15.02.2024
74. Berlinale 2024

Kurzkritiken

Berlinale-Plakat

Kurz, aber schnell: Schlaglichter auf Filme aus allen Sektionen (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

After Hours (USA 1985 · R: Martin Scorsese · Classics)

After Hours
(Foto: Berlinale | Park Circus)

Welt­pre­miere der restau­rierten Fassung eines großen Klas­si­kers, für die Martin Scorsese gemeinsam mit seiner lang­jäh­rigen Editorin Thelma Scho­on­maker auch die Farb­be­stim­mung beauf­sich­tigte. Doch auch ohne dieses Techno-Upgrade ist dieser Film der viel­leicht über­ra­schendste und einer der besten Filme in Scorseses Œuvre und die erste Zusam­men­ar­beit Scorseses mit Michael Ballhaus. Die doppel- und drei­bö­dige Komödie ist Freudsche Himmel- und Höllen­fahrt in einem, mit Charak­teren, die unver­gess­lich sind (Paul, Marcy, Kiki, Tom, und natürlich Horst). Ein wilder Bildungs­roman in einer geil foto­gra­fierten New Yorker Under­ground-Nacht und mit allen Leben, die wir ins uns haben, aber nicht trauen, auszu­leben. Mehr als ein arteshot-Geheim­tipp! – Axel Timo Purr

Alptraum in New York, Soho. Blonde Frauen mit Sexappeal setzen einem Büro­hengst in weißem Anzug zu. Club »Berlin« mit wilder Punk-Disco in Käfigen. Hardcore-Schwule in einer Bar. Alptraum­haft: Der Prot­ago­nist kommt nicht mehr aus dem Viertel heraus, verliert sein Geld bei einer rasanten Taxifahrt, finden seinen Love Interest suizi­diert vor. Schließ­lich endet er krachend als Gips­statue direkt vor den Toren seiner Firma und stetzt sich zurück an seinen Computer. »Hallo Paul.« Das Leben als Büro­an­ge­stellter ist weniger gefähr­lich, aber auch weniger aufregend. – Dunja Bialas

All the Night Longs (Yoake No Subete) (Japan 2024 – R: Shô Miyake – Forum)

»Gegen das Erde Leid gibt es keinen Trost als den Ster­nen­himmel«, meinte einst Jean Paul. Eine Lektion, die Misa und Takatoshi nur wider­willig lernen. Misa leidet unter starkem PMS, Takatoshi kämpft mit einer Angst­störung. Beide können in der stres­sigen Arbeits­welt Japans nicht bestehen und wurden vom Leben in einer kleinen Firma für Astro­nomie-Sets abge­stellt. Es ist, als betreten sie eine andere Welt: Die Kolleg*innen sind freund­lich und unter­s­tützen einander. Langsam bringt die Routine des wenig fordernden Büro­all­tags eine wohl­tu­ende Ruhe in ihre Leben. Der beruflich bedingte Blick in die Sterne hilft ihnen, sich selbst zu erden und wie nebenher ihren Platz im Universum zu finden. Liebevoll und erholsam unzynisch erzählt ist Yoake No Subete ein Film über die Wich­tig­keit der zarten zwischen­mensch­li­chen Gesten. – Anna Edelmann

Andrea lässt sich scheiden (Ö 2024 · R: Josef Hader · Panorama)

Josef Hader ganz groß. Oder besser: die marode, kleine Welt der öster­rei­chi­schen Provinz als Spiegel der verkom­menen, großen Welt. Bezie­hungen, der Job, kaputte und heile Lebens­li­nien sind genauso untrennbar mitein­ander verban­delt wie die Komik und die Tragik in dieser mal zucker­süßen und dann wieder brutal-bitteren Melange, die nie lauwarm, dafür aber heiß unter­kühlt serviert wird. Sarkas­ti­sche Stand­ort­be­schrei­bungen einer Welt, die mit der Bissig­keit Thomas Bernhards formu­liert werden und Birgit Minich­mayr als Poli­zistin auf dem Land, die grandios um Leben und Liebe und so etwas Abstraktes wie Selbst­be­stim­mung ringt. Und was für Dialoge: „Waren sie beim Arzt?“ „Nein. Ich war doch krank.“ – Axel Timo Purr

Another End (I 2024 · R: Piero Messina · Wett­be­werb)

Weich­ge­wa­schener Cyberpunk. Schon klar, dass Trauern traurig macht und jeder sich von seinen Toten am liebsten noch einmal verab­schieden möchte oder ihre Seele gleich ganz in einem neuen Körper sehen möchte. In den nahenden Zeiten der Singu­la­rität wird das kommen und in den großen Meis­ter­werken des Cyberpunk – man denke nur an Richard Morgans Altered Carbon und die maue Seri­en­ad­ap­tion – gibt es das schon. Piero Messina macht aus diesen Ideen leider nur ein unent­schlos­senes Bodys­witch-Melodram über das Leben mit toten Seelen, das sich mehr und mehr in seinen Verschach­te­lungen verirrt und dem man am Ende wünscht, sich selbst in einen neuen Körper aka Film zu reinkar­nieren. – Axel Timo Purr

Archi­tecton (D/F/USA 2024 · R: Victor Kossa­kovsky · Wett­be­werb)

Nicht einmal das weiche Wasser höhlt den harten Stein. Mit hypno­ti­sie­renden Zeitlupen und einem wunder­baren Score lässt Victor Kossa­kovsky Steine, Berge und Ruinen tanzen und beob­achtet, wie in Baalbek alte Monu­ment­an­samm­lungen aufgeräumt werden und ein alter Architekt über seine Sünden und Träume spricht. Das nimmt dem Film zwar etwas von seiner Kraft und erinnert für ein paar Momente an die Sendung mit der Maus, doch am Ende räumt Kossa­kovsky diese Asso­zia­tion beiseite, weil er mit seinen gewal­tigen Bildern über die ewige Schönheit des Steins und antiker Archi­tek­turen klar macht, dass aller Beton nur schnöder Mammon ist, der durch Erdbeben und Kriege Müll ohne Vermächtnis wird. Die Antwort, warum wir heute Gebäude bauen, die nur noch 40 Jahr exis­tieren, bleibt Kossa­kovsky in dieser instal­la­ti­ons­ar­tigen filmi­schen Medi­ta­tion aller­dings schuldig. – Axel Timo Purr

Arcadia (GR/BG/USA 2024 · R: Yorgos Zois · Encoun­ters)

Beckett lebt: Stilis­tisch makellos erzählt Yorgos Zois von Lebenden, Über­le­benden, Liebenden und Entlie­benden, die alle gleichsam am Leben leiden und nebenher am myste­riösen Auto­un­fall einiger Betei­ligter labo­rieren. Das erinnert vage an David Lynchs Lost Highway, ist aber im Kern klas­si­sches absurdes Theater à la Samuel Beckett. Denn wie Zois immer wieder Szenen in die Länge dehnt, um seine Geister gleich noch eine Runde tanzen und denken zu lassen und sie sich dabei doch wieder und wieder im Kreis drehen zu lassen, ohne das spürbare Erkennt­nis­ge­winne erkennbar wären, ist »Warten auf Godot« in Reinform, und damit fast schon grotesk aus der Zeit gefallen. – Axel Timo Purr

