NL/D/I/CH/GB 2004 · 85 min. · FSK: ab 16 Regie: M.X. Oberg Drehbuch: M.X. Oberg Kamera: Michael Mieke Darsteller: Chloé Winkel, Rebecca Palmer, Tuva Novotny, Tara Eldres u.a. |
Verträumte staunende Blicke, eine Taxifahrt durch die Neonnacht von Tokio, Bilder, die in gleißendes Weiß zerfliessen, ein junges Mädchen aus dem Westen driftet durch Tokio, einsam und traurig auf einer Suche, der jedes Ziel nur Vorwand ist. Das Szenario kommt einem bekannt vor, und die Frage zu Beginn, gesprochen von einer Mädchenstimme auf Englisch mit französischem Akzent dürften viele Zuschauer bejahen: »Have you ever been to Tokio?« – gerade erst war man dort, mit Sofia Coppola zum Hang-Out im Park Hyatt von Japans Hauptstadt, da geht es schon wieder hin.
The Stratosphere Girl vom deutschen Regisseur M.X.Oberg ließe sich beschreiben als eine deutsche Variante von Lost in Translation, in der die Filmemacher noch viel weniger Geld hatten, als Coppola und die Hauptfigur gar keins – darum wohnt sie nicht in einem Luxushotel, sondern mit drei anderen europäischen Mädchen in einer WG und arbeitet als Hostess. Doch das führt auf die falsche Fährte. Denn auch wenn Stratosphere Girl auf frappierende Weise die Faszination für Japan, die Grundidee der Verlorenheit in der hybriden Metropole, manche Beobachtungen und einige Darstellungsweisen – etwa die Tatsache, dass die japanische Sprache durchweg nicht untertitelt wird – mit Coppola teilt, ist die Grundhaltung doch eine andere. Eher ähnelt der Film solchen Neo-Noir-Thrillern wie Abel Ferraras New Rose Hotel oder David Lynchs Blue Velvet.
Am Anfang sieht man Angela (Chloe Winkel), die engelsgleiche, naseweis-unschuldige Hauptfigur noch durch das Dachfenster eines typisch bundesrepublikanischen Reihenhauses gucken. Kurz darauf blickt sie durch eine ähnliche Badezimmerluke auf den nächtlichen Verkehr in Tokio. Das ist der erste Blick auf Japans Hauptstadt, und er ist gerade in seiner Verstohlenheit und Beiläufigkeit um so glamouröser. Blicke sind sehr viel in Stratosphere Girl, immer wieder geht es darum, wie die Wahrnehmung des Mädchens sich in Zeichnungen verwandelt, wie Körper zur graphischen Fläche, zu Kunst werden. Denn Angela ist Comic-Zeichnerin, die nach Japan gekommen ist, um zu malen, was sie staunend sieht. Je länger sie dort ist, um so mehr nähert sich ihr Stil dem der Mangas an, japanisiert sich. Doch vor allem erlebt sie ein Abenteuer, in dem sie wie eine Noir-Detektivin dem Schicksal einer verschwundenen Russin nachspürt, und daraus wieder eine Comic-Geschichte macht, selbst mit den Heldinnen der Handlung verschmilzt.
Bis zum Ende ist schwer zu sagen, was Traum, was Wirklichkeit sein soll in diesem Film, doch diese Schwäche der Story wird zur Stärke der Beobachtung: Der Film nähert sich der offenen, fragmentarischen Erzählweise des Comics – und damit auch einem sehr gegenwärtigen Lebensgefühl. Ein Triumph der Flüchtigkeit, ein Driften gegen den Strom, bei denen der Zuschauer und die Heroine Angela im japanischen Zauberwald trotzdem vor allem finden, was sie hineinprojizieren – sich selbst – und äußere Fremdheit greifbar wird. Kunstvoll und einfallsreich gelingt Oberg hier vieles auf einmal: Japan-Essay und Nachtstück, Detektivgeschichte und eine Traumnovelle über die Mythen der Metropole.
Gestirnter Himmel, Rummelplatz, eine Verkettung von offenen Geheimnissen und Ungleichzeitigem – der Blick auf die Stadt ist zentral im Kino, weil er dessen Zeiterfahrung räumliche Gestalt gibt. Zugleich: Von allen möglichen Orten ist es die Stadt, die dem europäischen Kino in der Gegenwart am meisten Schwierigkeiten bereitet – wenn seine Geschichten einmal eindeutig an einem bestimmten Ort situiert werden, handelt es sich – so sie nicht in der Vergangenheit spielen – zur Zeit fast immer um einen Ort auf dem Land, in der Provinz, vermeintlich klar und übersichtlich. Dieses Ausweichen vor der Großstadt, das man so in Asien und der USA nicht findet und das erst seit fünf, sechs Jahren bemerkbar ist, mag auch praktische Gründe haben. Doch in der Konsequenz geht dem Kino damit eine zentrale Erfahrung verloren: Eben die eines chaotischen Nebeneinanders, des Diskontinuierlichen, Transitorischen, sich keiner normativen Klarheit beugenden. Das Enigmatische, Mythische, das man so verzweifelt im ja durchaus boomenden Fantasy-Film sucht, könnte man hier in ganz alltäglicher Erfahrung verorten – Geister, Fabelwesen und Magie finden sich auch hier.
