen handeln, reden (Spoiler: ist sie nicht, tun sie nicht). Aber eh – wie die feige, billige Vorwärtsverteidigung schon sagt: Wir haben die große Kunst bloß nicht verstanden... – Thomas Willmann & Anna Edelmann
Das Los des Fremden. Vor über 400 Jahren verfasste William Shakespeare einen eindringlichen Appell zum Mitgefühl gegenüber Flüchtlingen. Regisseur Brandt Andersen, der von seinen persönlichen Erfahrungen mit humanitärer Arbeit in Flüchtlingslagern geprägt ist, treibt eine ähnliche Dringlichkeit an. Mit seinem Film möchte er ein Publikum wachrütteln, für das die Berichterstattung über humanitäre Krisen alltäglich geworden ist und das die Problematik nur allzu gerne ausblendet. Leider überspitzt sich diese Dringlichkeit zu einer von Nervenkitzel getriebenen Inszenierung, in der die Tiefe der einzelnen Charaktere auf ein der Handlung dienliches Etikett reduziert wird. Es bleibt kein Raum für ehrliche Emotionen oder wahrhaftige Reflexion über den wütenden Schmerz derer, die alles verloren haben, oder die erschöpfte Hilflosigkeit der Helfer*innen. – Anna Edelmann
Scheitern an der Ukraine. Abel Ferrara ist losgezogen, um sich aktuellen Kriegserfahrungen zu widmen. In einer so naiv erscheinenden Filmform entspringen ihnen lediglich konfus montierte Interviewtöne mit erwartbarsten Positionen. Dazwischen singt und rezitiert Patti Smith. Bis die Interviews und dröhnenden, verpixelten Gewaltszenen eine produktive Spannung ergeben, vergeht zu viel Zeit. Der Sprung auf die Metaebene, was es heißt, ein solches Dokument anzufertigen, bleibt ein unbeholfenes Hüpfen auf der Stelle. – Janick Nolting
»Überlebende werden gefahren, alle anderen müssen nach Birkenau laufen.«, mit diesen Worten setzt sich das Golfwägelchen mit der Touristenführerin, Ruth Rothwax und ihrem Vater, der als junger Mann das KZ Auschwitz überlebte, in Bewegung. Langsam, sehr langsam fährt es entlang an der nicht enden wollenden Reihe Barracken. Man begreift die schiere Größe des Todeslagers. In den Augen des sonst überdreht-lebensfrohen Edeks zeigt sich zum ersten Mal eine tiefe Gebrochenheit. In diesem einen Moment schafft Treasure, was er sich vorgenommen hat: basierend auf Lily Bretts Roman »Too Many Men« möchte der Film ein Mix eines lakonisch-sentimentalen Portraits einer strapazierten Vater-Tochter Beziehung sein – und ein schmerzender Zeitzeugenbericht. Der Balanceakt gelingt selten – aber diesen einen großen Moment, den hat er. – Anna Edelmann
Drei Schwestern. Maura und Elsa kommen, um ihre Schwester Carmen zu besuchen, die auf dem kargen Anwesen der Großeltern lebt. Es geht um die Aufteilung des Erbes unter den alten Frauen. Regisseurin Macu Machín dreht auf dokumentarischer Grundlage: die drei Alten sind Mutter und Tanten der Regisseurin. Die vulkanische Landschaft auf den kanarischen Inseln ist eine weitere Protagonistin, in der sich in opaken Bildern und gestrüpphaftem Dickicht die hermetische Interaktion zwischen den Schwestern materialisiert. Mehr Ungesagtes als Ausgesprochenes lässt die dräuend-atmosphärische Tonspur immer wieder an eine archaisch-mythische Schicht rühren, ehe mit der Eruption des Vulkans das Symbolische in den Film einbricht. Macu Machíns Regie überformt die dokumentarische Grundlage fiktional und poetisch. – Wolfgang Lasinger
Tiere sehen dich an. Der Zürcher Zoo ist unter der Tierpark-Top-Ten. Romuald Karmakar hat nach einem abgebrochenen Berliner Zoo-Besuch (»die waren nicht kooperativ«) dort gedreht: die Tiere, die Besucher, die Administration, fünf Jahre, bis Corona die Tiere einsam zurückließ. Wir sehen wutentbrannt Fußball spielende Tiger, weil sie noch nicht ins große Gehege dürfen. Wärter verstecken Essen. Ein künstlicher Baobab wird errichtet. Konsequent verweigert er im Fragment die Behauptung von Dokumentarfilmkohärenz sowie das Zoo- und Niedlichkeits-Narrativ, um in die grausamen Ecken der naturnahen Tierhaltung vorzudringen. Das verschreckt dann nicht nur die Zoo-Besucher, sondern auch die Kinozuschauer. Karmakar ist eben unerbittlich in seinem Blick auf die Welt – aber nur, weil diese auch unerbittlich ist. Hinsehen! Hingehen! – Dunja Bialas
