Iran 2020 · 99 min. Regie: Majid Majidi Drehbuch: Majid Majidi, Nima Javidi Kamera: Houman Behmanesh Darsteller: Rouhollah Zamani, Ali Nasirian, Javad Ezzati u.a. |
||
Unbeugsamer Überlebenswille | ||
(Foto: MFA) |
»152 Millionen Kinder sind aktuell von Kinderarbeit betroffen. In den letzten zehn Jahren ist Kinderarbeit um 38 Prozent gesunken, aber die COVID-19 Pandemie trägt erheblich zur Verschlechterung der Situation bei. Nur gemeinsames und entschlossenes Handeln kann diesen Trend umkehren. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) startet in Zusammenarbeit mit der globalen Plattform Alliance 8.7 das Internationale Jahr zur Beseitigung der Kinderarbeit mit dem Ziel, Gesetze und und praktische Hilfen zur Abschaffung der Kinderarbeit auf der ganzen Welt voran zu bringen. Das Internationale Jahr wurde in einer Resolution der UN-Generalversammlung 2019 einstimmig beschlossen.«
Internationale Arbeitsorganisation, 18. 1. 2021
»Bei der Auswahl der einzelnen Filme spielen viele Aspekte eine Rolle. Es zählt das Gesamtpaket: Welche Relevanz hat der Film? Welche Problemlagen werden angesprochen und wie werden diese transferiert? Es spielen ästhetische Elemente wie auch die technische Umsetzung eine Rolle. Wie wird die Geschichte erzählt und wie wird diese Erzählung filmisch umgesetzt? Wie wirken Bilder und Dialoge? Was bleibt, wenn wir den Kinosaal verlassen?«
(Auszug aus der Begründung der Jury des internationalen Filmfestivals Schlingel, Chemnitz, 2021)
Resolutionen und Filmpreise vergehen, die Armut bleibt bestehen. Das scheint eine traurige Wahrheit zu sein. Trotzdem können Filme etwas bewirken, das Bewusstsein für Missstände schärfen, Horizonte erweitern, emotional aufrütteln und dabei auch noch unterhalten. Der international sehr erfolgreiche iranische Regisseur Majid Majidi zeigt in seinem neuesten Film, der auch schon wieder einige Preise gewonnen hat, eine Jungenbande in Teheran, die sich mit knochenharten Jobs und Kleinkriminalität über Wasser hält. Ihn interessiert in erster Linie die Mentalität der Straßenkinder, ihr unbeugsamer Überlebenswille. Um an einen Schatz zu kommen, der unter einem Friedhof liegen soll, melden sich die vier Jungs in einer öffentlichen Schule an und führen somit eine Art Doppelleben als heimliche Grubenarbeiter, Tunnelbauer und mehr oder weniger engagierte Schüler.
Wenn man den Kriterienkatalog zur Begründung des Preises der Chemnitzer Schlingel-Jury abarbeitet (vgl. zweites Zitat oben), kann man, ohne den Film gesehen zu haben, sofort die Relevanz des Themas bestätigen. Kinderarbeit und Kinderarmut sind absolut relevante Themen. Ist das allein heutzutage schon preisverdächtig? Auch steigert die Verknüpfung mit dem Aspekt der Bildung die Relevanz, denn Bildung kann den Unterschied zwischen einem Leben in Armut oder einem Leben in materieller Sicherheit ausmachen. Majidi zeigt dies am Beispiel des mathematisch begabten Abofazl, dem Kleinsten der Viererbande, der zu einem Mathematikwettbewerb antreten soll. Hier öffnet sich eine Tür, während der »Boss« der Bande, Ali (Rouhollah Zamani), in großer Verbissenheit ganz auf den Plan der Schatzsuche setzt und sich überhaupt nicht für das Bildungsgeschehen in der Schule erwärmen kann. Hier wird in der Gegenüberstellung von äußerer Schatzsuche (Reichtum) und quasi innerer Schatzsuche (Bildung) eine schöne Metapher erzählt. Für Ali, der keinen Vater mehr hat und dessen Mutter psychisch krank ist, sind neben dem Streben nach Wohlstand eher Beziehungen wichtig: Liebevoll kümmert er sich um seine Mutter, macht der älteren Schwester von Abofazl, Zahra, den Hof und ist besonders empfänglich für väterliche Fürsorge, sei es die vom Groß-Dealer Hashem (Ali Nasirian) oder die des Konrektors (Javad Ezzati).