Die Schuhe der Toten. Die grie­chi­sche Weird Wave ist eigent­lich schon vorbei. Yorgos Zois legt aber im Carlos-Chatrian-Wett­be­werb »Encoun­ters« noch mal nach: Den nächsten Angehö­rigen folgen frisch Verstor­bene wie deren Schatten-Geister. Sehen ihnen zu, wie sie trauern, treffen sich nachts in einer Limbo-gleichen Bar namens »Arcadia« zu einer Grup­pen­orgie. Ihr Kenn­zei­chen: Sie können ihre Schuhe nicht ausziehen. Der Tod ist freudlos, absurd und alptraum­haft. Trist stim­mendes Re-Enactment aus dem Toten­reich, das vom anschei­nend unaus­lö­sch­li­chen anthro­po­lo­gi­schen Pessi­mismus der Griechen kündet. Und sujet­be­dingt natürlich nichts mit der real-exis­tie­renden Gegenwart zu tun hat. – Dunja Bialas

Black Tea (F/Maure­ta­nien/L/Taiwan/Elfen­bein­küste 2024 · R: Abder­rah­mane Sissako · Wett­be­werb)

Geliebte Teetrin­kerin. Abder­rah­mane Sissako berichtet von der west­afri­ka­ni­schen Diaspora im chine­si­schen Guangzhou, vom Leben und Lieben in Chocolate City. Ein Film, der lange nicht weiß, wo er eigent­lich hin will, der immer wieder schwer zu dechif­frieren ist, der zum einen von kontrol­lierter Liebe wie in Trần Anh Hùngs Geliebte Köchin erzählen will, dann aber zwischen Kitsch und Pathos auf halbem Weg stecken­bleibt und mit den Gespens­tern aus der Vergan­gen­heit der beiden Haupt­prot­ago­nisten dann viel zu wenig anzu­fangen weiß. Dennoch ist Sissako hoch anzu­rechnen, von etwas zu erzählen, von dem in Europa niemand etwas weiß. Und das auf eine Weise, die zumindest inhalt­lich immer wieder über­rascht. Denn Sissako fokus­siert auf geglückte Inte­gra­ti­ons­ge­schichten und Assi­mi­lie­rungen, ohne dabei den tief verwur­zelten Rassismus der älteren chine­si­schen Gene­ra­tionen auszu­blenden. Und er zeigt eindrück­lich, wie man wirklich Tee trinkt und genießt. – Axel Timo Purr

The Box Man (Hako Otoko) (Japan 2024 · R: Gakuryo Ishii · Berlinale Special)

Das Kino als Papp­karton betrachtet. Wider­stands­ge­schichte und Voyeu­ris­mus­studie, Welt­flucht und Utopie bis zur Orien­tie­rungs­lo­sig­keit und Selbst­auf­gabe – Ishii strickt aus der Roman­vor­lage von Abe Kōbō einen anregend viel­deu­tigen, laby­rin­thi­schen und vers­tö­renden Genrefilm, dessen Prämisse jederzeit vom eigenen Medium her gedacht ist. Der Blick durch den Schlitz im Karton als Reflexion filmi­scher Kadrie­rung und Perspek­ti­vie­rung. Kino als Fenster zur Welt und zu den eigenen Obses­sionen. Ein fantas­ti­sches Wunder­werk. – Janick Nolting

Cidade; Campo (BR/D/F 2024 · R: Juliana Rojas · Encoun­ters)

Stadt, Land, ohne Fluss. Juliana Rojas Grundidee ihres zwei­ge­teilten Films ist bestechend. Wird im ersten Teil mit präzisem Blick gezeigt, wie Binnen­mi­gra­tion mit allen ihren Schwie­rig­keiten in Brasilien vom Land in die Stadt funk­tio­niert, wie gesell­schaft­liche Hier­ar­chien, Korrup­tion und misogyne Struk­turen einen Neuanfang erschweren, verliert sich Rojas im zweiten Teil zunehmend. Zwar über­rascht Rojas mit dem Topos des umge­kehrten Weges, der Migration zweier junger lesbi­scher Frauen aufs Land. Doch was im ersten Teil noch präzises Erzählen war, wird im zweiten Teil mehr und mehr zu einer diffusen Melange aus Geis­ter­glaube, erra­ti­schen Dialogen und Liebes­szenen und einer unaus­ge­go­renen Geschichte über den Verlust von fami­liären Bezugs­per­sonen. – Axel Timo Purr

Cuckoo (D/USA 2024 · R: Tilman Singer · Berlinale Special Gala)

Form­voll­endete Klischees: Ein herun­ter­ge­kom­menes Resort in den baye­ri­schen Alpen samt dubiosem Besitzer. Eine dysfunk­tio­nale Patch­work­fa­milie samt rebel­li­scher Tochter im Teen­ager­alter. Dunkle Wälder samt merk­wür­diger Geräusche und sche­men­haften Schatten. Ja, inhalt­lich bietet Cuckoo wenig Neues. Darum: Volles Augenmerk auf die Form. Denn hier beginnt der Film zu strahlen. Langsame, statische Zooms, eine flirrende, disso­zia­tive Tonge­stal­tung, und – über allem thronend – das unglaub­liche Set- und Kostüm­de­sign. In Anlehnung an das B-Movie, speziell an den italie­ni­schen Horror­film der 80er-Jahre (man denkt unentwegt an Argento), entwi­ckelt Singer eine Bild­sprache, die so selbst­ver­s­tänd­lich und aufrichtig anmutet, dass es eine pure Freude ist. Kino als reiner Selbst­zweck also, die schiere Lust am Zeigen und Über­treiben. Handlung und Logik fallen diesem Ansatz schnell zum Opfer, gerade das ist aber das Schöne. Ein pulsie­render, wilder Film, manchmal etwas drüber, doch selbst dann noch absolut stil­si­cher. – Benedikt Gunten­taler

Dahomey (F/Senegal/Benin 2024 · R: Mati Diop · Wett­be­werb)

Resti­tu­tion greifbar gemacht: Wie schon in ihrem Film Atlan­tique sind auch in Diops Doku­men­ta­tion über die Zurück­füh­rung von 26 Kunst­schätzen des König­reichs Dahomey in das heutige Benin Geister am Werk, ist auch hier die Über­que­rung des großen Wassers Heils­ver­spre­chen. Nur halt in anderer Richtung. Der Benin-Teil ist dann auch der stärkste Teil von Dahomey, weil Artefakt 26 nicht mehr pathe­tisch raunen muss, sondern endlich Studenten der Univer­sität von Abomey-Calavi über den Sinn der Zurück­füh­rungen disku­tieren und zusammen mit Diops Blick auf das neu etablierte Museum für die Artefakte vers­tänd­lich macht, was in Europa kaum einer mehr versteht: das Kultur­erbe immer auch ein unschätz­barer Motor kultu­reller Identität und wirk­li­cher Unab­hän­gig­keit ist. – Axel Timo Purr

Des Teufels Bad (AT/DE 2024 · R: Veronika Franz, Severin Fiala · Wett­be­werb)