Infotainment ohne Entertainment: Wer in dieser dreistündigen Dokumentation über die Institution Zoo einen Sendung-mit-der-Maus-Beitrag und die Stimme Achim Maiwalds erwartet, ist hier fehl auf dem Kinoplatz. Und auch Zoo-Hasser sollten lieber draußen bleiben. Für alle anderen ist Karmakars in acht Jahren entstandenes und so meditativ wie subtil analytisches Biopic des Zürcher Zoos unbedingt empfehlenswert, denn Karamakar zeigt natürlich nicht nur Tiere, Besucher und die administrativen Hintergründe, sondern macht auch deutlich, dass sich der Zoo wie unsere Gesellschaft verändert hat, die riskanten Freiheiten, die wir errungen haben, inzwischen auch für die Zoogesellschaft gelten. Auch hier liegt das Leben gleich neben dem Tod, das Gelingen neben dem Scheitern. – Axel Timo Purr
Zurück in Berlins Unterwelt. Thomas Arslan schickt seinen Kriminellen Trojan 14 Jahre nach Im Schatten in das nächste krumme Geschäft. Wie der Vorgänger ist auch dieser deutsche Genrefilm ein recht zäher und formelhafter Gangster-Thriller, aber ein düster funkelndes, atmosphärisch dichtes Großstadtporträt. Dessen spätkapitalistische Tristesse lässt Figuren in ihren Kreisläufen aus Schulden, Geldnot, Gier, Arbeitsaufträgen und Erpressungen nur noch in funktionalen, knappen Dialogen sprechen. Inszeniert in kühlen, identitätslosen Designerwohnungen, Hotelzimmern, an öden Nicht-Orten, auf Parkplätzen, hinter Lagerhallen und in labyrinthischen Straßen. Zum Schluss sprechen Fäuste, Knarren, krachendes Metall. Thomas Arslan zeigt die Hauptstadt einmal mehr in ihrer wahrhaftigsten Hässlichkeit. – Janick Nolting
Wenn sich die Söhne dem IS anschließen. Und nur einer wiederkommt, mit einer schwangeren, mit dem Nikab verhüllten Frau. Sie wisse nichts über die Frau mit den hellgrünen Augen, klagt Aïcha, die Mutter der Söhne. Einer ist beim IS geblieben, der jüngste ist noch bei ihr. Alle sind rothaarig, auffallend sommersprossig. Aïcha bekommt Visionen, von den Ereignissen im IS, von einem prächtig geschmückten Pferd in einer lila blühenden Landschaft. Die Wunde an der Hand will einfach nicht verheilen, sie hat sich beim Kartoffelschälen geschnitten. Ahnungsvolle Koinzidenzen mit den Ereignissen, die sich ihrer Kenntnis verschließen. Die Tunesierin Meryam Joobeur hat mit ihrem Debüt eine kraftvoll-mystische Erzählung geschaffen, die adäquate und eindrucksvolle Bilder für ein kollektives Trauma und die Grausamkeit unserer Zeit findet. Eine starke Stimme aus dem arabischen Raum. – Dunja Bialas
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Meryam Joobeur erkundet mit präzisem ethnografischen Blick den Riss, der nicht nur durch die tunesische, sondern wohl jede muslimische Gesellschaft geht. Über eine Hirtenfamilie, deren zwei ältere Söhne sich dem IS angeschlossen haben und von denen nur einer zurückkehrt, wird gleichermaßen vom Dilemma und den Traumata durch Radikalisierung erzählt. Joobeur setzt auf subtile, uneindeutige Erklärungsversuche, die zwischen intrafamiliär und wirtschaftspolitisch changieren und eröffnet dadurch sogar einen universalen Blick, deutet an, dass dieses Hirtenleben gar nicht einmal soweit von den Problemen im Zentrum Europas entfernt ist. Nur zum Ende hin verliert der Film mit seinen starken Hauptdarstellern durch zu viele Leerstellen von seiner kreativen Wucht. – Axel Timo Purr