Die kleine Sun School für Straßenkinder, die sich aus Spenden finanziert, ist neben dem Schicksal der Bande der zweite Themenschwerpunkt des Films. Eine von einer NGO gegründete Schule in Teheran diente für sie als reales Vorbild. Hier entsteht ein Portrait eines sehr kostbaren Beitrags zur Verbesserung der Lebenssituation der Kinder unter schwierigen Bedingungen, wie etwa überfüllten Klassen, fehlenden Materialien oder gewalttätigen Auseinandersetzungen. Wie sich aber herausstellt, haben die Lehrkräfte und der Hausmeister nicht nur die edelsten Motive für ihre Arbeit und wegen säumiger Mietzahlungen wird das Gebäude auch mal zeitweilig geschlossen. Mit Einsatz und einer Portion zivilem Ungehorsam wehrt sich die Schulgemeinschaft gegen eine Schließung, aber Majidi zeigt hier auch das gesellschaftliche Versagen der Erwachsenen, die zu wenig für ihre Kinder tun oder nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Vor allem die Kinder der afghanischen Flüchtlinge sind Leidtragende, wenn ihre Familien plötzlich weiterziehen und sie alle Freundschaften hinter sich lassen müssen. Das wird aber eher nebenbei miterzählt.
Spannungen gibt es aber auch unter den Kindern, und Ali, als Chef der Bande, übernimmt den aggressiven Führungsstil, den er sich von seinem erwachsenen Auftraggeber abgeschaut hat. So wird auch hier keine Idylle entworfen und Szenen von Zusammengehörigkeit, Teamgeist und gegenseitiger Hilfsbereitschaft wechseln sich ab mit Druckausübung und Stress. Hier hebt sich der Film erfreulich von bekannter Kinderbandensentimentalität ab.
Aber wie wird die Geschichte erzählt (ein weiteres Kriterium der Jury)?
Mit einem aus der Vogelperspektive gefilmten Baden der vier Jungs in einem städtischen Brunnen beginnt die Erzählung sehr poetisch. Ab da folgt die Kamera den Kindern und Erwachsenen zumeist sehr dicht, oft mit Nahaufnahmen der Gesichter, vor allem bei Ali, dem Protagonisten, was nicht immer zu überzeugenden schauspielerischen Ergebnissen des teilweise recht unerfahrenen Casts führt. Der Plot wirkt arg konstruiert und erinnert zunächst an Fack ju Göhte, weil auch da der Schulbesuch des Protagonisten einen pekuniären Anlass hat. Der weitere Verlauf ist dann nicht immer so unterhaltsam wie die deutsche Komödie: Das stundenlange Graben an und in dem Tunnel, teilweise während der Schulzeit und ohne bauliche Stützmaßnahmen, ist langatmig und wiederholend erzählt und zudem wenig realistisch, wie wohl auch der Einsatz eines nasenbeinbrechenden Kopfstoßes des Konrektors, den er von Ali gelernt hat. Aber ist es nicht gerade auch die Suche nach Realismus und Authentizität, die viele Zuschauer in internationale Filme gehen lässt, in der Hoffnung, etwas über ein recht unbekanntes Land und seine Menschen zu erfahren? Das sollte man sich vor dem Anschauen des Films eher abschminken, denn Majid Majidi hatte dies gar nicht im Sinn. Er sagt über seine Motive, den Film zu machen: »Ich wollte keine ernsthafte Polemik über Kinderarbeit machen. Ich wollte einen unterhaltsamen, energiegeladenen, fröhlichen Film voller Abenteuer und Mut machen, der zeigt, wie fähig, einfallsreich und widerstandsfähig diese Kinder wirklich sind.« Nun ja. Es gibt in der Handlung zwar neben dem Arbeits- und Schulalltag auch immer wieder Spannungselemente, welche für Abwechslung sorgen, aber der Schwerpunkt des Tunnelgrabens zieht sich hin, während andere, interessantere Handlungsstränge, wie etwa das Schicksal von Abofazl und seiner Schwester Zahra, unerzählt bleiben. Und Fröhlichkeit breitet sich im Zuschauerraum wohl eher weniger aus, dafür gibt es in diesem armen Milieu recht wenig Anlässe.
So bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück, wenn man den Kinosaal verlässt. Was hat man hier gesehen? Im Gegensatz zu Fack ju göthe, der ein überdreht-witziger Quark war und der nichts anderes sein wollte, ist der Unterhaltungsfaktor in Sun Children eher mittelprächtig. Vor allem bleibt nach dem wirklich bitteren Ende des Films eher ein Gefühl der Verstörung zurück. Und eine »Streitschrift, in der die Rechte der Kinder eingefordert werden« (FBW-Jury für das Prädikat besonders wertvoll) ist er mit dieser weit hergeholten Kinderkrimi-Handlung vermutlich auch nicht. So sind es wahrscheinlich am ehesten die Eindrücke von den alltäglichen Lebensumständen in Teheran, die Straßen, das bescheidene Schulgebäude, die Gesichter der Kinder, die im Gedächtnis bleiben werden.