Body Horror im Wald­viertel des 18. Jahr­hun­derts. Die Religion gibt die Welt­ord­nung vor. Agnes kommt in die fremde Gemein­schaft der Fluss­fi­scher, ihr Mann hat für sie ein dunkles, herun­ter­ge­kom­menes Steinhaus tief im Wald vorge­sehen. Ständig verläuft sie sich zwischen moosü­ber­wach­senen Find­lingen, Steins­grotten und den ewig gleichen Baum­stämmen. Schwanger wird sie nicht. Halt geben soll das Beten, Rosen­kranz beim Kochen, die Beichte vor dem Tod. Wenn man mit dem Leben nicht klarkommt, gibt es nur einen sehr, sehr grausamen Ausweg, der den histo­risch verbürgten Plot des Films bildet. Das Regie-Duo Franz und Fiala lassen den Horror ganz allmäh­lich in ihren reduziert insze­nierten Film hinein­gleiten. Ein sehr wahr­haf­tiges Meis­ter­werk in Natür­lich­keit und Mundart. Wer Genre oder Mystik erwartet, wird enttäuscht. – Dunja Bialas

Grausig war’s. Dieser Film ist stim­mungs­voll insze­niert, ja. Seine starr durch­kom­po­nierten Horror­bilder sind jedoch so bemüht mit Schwere und Ballast einer ange­strebten Authen­ti­zität aufge­laden, dass sie kaum merken, wie museal und zäh die zigfach durch­ge­kaute Beob­ach­tung von Fana­tismus, Aber­glaube und Degra­die­rung geraten ist. Zeitlos brisant soll das sein, doch all die ener­vie­renden Schocker-Szenen dieser Gewalt­er­zäh­lung bleiben ästhe­tisch im histo­ri­schen Natu­ra­lismus wegge­sperrt. Erinnert eher an reiße­ri­sche True-Crime-Geschichts­stunden und Video-Esssays über die finstere, vermeint­lich über­wun­dene Vergan­gen­heit und ihre brutalen Praktiken. Das bislang schwächste, bere­chen­barste Werk des eigent­lich starken Duos Franz und Fiala. Lieber Lukas Feigel­felds artver­wandten Hagazussa sehen! – Janick Nolting

Schlimmer als der Aber­glauben aber ist der Glauben. Der abge­trennte Finger einer hinge­rich­teten Mörderin bringt Frucht­bar­keit. Meint man Mitte des 18. Jahr­hun­derts in der öster­rei­chi­schen Provinz. Warum die Frau aber das Verbre­chen beging: Die Kirche predigt, dass der Freitod zwingend zur ewigen Verdammnis führt – für reuige Mörde­rinnen aber Abso­lu­tion möglich ist. Ein Dilemma für eine wie Agnes (mit vollem Einsatz: Anja Plaschg, alias Soap&Skin), eine Fremde in ihrem Dorf, ihrem Leben, in eine Ehe geraten mit einem Mann, der womöglich mit Frauen nichts anfangen kann, leidend an »Melan­cholie«. Franz & Fiala verab­schieden sich vom klas­si­schen Horror-Genre. Liefern ein beklem­mendes Geschichts­ge­mälde mit Blick aufs von der gängigen Histo­rio­gra­phie Verges­sene, Verdrängte. Die immersive Erfahrung einer Depres­sion in einer Zeit, die keine Begriffe dafür hat außer: Ich will weg von der Welt. – Thomas Willmann

Töten, um zu sterben und erlöst zu werden: Ein Film der ganz großen Bilder, die von klir­render Einsam­keit, auto­ag­gres­siver Wucht und einem unbe­dingten Nein zum Leben und einer ganz großen Anja Plaschg in der Haupt­rolle geprägt sind. Wie Veronika Franz & Severin Fiala über diese Bilder dann auch noch vom bäuer­li­chen Leben in Oberös­ter­reich im Jahr 1750 erzählen, von Frauen, die töten, um selbst endlich getötet zu werden, ist leib­haftig gewor­dener Horror, aber histo­risch belegt und immer wieder meis­ter­lich. Dazu die histo­ri­sche Akku­ra­tesse bäuer­li­chen Alltags, die mit ihren feinen Detail­zeich­nungen verblüfft und dann nicht nur durch das Grauen dieser Vergan­gen­heit schockt, sondern wie viel von dieser Vergan­gen­heit noch in unserer Gegenwart steckt. – Axel Timo Purr

L’Empire (F/D/B/P 2024 – R: Bruno Dumont – Wett­be­werb)

Empire
(Foto: Berlinale | Tessalit Produc­tions)

Das All ist überall. Sagt ja schon der Name. Warum also nicht den kosmi­schen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den »Einsern« und den »Nullern« in ein heutiges nord­fran­zö­si­sches Küsten­kaff verlegen? L’empire hätte dabei eine platte Genre-Parodie werden können, wenn Provinz-Kack­spechte die Licht­schwerte schwingen. Vielmehr aber setzt Bruno Dumont nur den mit P'tit Quinquin und seinem Jeanne d’Arc-Zyklus beschrit­tenen Weg fort. Und findet das Humane im Absurden, das Mythische im Alltäg­li­chen. Auch wenn der Film sich zwischen­zeit­lich narrativ ziemlich totläuft: Auf wunder­same Weise bringt er zwischen Kathe­dralen-Raum­schiffen und Laien­dar­stel­lern als Dorf­po­li­zisten dem SF- und Fantasy-Genre das Staunen, die profunde Naivität, die an Daseins­fragen rührende Magie zurück, wie es in den letzten Jahren kaum ein Block­buster mehr geschafft hat. – Thomas Willmann

Gut und Böse sind hier einfach nur »Nullen« und »Einsen«. Moralisch entleerte, reine Setzungen. Theologe Bruno Dumont schickt außer­ir­di­sche Krieger in den manichäi­schen Kampf. Das ist bei ihm alles recht irdisch, ange­sie­delt im breto­ni­schen Jeanne-d’Arc-Setting zwischen menschen­leeren Sanddünen und kargen Bauern­höfen. Wer hier böse, wer hier gut ist, und vor allem auch, warum, spielt keine Rolle mehr. Es geht um die Prin­zi­pien in Reinform. Ebenso pur ist die Insze­nie­rung. Licht­schwerter leuchten zwischen Kuhfladen, knappe Beklei­dung sind martia­li­sche Insignien. Die Frauen: allesamt Amazonen, die Männer: rechte Trottel. Die Bunker an der Küste dienen als Andock­sta­tionen für die gigan­ti­schen, frei flie­genden Kirchen-Raum­schiffe. Bruno Dumont lässt den Theismus in einer abstrakten Allmacht aufgehen, während die Ermittler aus P'tit Quinquin vergeb­lich versuchen, die Ereig­nisse zu durch­schauen. – Dunja Bialas

Une famille (F 2024 · R: Christine Angot · Encoun­ters)

Auto­fik­tio­nale Spuren­suche jenseits aller Schmerz­grenzen: Die Autorin Christin Angot tut das mit der Kamera, womit sie schon lite­ra­risch Tabus gebrochen hat: Über den Miss­brauch durch ihren leib­li­chen Vater erzählen. Das ist brutal, über­griffig und in der rohen Hyper­rea­lität zeitweise kaum zu ertra­gende Work in Progress, mehr noch als wir uns hier im vermeint­lich reflek­tiven, fran­zö­si­schen Bildungs­bür­gertum befinden. Ein Film, der ohne MeToo nicht möglich gewesen wäre und auch dadurch besticht, dass Angot ihr Lebens­thema einer­seits verflucht, um dann doch gnadenlos Bekannte, Freunde und Familie an den Rand der Verzweif­lung zu treiben. Die dunkle Variante von Joan Baez – I Am a Noise, nach der sich jeder zur gesunden Selbst­re­gu­lie­rung Sarah Polleys Stories We Tell ansehen sollte, um das Modell Familie nicht komplett in die Tonne zu treten. – Axel Timo Purr