M.X. Obergs Film The Stratosphere Girl ist eine der wenigen großen Ausnahmen: Ein Film, der die Großstadterfahrung unmittelbar, das heißt notwendig auch als ganz subjektive, aufzeichnet, der sie zugleich verwandelt in moderne Mythologie, der eine spannende Geschichte erzählt und zugleich über sein Medium und das Erzählen in ihm nachdenkt – alles was Kino sein kann also. Dass der Ort dafür – wie vor Jahren in Téchinés in vielem ganz anders geartetem Loin – ein außereuropäischer ist, in diesem Fall Japans Hauptstadt Tokio, ist kein Zufall.
»Every line you draw, leeds to something.« Das sagt Angela, Ich-Erzählerin und Hauptfigur, gleich in den ersten Minuten. Es ist eine ihrer ersten Erfahrung, die sie in ihrer Passion des Comic-Zeichnens gemacht hat, die zugleich zum Erzählprinzip des Films wird. Angela, klar, heißt auch Engel, und wenn man sie so sieht, mit ihrem langen blonden Haar, das das Gesicht manchmal fast verhüllt, ihrem verschlafenen Blick, ihren elfengleichen Bewegungen, wenn man sie hört, wie sie mit französischem Akzent auf Englisch erzählt, sie beobachtet als Schulmädchen in Deutschland – dann ist offenkundig: Angela ist ebenso sehr nicht von dieser Welt wie sie ein Konzentrat ist, aus gegenwärtigen Erfahrungen: Die Ungleichzeitigkeit und das Fragmentarische sind längst nichts Äußerliches mehr, sind in die Körper und die Köpfe hineingewandert.
Am Anfang lernen wir sie noch kennen in der Welt, in der sie aufwuchs, dann folgt der Film Angela auf ihrem Flug nach Tokio. Als Fan der japanischen Manga-Comics hat sie beschlossen, selbst Comic-Zeichnerin zu werden, in Japans Hauptstadt will sie das Handwerk lernen, Erfahrung sammeln, ganz eintauchen in die geliebte fremde Kultur. Dass sie sich auch in einen Japaner verguckt hat, macht ihr den mutigen Entschluß natürlich leichter.
Wenn man Sofia Coppolas Lost in Translation gesehen hat, einen Idealtyp jener Erzählung einer Stadt-Wirklichkeit, die zugleich zum mythischen Ort wird, zum Schauplatz von Selbsterfahrung in Träumen und Ängsten, dann liegen einige offenkundige Parallelen auf der Hand. Man muss sie erwähnen, darf das auch, weil Regisseur und Autor M.X Oberg seinen Film längst gedreht und fertiggestellt hatte, als Coppolas Film herauskam, und weil es trotz allem genug Unterschiede zwischen beiden Filmen gibt. Doch – und das unterstreicht ja nur die Stärke dieses Films, zeigt dies, dass hier eben etwas »in der Luft liegt« – ein paar Grundideen sind die gleichen: die Verlorenheit in einer hybriden Metropole, das traumwandlerische Flanieren, das an der sinnlichen Oberfläche bleibt und zugleich zu den Tiefen des Existentiellen führt, die Faszination für Japan, und dessen Beschreibung als etwas grundsätzlich Fremdes, für das westliche Auge schwer Durchschaubares. Darum wird auch in diesem Fall die Sprache der Japaner nicht übersetzt. Allerdings vermeidet The Stratosphere Girl weitgehend die poetische Idealisierung, die im Japan-Bild von Sofia Coppola liegt.
Zum ersten Blick der Zuschauer auf Tokio kommt es durch ein lukenartiges Toilettenfenster: Beiläufig, verstohlen, zugleich glamourös. So wird es bleiben. Man sieht mit Angelas Augen die Metropole als Dschungel abstrakter Eindrucke, als Reich der Zeichen, und der Versuche, ihre Bedeutungen zu entschlüsseln. Man sieht zugleich, wie aus Eindrücken und Erlebnissen Erfahrungen werden, sich die Blicke verwandeln in Bilder, Fragmente zu Erzählungen aus einem Guß werden, wie die Realität entsteht, die wir dann kennen aus Büchern, Photographien, Filmen. Denn immer wieder schaut man Angela über die Schulter, sieht sie zeichnen, sieht, wie aus einem Blick ein Bild wird, und wie der Alltag ihres Lebens sich in einen Roman verwandelt. Ab und an werden kurze Abschnitte der Story so als Comic erzählt, und man kann verfolgen, wie die Wahrnehmung des Mädchens sich in den Zeichnungen verwandelt. Je länger sie dort ist, um so mehr nähert sich ihr Stil dem der Mangas an, japanisiert sich.