Gloria! (I/CH 2024 · R: Marg­he­rita Vicario · Wett­be­werb)

Aufstand der Waisen. Klas­si­scher kann man das Feel­good­movie-Potential kaum ausreizen. Und wohl auch kaum vorher­seh­barer. Arme Waisen­mäd­chen in einem vene­zia­ni­schen Waisen­haus der katho­li­schen Kirche eman­zi­pieren sich über die Musik. Doch Marg­he­rita Vicarios gelingt es dann immerhin, über die vielen kleinen Neben­schau­plätze und histo­ri­schen Details Interesse zu wecken. Sei es die Andeutung, dass schon die fran­zö­si­sche Revo­lu­tion auch ein erstes Aufbe­gehren der Frauen war, als auch die musi­ka­li­schen Details, ange­fangen von einem der ersten Klaviere bis zu verges­senen Kompo­nis­tinnen, denen dieser Film gewidmet ist. – Axel Timo Purr

Gokogu no neko (The Cats of Gokogu Shrine) (Japan 2024 · R: Kazukiro Soda · Forum)

»Es tut mit leid, dass du mir vertraust«: Die frei­wil­lige Helferin, die eine Katze anlockt, meint es gut – weiß aber, dass sie dem Tier erstmal seine Selbst­be­stimmt­heit, Unver­sehrt­heit nimmt. Es leben viele streu­nende Katzen am Gogoku Tempel in einem japa­ni­schen Hafenort. Zu viele, findet man. Und lässt jedes Jahr einige von ihnen steri­li­sieren. Dennoch kümmern sich Dorf­ge­mein­schaft, Touristen und Fischer fürsorg­lich um die lieb­ge­won­nenen Streuner. Kazuhiro Soda setzt seine Reihe beob­ach­tender Dokus fort – mitt­ler­weile selbst Einwohner des Örtchens Ushimado. Was als Film über die Tempel­katzen beginnt – schon da mit sehr starken (tieri­schen) Charak­teren – entfaltet sich unge­zwungen, subtil, mensch­lich zu einem Blick auf eine überal­ternde Gemein­schaft und den ewigen Zyklus von Vergehen und Neugeburt. – Anna Edelmann & Thomas Willmann

The Great Yawn / Khamy­a­zeye bozorg (Iran 2024 · R: Aliyar Rasti · Encoun­ters)

Eine staubige Parabel in den felsigen Land­schaften des irani­schen Hinter­landes. Beitollah braucht für die Bergung eines ge- oder auch nur erträumten Münz­schatzes einen nicht-gläubigen Hand­langer. Er selbst möchte seine Erlösung durch Gott nicht verwirken, wenn er das fremde Geld an sich nehmen würde. Nur als Geschenk seines Beglei­ters dürfte er es unge­straft behalten. – Ein Porträt Samuel Becketts im Schau­fenster einer Buch­hand­lung weist den beiden Männern den Weg ins Nirgendwo, das gut auch »Godot« heißen könnte. Düstere Bart­träger verrennen sich in der Sackgasse ihrer Trost­lo­sig­keiten. Die steinigen Hänge geben keine Antworten. Geröll und verfal­lende Mauern wollen nur als das gesehen werden, was sie sind. Sodass sich hier selbst das Alle­go­ri­sche als leer und hohl erweist. Das große Nichts als letzter Sinn. – Wolfgang Lasinger

Henry Fonda for President (Ö/D 2024 · R: Alexander Horwath · Forum)

Zukunft ist Vergan­gen­heit. Über drei Stunden dauert dieser merk­wür­dige Film, der sich grazil bewegt zwischen Doku­men­ta­tion und Essayfilm, unter­füt­tert mit sanften Anleihen an das expe­ri­men­telle Kino. Erzählt wird von Henry Fonda und dessen schau­spie­le­ri­schen Laufbahn, immer wieder verknüpft mit damaligen poli­ti­schen Entwick­lungen. Regisseur Horwath verbindet diese Erzäh­lungen mit Aufnahmen des heutigen Amerikas, erzählt also vom Vergan­genen und dem, was sich daraus entwi­ckelt. Das Kino als Reenact­ment, in dem Fiktion und Realität verbunden werden, die Vergan­gen­heit befragt wird, um die Gegenwart zu verstehen. Diesen Ansatz setzt der Film meis­ter­haft um, insbe­son­dere, weil die Nach­stel­lung hier nicht fiktional ist, sondern durch Archiv­auf­nahmen oder doku­men­ta­ri­sche Form gefasst wird. Dabei zeigt sich: Das Kino ist – in sämt­li­chen Formen – mehr als eine Annähe­rung an das Reale, es zeigt immer mehr als da ist, lässt das Unmög­liche erahnen.
Ein trium­phales Werk. – Benedikt Gunten­taler

Hors du temps (Suspended Time) (F 2024 · R: Olivier Assayas · Wett­be­werb)

Auto­fik­tion im Lockdown. Doku­men­ta­risch nähert sich die Kamera von Eric Gautier einem kleinen Dorf im Dépar­te­ment Yvelines. Apfel­bäume. Grüne Wiesen. Aufblühende Natur. In die Jahre gekommene alte Häuser, Landsitz des Bürger­tums. Keine Bauern­höfe, kein Leben auf dem Land. Dazu kommen­tiert Olivier Assayas aus dem Off: Wie verlassen alles ist, wie grün die Wiesen stehen. Dass die Kunst und das Kino den Kontakt zur Natur verloren haben, anders als noch bei Jean und Auguste Renoir… So der melan­cho­li­sche Horizont. Wechsel in die fiktio­nale Ebene. Des Filme­ma­chers Alter Ego (Vincent Macaigne) verbringt mit seinem Bruder (Micha Lescot) den ersten Lockdown im April 2020 zwischen Crêpes-Zube­rei­tung und Revenge Buying. Stan­dard­si­tua­tionen des Lockdowns eben. Außerdem sind da die zwei frischen Freun­dinnen dabei. Eine Komödie und einer der persön­lichsten Filme des fran­zö­si­schen Regis­seurs. – Dunja Bialas

Es reicht mit David Hockney! »Pauls« Freundin kann’s nicht mehr hören, dass er Äuße­rungen des Malers ständig als Autorität zitiert. »Paul« ist Olivier Assayas alter Ego. Und die Hockney-Zitate nur eine Facette seiner Selbst­ka­ri­katur. Ausge­rechnet Assayas' Lockdown-Film entpuppt sich als sein lockerstes Werk seit Langem. Ein Mix aus doku­men­ta­ri­scher Auto­bio­gra­phie über das dörfliche Eltern­haus, in dem der Regisseur, sein Bruder und beider Lebens­ge­fähr­tinnen den ersten Pandemie-Sommer verbrachten – und einem fiktio­na­li­sierten Selbst- und Grup­pen­por­trait. Die Ausnah­me­si­tua­tion verschärft die Charak­ter­ei­gen­heiten, bringt zwischen­mensch­li­chen Konflikte zum Ausdruck. Assayas schafft es mit diesem vergnüg­lich-weisen Film, nicht nur formal innovativ zu werden, sondern auch eine Außen­per­spek­tive auf sein Selbst zu finden. – Anna Edelmann & Thomas Willmann

Ivo (D 2024 · R: Eva Trobisch · Encoun­ters)

Menschen lachen, Menschen weinen. Ivo (Minna Wündrich) ist ambulante Pallia­tiv­pfle­gerin, sie fährt von Patient zu Patientin, eine davon ist ihre Freundin Solveigh (Pia Hier­zegger). Mit deren Mann Franz (Lukas Turtur) hat Ivo eine Affäre: zwei, die anein­ander fest­halten, während sie eine geliebte Person verlieren. Das alles ist ganz unauf­ge­regt erzählt, in dichten, fein beob­ach­teten und liebe­vollen Szenen: wie Ivo einen Stein aus dem Schuh eines Patienten holt, ihr Schrank voll von geschenkten Sekt­fla­schen und Pralinen, das gemein­same Beob­achten von Trep­pen­liften, die sich wie Raupen bewegen, die Tauben am Haus und die Frau von nebenan die Pasta für eine eben Verstor­bene vorbei­bringt. Neben den Schau­spieler*innen sind es auch die Menschen, die in ihrer Profes­sion agieren, als Ärzte oder Pfle­ge­kräfte, die den Film so genau und berührend machen. – Nora Moschüring

Langue Étrangère (F/D/B 2024 · R: Claire Burger · Wett­be­werb)

DFF statt DAF. Claire Burgers ist auf den ersten Blick ein immer wieder leichtes und jugend­li­ches Coming-of-Age-Drama zweier Schü­le­rinnen eines Austausch­pro­gramms einer Leipziger und einer Straß­burger Schule. Aber die deutsch-fran­zö­si­sche Freund­schaft, die sich hier unter vielen Hinder­nissen anbahnt, ist auf den zweiten Blick dann doch viel mehr. Denn im Kern zeigt Burger über die verschie­denen Gene­ra­tionen auch das Coming-of-Age unseren jungen Europas. Während die älteren Gene­ra­tionen noch unter Lug und Trug leiden, geht die junge Gene­ra­tion – vereint im Antifa-Denken, Techno, schoko-über­zo­genen Mushrooms und unbe­dingter Wahr­heits­liebe – offen aufein­ander zu. Ein echter Europa-Film und trotz etwas übereif­riger Dreh­buch­ka­priolen, allein schon deshalb wichtig und sehens­wert. – Axel Timo Purr

My Favourite Cake (Irland/F/S/D 2024 – R: Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha – Wett­be­werb)
Trinkst du ein Glas Wein mit mir? Mit verschmitztem Lächeln zaubert die 70-jährige Mahin eine uralte Flasche verbo­tenen Alkohol aus ihrem Versteck. Der Taxi­fahrer Faramarz und sie kennen sich erst seit ein paar Stunden. Aber sie teilen eine gemein­same Vergan­gen­heit: Sie haben den wilden Iran der 70er erlebt – und sind doch nach der Revo­lu­tion geblieben. In dieser einen Nacht lassen sie hinter zuge­zo­genen Vorhängen alle Zwänge und einige Gesetze hinter sich. Sie trinken, sie tanzen und sie lieben sich. Verwoben in eine Art Before Sunrise, zeigt My Favourite Cake ein selten gesehenes, unerhört und komisches, aber ehrliches Bild des Lebens im Iran: Nicht reduziert auf eine Opfer­rolle, rebel­lieren Mahin und Faramarz im Privaten und erkämpfen sich voller Glück und Lebens­freude ein Stück verlo­rener Freiheit und längst vergan­gener Jugend zurück. – Anna Edelmann

My Stolen Planet / Sayyareye dozdide shodeye man (D/Iran 2024 · R: Farahnaz Sharifi · Panorama)

Ein Stück Stoff, der Hijab, wird zum Emblem der Unter­drü­ckung. Die im Jahr der irani­schen Revo­lu­tion Khomeinis 1979 geborene Regis­seurin Farahnaz Sharifi gibt einen sehr eindring­li­chen Einblick in die Repres­sion, die Frauen in dem isla­mi­schen Staat erfahren. Die Einschu­lung erlebt sie als einschnei­dende Trennung von Öffent­lich und Privat, als Diebstahl ihres Planeten der unbe­fan­genen Freiheit. Anhand von 8mm-Filmen, die aus der eigenen Familie und aus anonymen Nach­lässen stammen, doku­men­tiert und kommen­tiert die Regis­seurin das Private als einzigen Rück­zugs­raum der Frauen, in dem sie etwa tanzen, singen, sich arti­ku­lieren können. Wie das Persön­lich-Intime vom Öffent­lich-Poli­ti­schen kündet, das zeigt dieser aufwüh­lende Tagebuch-Doku-Essay bis zu den jüngsten Unruhen im Iran, die sich am Tragen des Hijabs entzün­deten. – Wolfgang Lasinger

Seit 40 Jahren: Gehen sie für ihre Freiheit auf die Straße. 40 Jahre: Der immer­gleiche Kreislauf von Hoffnung und Enttäu­schung. Sie hat keine Hoffnung mehr, sagt eine der Frauen auf dem Heimweg. Aber sie lachen dabei. Es ist einer der Hunderte privater Momente im Freundes-, Fami­li­en­kreis, die Farahnaz Sharifi einge­fangen hat. Sharifi filmt, manisch: All die Momente bewahren, die den öffent­li­chen Bildern des Iran wider­spre­chen. Wo ihre eigenen Foto-, Handy-, Video-, Film­ka­meras nicht hinkamen, sammelt sie fremdes Super8-Material. Frauen daheim beim Tanzen; Parties, bei denen die Sitten­po­lizei an der Tür klingelt; A capella-Karaoke mit John Lennons »Imagine«. Sharifis Film schließt die Kluft zwischen den gewohnten, genrehaft gewor­denen Bildern von Protest und Heim­fil­merei. Bringt einem frappant nah: Das sind alles ganz normale Menschen – das könnten alles wir selber sein. – Thomas Willmann

Pepe (Domi­ni­ka­ni­sche Republik 2024 · R: Nelson Carlos De Los Santos Arias · Wett­be­werb)

Hier waren unzwei­fel­haft Drogen im Spiel. Pepe ist in Latein­ame­rika der Name eines beliebten Zeichen­trick-Nilpferds, das nicht nur fliegen kann. Der domi­ni­ka­ni­sche Regisseur Nelson Carlo de los Santos Arias hat »Pepe« zu seiner Titel­figur gemacht und lässt das Nilpferd mit KI-gene­rierter Stimme aus dem Limbo sprechen. Es klärt darüber auf, dass es, in Kolumbien erschossen, eigent­lich aus Namibia kommt, tut das zwei­spra­chig, in Spanisch und Afrikaans. Während­dessen wird rück­bli­ckend der Transport und das Auswil­dern einer drei­köp­figen Nilpferd-Herde im Drogen­boss-umkämpften Hinter­land erzählt. Hubschrauber-Aufnahmen zeigen die wie Steine im Fluss ruhenden Tiere, Nahauf­nahmen ihre Wendig­keit unter Wasser. Ein überaus hybrider Spiel-Essay-Film, der Histo­ri­sches, Zeichen­trick und Fiktion zum großen Imaginären eines verlo­renen Konti­nents webt. – Dunja Bialas

Reas (Argen­ti­nien/D/CH 2024 · R: Lola Arias · Forum)