Angela zieht zu drei anderen europäischen Mädchen in eine WG. Ihr Geld verdient sie als Hostess in einem exklusiven Nachtclub, wo sie – no Sex please! – durch das diskrete Spiel mit den Obsessionen der Einheimischen diesen das Geld aus der Tasche zieht. Das Verhältnis zu den anderen Mädchen ist eine Mischung aus Konkurrenz und jener pragmatischen Gelegenheitsfreundschaft, wie sie einem immer wieder auf Reisen begegnet. Sie erklären ihr, wie man sich Japanern gegenüber verhält. Und doch erscheint ihr Leben immer auf der Kippe zur Gefahr. Zu stark atmet dieser Ort Macht, Geld und Paranoia: Eine Russin ist verschwunden; ihrem Schicksal spürt die naseweis-unschuldige Angela nach. Wie eine Noir-Detektivin lässt sie sich treiben durch das Dickicht der Metropole – und macht aus ihren Erlebnissen wiederum eine Comic-Geschichte, verschmilzt mit deren Heldin...
»I had not even thought to look for adventure, when the adventure found me.« Deutlich dominiert die alte romantische Idee der »aventure« den Film. Nur dass Oberg weiß, dass die wahren Abenteuer eben im Kopf stattfinden. So ist The Stratosphere Girl in seinen Passagen durch die Erzählebenen eine Reflexion über Wirklichkeitsentstehung, zugleich in seinem Nachdenken über Comichelden, eine Reflexion darüber, was eigentlich Heroismus in unseren Tagen und in Geschichten, die der Gegenwart angemessen sind, heißen kann. The Stratosphere Girl erzählt von Parallelwelten und der Vermitteltheit aller Erfahrung.
Stilistisch ähnelt das einer Traumerinnerung: Bilder voll bezaubernder Schwerelosigkeit und Sehnsucht, die in gleißendes Neonlicht zerfließen, grelle, künstliche Farben, dann wieder düstere Nacht. Ein modernes Märchen aus visuellen Assoziationen – zu recht wurde es auf der Berlinale ein Science-Fiction der Emotionen genannt. Es ist dies eine ästhetische Erfahrungsweise, die sehr bewusst gerade darauf verzichtet, sich auf Wahrheit auszurichten, die keine Geschichte im herkömmlichen Sinn mit braven Plotpoints und konventioneller Figurenzeichnung erzählt, sondern mit den Mitteln Montage und Demontage. Was Oberg interessiert – wie seine Heldin in ihren Zeichnungen, wie die Neo-Noir-Thriller von Lynch und Fincher, die Filme New Rose Hotel oder Tokyo Eyes – ist das Innere des Bewusstseins. Film als Spiegel der Seelen, als in letzter Konsequenz undurchdringliche Landschaft aus Passion, Gefühl und Denkstil, die sich darstellen, aber nicht restlos erklären lässt. Es geht um das Driften, das Flanieren und um das mit ihm verbundene Lebensgefühl: Die Suche, das Abenteuer ist die Hauptsache, auch für den Film, aller Zweck nur ein Vorwand. Und es gibt ein Glück, das mit Einsamkeit, Traurigkeit und Melancholie vereinbar ist und damit vielleicht moderner, als irgendwas anderes.
Bis zum Ende ist schwer zu sagen, was Traum, was Wirklichkeit ist in diesem Film, doch diese Schwäche wird zur Stärke der Beobachtung: Ein Triumph der Flüchtigkeit, ein Driften gegen den Strom, bei denen der Zuschauer und die Heroine Angela im japanischen Zauberwald trotzdem vor allem finden, was sie hineinprojizieren – sich selbst – und äußere Fremdheit greifbar wird. Kunstvoll und einfallsreich gelingt Oberg hier vieles auf einmal: Japan-Essay und Nachtstück, Detektivgeschichte und Traumnovelle. Man sieht dergleichen nicht oft im deutschen Kino. Man möchte es viel öfter sehen. Ein großer Film, bei kleineren Schwächen besser und interessanter als die meisten deutschen Filme, die man im letzten Jahr sehen konnte – ein Film, in den man sich verlieben kann.