Ein Ruinen-Musical. Mitten in Buenos Aires steht ein altes Gefängnis. Das Krimi­nelle will man aus Wohnraum und Wahr­neh­mung verbannen, also bleiben nur verfal­lene Mauern übrig. Lola Arias und eine Gruppe ehema­liger Inhaf­tierter schreiten nun zur subver­siven Tat und beleben diesen Schau­platz mit ihren Geschichten, Fantasien, schmis­sigen Musical-Nummern. Es geht darum, jenes Verdrängte wieder in eine Präsenz zu über­führen, Empathie zu entwi­ckeln und den realen Erfah­rungen zu lauschen, die die einzelnen Frauen in geskrip­teter, brüchiger Form durch­spielen. Wie Arias’ Teatro de guerra ist auch dieses Projekt ein kluges, offenes Expe­ri­ment mit dem Schau­spiel an sich, das die eigene Fiktio­na­lität und Illusion nach deren sicht­baren und unsicht­baren Codes abtastet und sie zum Einsturz bringt. – Janick Nolting

Repro­duk­tion (D 2024 · R: Katharina Pethke · Forum)

Von Gebäuden und Biogra­fien. Da steigt er hinunter: Der nackte, männliche Genius und begrüßt alle ange­henden Studie­renden in der Aula der HfbK Hamburg. Das Wand­ge­mälde »Die ewige Welle« (1918) von Willy von Beckerath bildet zusammen mit dem Fritz Schu­ma­cher Bau (1911-13) und dem Nach­barbau, dem Institut für Geburts­hilfe (1911-14), das Eintrittstor für Pethkes klugen Film über Frauen in der Kunst. Anhand der Biografie ihrer Groß­mutter, ihrer Mutter und ihrer eigenen, sucht sie nach den Gespens­tern der Vergan­gen­heit. Alle drei haben hier studiert, alle drei haben unter dem Gemälde gesessen, aber nur Pethke macht bis heute Filme – und hat zwei Kinder. Eine sehr persön­liche, dichte Analyse von Struk­turen, veran­schau­licht in Archi­tektur und an Kunst­werken, die in sich auch eine Befreiung ist. – Nora Moschüring

The Roundup: Punish­ment (Beom-Joe-do-si 4) (Südkorea 2024 – R: Heo Myeong-haeng – Berlinale Special Gala)

Ist das eine digitale Faust? Nein, freilich nicht! Doch auch wenn das Verbre­chen in die Virtua­lität entfleucht, braucht’s einen wie Detective Ma, es zu stoppen. Kurz flirtet der vierte Teil der The Roundup-Filme mit der Kluft zwischen Mas brachialen Methoden und der modernen Welt, wo Gangster Online-Casinos betreiben. Aber dann ist schnell wieder alles beim Alten. Unter uns: Die Reihe war nie die Speer­spitze inno­va­tiven Action-Kinos. Ihr Verhältnis zu Poli­zei­ge­walt bleibt... nun, nennen wir’s sorglos. Und allmäh­lich tritt sie in die Phase, wo’s mehr um pavlov­sche Begeis­te­rungs-Reaktion auf’s Bekannte geht als virtuose Variation. Selbst der einst origi­nellen Konfron­ta­tion von Mas massigem Boxer/Street Brawler-Stil mit fili­gra­nerer Martial Arts gehen die neuen Moves aus. Aber: Nach ein paar Tagen Berlinale reicht’s, und macht’s glücklich, wenn Don Lee einfach ganz analog auf die Mütze gibt. – Thomas Willmann

Sasquatch Sunset (USA 2024 · R: David & Nathan Zellner · Berlinale Special)

Es ist noch Mutter­ku­chen da: In der Wildnis kann man nicht zimper­lich sein – und lieber bekommt der hungrige Berglöwe die Nach­ge­burt statt des Neuge­bo­renen. Zu dem Zeitpunkt ist die zottelige Vierer­bande im Zentrum dieses Offroad Trip-Films ohnehin durch die Fährnisse ihres Daseins schon dezimiert. Wir folgen den Bigfoots durch vier Jahres­zeiten. Mit Riley Keough, Jesse Eisenberg & Co. im Ganz­kör­per­kostüm und lediglich Grunzlaut-Dialogen. Klingt nach Gimmick – aber funk­tio­niert uner­wartet wunderbar. Obwohl die Primaten-Masken nicht den expres­sivsten Stand der FX-Makeup-Kunst reprä­sen­tieren, baut man schnell eine emotio­nale Bindung zu dem Wald­men­schen-Clan auf. Die Zellners (Damsel) zele­brieren freilich weiterhin ihren trocken absurden Humor – doch ihr Beitrag zum »Kreislauf des Lebens«-Themas, das diese Berlinale prägt, ist insgeheim über­ra­schend wahr­haftig und berührend. – Thomas Willmann

Sex (N 2024 · R: Dag Johan Haugerud · Panorama)

Es war ja nur Sex. Findet ein Schorn­stein­feger, als er seinem Freund und Vorge­setzten erzählt, dass er spontan mit einem Kunden geschlafen hat. Und dabei zum ersten Mal mit einem Mann. Für ihn ein profundes Erlebnis – das vermeint­lich aber nichts an seiner Ehe ändert. Nur seine Frau sieht das dann nicht so locker. Trotz des knalligen Titels ist der Film eine in dezi­dierten Einstel­lungen einge­fan­gene Folge von Zwei- (und mitunter Drei-)Gesprächen. Ein Konver­sa­ti­ons­stück – das sich in selt­sa­mere Sphären schraubt. Weder mit den gefällig einfachen Antworten einer sexpo­si­tiven Bezie­hungs­komödie – auch wenn es eine hoch­ver­gnüg­liche Szene mit einer resoluten Ärztin gibt. Noch mit der Strenge und Zerknir­schung etwa eines Bergman – auch wenn SEX Glau­bens­fragen stellt und Hannah Arendts Theorien zu Identität, Freiheit, Gesell­schaft anklingen lässt. – Thomas Willmann

Shahid (D 2024 · R: Narges Kalhor · Forum)

Der Name des Todes. Die iranische Filme­ma­cherin will ihren dämo­ni­sierten ersten Nachnamen (wörtlich »Märtyrer«) loswerden und muss dafür dem zustän­digen Kreis­ver­wal­tungs­re­ferat in Deutsch­land noch ein psycho­lo­gi­sches Gutachten über ihre post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­störung vorlegen. Eine Schau­spie­lerin gibt den Avatar von Narges (Shahid) Kalhor, die Dreh­ar­beiten werden wegen Unsi­cher­heiten in der Rekon­struk­tion der Vergan­gen­heit immer wieder durch­bro­chen, und auch sonst ist der zweite Film der begna­deten Fikti­ons­i­ro­ni­kerin wieder einmal hoch­gradig selbst­re­flexiv. Schwarz­ge­wan­dete tanzende Derwische heben immer wieder aufs Neue an, während der Film sich schwin­del­erre­gend im Kreis zu drehen beginnt. »Zwischen dem Gestern und dem Morgen fängt meine Geschichte an.« – Dunja Bialas

Skin in Spring / La piel en primavera / (Kolumbien/Chile 2024 · R: Yennifer Uribe Alzate · Forum)

Beob­ach­tender Alltags­rea­lismus in der kolum­bia­ni­schen Großstadt Medellín. Die Kamera heftet sich an die allein­er­zie­hende Sandra, die einen Security-Job in einer Shopping Mall antritt. Die Kontroll­gänge in Uniform, lange Busfahrten zum Arbeits­platz, der Tratsch mit den neuen Kolleg*innen, der 15-jährige Sohn zu Hause, der sich mehr für die neue Freundin inter­es­siert, der Flirt mit dem Busfahrer… Ungla­mouröse Wirk­lich­keit wird halb­do­ku­men­ta­risch in geduldig inten­siven Einstel­lungen einge­fangen. Vor allem die urbane und soziale Geräusch­ku­lisse und der populäre Straßen­sound des Barrio Belén Las Violetas in Medellín geben dem Debütfilm von Yennifer Uribe Alzate einen unver­gleich­li­chen Touch. Und Haupt­dar­stel­lerin Alba Liliana Agudelo Posada verleiht ihrer Figur Sandra große Über­zeu­gungs­kraft auch in den kleinsten Gesten und Regungen. – Wolfgang Lasinger

Spaceman (USA 2024 – R: Johan Renck – Berlinale Special Gala)

Kosmonaut nach Haus tele­fo­nieren. Jakub und seine schwan­gere Frau Lenka führen – zumindest vorü­ber­ge­hend – die entfern­teste aller Fern­be­zie­hungen: Er schwebt auf werbe­fi­nan­zierter Solo-Mission im All und sie wohnt in Tsche­chien. Einzig eine retro-futu­ris­ti­sches Tele­fon­ka­bine verbindet die beiden „Star-Crossed Lovers“. Doch die räumliche Distanz lässt Lenka an ihrer Ehe zweifeln und im Weltraum klingelt das Telefon nicht. Die Isolation lässt Jakub über sein Verhalten sinnieren, wobei ihm ein freund­li­ches, spin­nen­ar­tiges Alien namens Hanuš unge­be­tene Hilfe leistet. Voller Expe­ri­men­tier­freude schöpft „Spaceman“ seine Inspi­ra­tion aus der großen Tradition des tsche­chi­schen Fantas­ti­schen Films, aus den Werken von Stanislaw Lem und selbst aus Antonín Dvořáks „Rusalka“. Eine wilde Mischung, die zwar nicht ganz stimmig ist, aber bis zum Schluss die Faszi­na­tion für das Unbe­greif­liche aufrecht­er­hält. – Anna Edelmann

Sterben (D 2024 · R: Matthias Glasner · Wett­be­werb)

Warum wir so furchtbar sind: Mathias Glasner gelingt fast schon die Quadratur des Kreises. In drei Stunden, die niemals zu lang sind, erzählt er gnadenlos, mal lakonisch,mal sarkas­tisch und dann wieder umwerfend zärtlich von dysfunk­tio­nalen Familien- und Gesell­schafts­ver­hält­nissen, dem ganz normalen bildungs­bür­ger­li­chen Wahnsinn unserer Gegenwart, erzählt von Liebe und Nicht­liebe und vom Sterben im Alter, im Jungsein und in der Musik und ist dabei ganz bei Manès Sperber, denn »um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoff­nungen endeten – ob sie sanft verbli­chen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Dazu gehört ab Minute 100 einer der groß­ar­tigsten und längsten Mutter-Sohn Dialoge der letzten Jahre und zwanzig Minuten später eine Sexszene, so wild und über­ra­schend und schmerz­voll und großartig wie so vieles in diesem wunderbar traurigen Film. – Axel Timo Purr

»Ein Furz ins Gesicht der Avant­garde!«, empört sich ein blasierter Zuhörer nach der Urauf­füh­rung. »Sterben« heißt die Kompo­si­tion – wann immer der Film über sie spricht, spricht er über sich selbst. Und karikiert gleich schonmal alle seine möglichen Kritiker. Immerhin spürt man, dass für Matthias Glasner persön­liche Dring­lich­keit in diesem Werk stecken muss. Und hätte er’s wie sein Komponist im Film gemacht – reduziert, aufs Wahr­haf­tige konzen­triert – es hätte was werden können. Doch er beerdigt diesen Kern unter endloser Länge; dem alten puber­tären Bedürfnis, auf die Kacke zu hauen (hoch­not­pein­lich: sein Portrait von Alkohol-Exzessen); tausend schlimmen deutschen Kino­kli­schees von wie die Welt ist, wie Menschen handeln, reden (Spoiler: ist sie nicht, tun sie nicht). Aber eh – wie die feige, billige Vorwärts­ver­tei­di­gung schon sagt: Wir haben die große Kunst bloß nicht verstanden... – Thomas Willmann & Anna Edelmann

The Strangers’ Case (Jordanien 2024 – R: Brandt Andersen – Berlinale Special Gala)

Das Los des Fremden. Vor über 400 Jahren verfasste William Shake­speare einen eindring­li­chen Appell zum Mitgefühl gegenüber Flücht­lingen. Regisseur Brandt Andersen, der von seinen persön­li­chen Erfah­rungen mit huma­ni­tärer Arbeit in Flücht­lings­la­gern geprägt ist, treibt eine ähnliche Dring­lich­keit an. Mit seinem Film möchte er ein Publikum wach­rüt­teln, für das die Bericht­erstat­tung über huma­ni­täre Krisen alltäg­lich geworden ist und das die Proble­matik nur allzu gerne ausblendet. Leider über­spitzt sich diese Dring­lich­keit zu einer von Nerven­kitzel getrie­benen Insze­nie­rung, in der die Tiefe der einzelnen Charak­tere auf ein der Handlung dien­li­ches Etikett reduziert wird. Es bleibt kein Raum für ehrliche Emotionen oder wahr­haf­tige Reflexion über den wütenden Schmerz derer, die alles verloren haben, oder die erschöpfte Hilf­lo­sig­keit der Helfer*innen. – Anna Edelmann

Turn in the Wound (D/USA/GB/I 2024 · R: Abel Ferrara · Berlinale Special)

Scheitern an der Ukraine. Abel Ferrara ist losge­zogen, um sich aktuellen Kriegs­er­fah­rungen zu widmen. In einer so naiv erschei­nenden Filmform entspringen ihnen lediglich konfus montierte Inter­view­töne mit erwart­barsten Posi­tionen. Dazwi­schen singt und rezitiert Patti Smith. Bis die Inter­views und dröh­nenden, verpi­xelten Gewalt­szenen eine produk­tive Spannung ergeben, vergeht zu viel Zeit. Der Sprung auf die Metaebene, was es heißt, ein solches Dokument anzu­fer­tigen, bleibt ein unbe­hol­fenes Hüpfen auf der Stelle. – Janick Nolting

Treasure (D/F 2024 · R: Julia von Heinz · Berlinale Special Gala)

»Über­le­bende werden gefahren, alle anderen müssen nach Birkenau laufen.«, mit diesen Worten setzt sich das Golf­wä­gel­chen mit der Touris­ten­füh­rerin, Ruth Rothwax und ihrem Vater, der als junger Mann das KZ Auschwitz überlebte, in Bewegung. Langsam, sehr langsam fährt es entlang an der nicht enden wollenden Reihe Barracken. Man begreift die schiere Größe des Todes­la­gers. In den Augen des sonst überdreht-lebens­frohen Edeks zeigt sich zum ersten Mal eine tiefe Gebro­chen­heit. In diesem einen Moment schafft Treasure, was er sich vorge­nommen hat: basierend auf Lily Bretts Roman »Too Many Men« möchte der Film ein Mix eines lakonisch-senti­men­talen Portraits einer stra­pa­zierten Vater-Tochter Beziehung sein – und ein schmer­zender Zeit­zeu­gen­be­richt. Der Balan­ceakt gelingt selten – aber diesen einen großen Moment, den hat er. – Anna Edelmann

The Under­growth / La Hojarasca (E 2024 · R: Macu Machín · Forum)

Drei Schwes­tern. Maura und Elsa kommen, um ihre Schwester Carmen zu besuchen, die auf dem kargen Anwesen der Großel­tern lebt. Es geht um die Auftei­lung des Erbes unter den alten Frauen. Regis­seurin Macu Machín dreht auf doku­men­ta­ri­scher Grundlage: die drei Alten sind Mutter und Tanten der Regis­seurin. Die vulka­ni­sche Land­schaft auf den kana­ri­schen Inseln ist eine weitere Prot­ago­nistin, in der sich in opaken Bildern und gestrüpp­haftem Dickicht die herme­ti­sche Inter­ak­tion zwischen den Schwes­tern mate­ria­li­siert. Mehr Unge­sagtes als Ausge­spro­chenes lässt die dräuend-atmo­sphäri­sche Tonspur immer wieder an eine archaisch-mythische Schicht rühren, ehe mit der Eruption des Vulkans das Symbo­li­sche in den Film einbricht. Macu Machíns Regie überformt die doku­men­ta­ri­sche Grundlage fiktional und poetisch. – Wolfgang Lasinger

Der unsicht­bare Zoo (D 2024 · R: Romuald Karmakar · Forum)

Tiere sehen dich an. Der Zürcher Zoo ist unter der Tierpark-Top-Ten. Romuald Karmakar hat nach einem abge­bro­chenen Berliner Zoo-Besuch (»die waren nicht koope­rativ«) dort gedreht: die Tiere, die Besucher, die Admi­nis­tra­tion, fünf Jahre, bis Corona die Tiere einsam zurück­ließ. Wir sehen wutent­brannt Fußball spielende Tiger, weil sie noch nicht ins große Gehege dürfen. Wärter verste­cken Essen. Ein künst­li­cher Baobab wird errichtet. Konse­quent verwei­gert er im Fragment die Behaup­tung von Doku­men­tar­film­kohä­renz sowie das Zoo- und Nied­lich­keits-Narrativ, um in die grausamen Ecken der natur­nahen Tier­hal­tung vorzu­dringen. Das verschreckt dann nicht nur die Zoo-Besucher, sondern auch die Kino­zu­schauer. Karmakar ist eben uner­bitt­lich in seinem Blick auf die Welt – aber nur, weil diese auch uner­bitt­lich ist. Hinsehen! Hingehen! – Dunja Bialas

Info­tain­ment ohne Enter­tain­ment: Wer in dieser dreis­tün­digen Doku­men­ta­tion über die Insti­tu­tion Zoo einen Sendung-mit-der-Maus-Beitrag und die Stimme Achim Maiwalds erwartet, ist hier fehl auf dem Kinoplatz. Und auch Zoo-Hasser sollten lieber draußen bleiben. Für alle anderen ist Karmakars in acht Jahren entstan­denes und so meditativ wie subtil analy­ti­sches Biopic des Zürcher Zoos unbedingt empfeh­lens­wert, denn Karamakar zeigt natürlich nicht nur Tiere, Besucher und die admi­nis­tra­tiven Hinter­gründe, sondern macht auch deutlich, dass sich der Zoo wie unsere Gesell­schaft verändert hat, die riskanten Frei­heiten, die wir errungen haben, inzwi­schen auch für die Zooge­sell­schaft gelten. Auch hier liegt das Leben gleich neben dem Tod, das Gelingen neben dem Scheitern. – Axel Timo Purr

Verbrannte Erde (D 2024 · R: Thomas Arslan · Panorama)

Zurück in Berlins Unterwelt. Thomas Arslan schickt seinen Krimi­nellen Trojan 14 Jahre nach Im Schatten in das nächste krumme Geschäft. Wie der Vorgänger ist auch dieser deutsche Genrefilm ein recht zäher und formel­hafter Gangster-Thriller, aber ein düster funkelndes, atmo­sphärisch dichtes Groß­stadt­por­trät. Dessen spät­ka­pi­ta­lis­ti­sche Tristesse lässt Figuren in ihren Kreis­läufen aus Schulden, Geldnot, Gier, Arbeits­auf­trägen und Erpres­sungen nur noch in funk­tio­nalen, knappen Dialogen sprechen. Insze­niert in kühlen, iden­ti­täts­losen Desi­gner­woh­nungen, Hotel­zim­mern, an öden Nicht-Orten, auf Park­plätzen, hinter Lager­hallen und in laby­rin­thi­schen Straßen. Zum Schluss sprechen Fäuste, Knarren, krachendes Metall. Thomas Arslan zeigt die Haupt­stadt einmal mehr in ihrer wahr­haf­tigsten Häss­lich­keit. – Janick Nolting

Who Do I Belong To (Mé el Aïn) (Tunesien/F/Kanada 2024 · R: Meryam Joobeur · Wett­be­werb)

Wenn sich die Söhne dem IS anschließen. Und nur einer wieder­kommt, mit einer schwan­geren, mit dem Nikab verhüllten Frau. Sie wisse nichts über die Frau mit den hell­grünen Augen, klagt Aïcha, die Mutter der Söhne. Einer ist beim IS geblieben, der jüngste ist noch bei ihr. Alle sind rothaarig, auffal­lend sommer­sprossig. Aïcha bekommt Visionen, von den Ereig­nissen im IS, von einem prächtig geschmückten Pferd in einer lila blühenden Land­schaft. Die Wunde an der Hand will einfach nicht verheilen, sie hat sich beim Kartof­fel­schälen geschnitten. Ahnungs­volle Koin­zi­denzen mit den Ereig­nissen, die sich ihrer Kenntnis verschließen. Die Tune­sierin Meryam Joobeur hat mit ihrem Debüt eine kraftvoll-mystische Erzählung geschaffen, die adäquate und eindrucks­volle Bilder für ein kollek­tives Trauma und die Grau­sam­keit unserer Zeit findet. Eine starke Stimme aus dem arabi­schen Raum. – Dunja Bialas

Die Rückkehr des verlo­renen Sohnes. Meryam Joobeur erkundet mit präzisem ethno­gra­fi­schen Blick den Riss, der nicht nur durch die tune­si­sche, sondern wohl jede musli­mi­sche Gesell­schaft geht. Über eine Hirten­fa­milie, deren zwei ältere Söhne sich dem IS ange­schlossen haben und von denen nur einer zurück­kehrt, wird glei­cher­maßen vom Dilemma und den Traumata durch Radi­ka­li­sie­rung erzählt. Joobeur setzt auf subtile, unein­deu­tige Erklärungs­ver­suche, die zwischen intra­fa­mi­liär und wirt­schafts­po­li­tisch chan­gieren und eröffnet dadurch sogar einen univer­salen Blick, deutet an, dass dieses Hirten­leben gar nicht einmal soweit von den Problemen im Zentrum Europas entfernt ist. Nur zum Ende hin verliert der Film mit seinen starken Haupt­dar­stel­lern durch zu viele Leer­stellen von seiner kreativen Wucht. – Axel Timo Purr