Japan 2022 · 123 min. · FSK: ab 12 Regie: Makoto Shinkai Drehbuch: Makoto Shinkai Musik: Kazuma Jinnouchi, Radwimps |
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Tür ins reinigende Multiverse oder Schlupfloch für das gesellschaftliche Unglück? | ||
(Foto: Crunchyroll) |
»If the doors of perception were cleansed
everything would appear to man as it is, infinite.«
– William Blake
Es dürfte die Wenigsten überrascht haben, dass Makoto Shinkais neuer Film Suzume, ein Zeichentrickfilm, auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb eingeladen war. Nicht nur hatte Shinkai in seinen letzten beiden Filmen Your Name (2016) und Weathering with You (2019) in Japan große Blockbuster-Erfolge erzielt und wurde dadurch auch in Europa zunehmend wahrgenommen; nein, er hatte vor allem Erfolg mit Themen, die bis dahin selbst vom künstlerisch ambitionierten und inzwischen nicht mehr produzierenden Studio Ghibli nur in Ansätzen umgesetzt worden waren – mit Klimaveränderungen, Geschlechtsidentitätsdiskursen und Coming-of-Age-Erzählungen, die die kindlich-poetische Perspektive der Ghibli-Welt verließen und damit auch die durch Ghibli abgeschlossene Vergangenheitsbewältigung des 2. Weltkriegs und die Transformationsprozesse des alten Japan zu dem Japan, das wir heute kennen.
Dennoch erweist auch Shinkai in Suzume seine Referenz an das alte Japan und an einen Ghibli-Meister wie Hayao Miyazaki, dessen großartige Auseinandersetzung mit den Urgewalten der Natur und ihren Göttern in Ponyo auch in Suzume wiederzufinden ist.
Doch wie schon in seinen letzten Filmen sind Shinkais Protagonisten fast schon der Pubertät entwachsende jugendliche bzw. junge Erwachsene, ist es in Suzume die gleichnamige junge Frau, die sich in den etwas älteren, schon studierenden Sōta verliebt, der allerdings nicht nur Student ist, sondern einer alten Familientradition folgt und in Japan an verlassenen Orten, an denen Türen in die Unterwelt führen, nach dem Rechten sieht. Er muss diese Pforten schließen, sie einer Art Reinigungsritual unterziehen, weil sonst ein gefährlicher drachenartiger Wurm erwacht, um Erdbeben zu erzeugen.
Nach ihrem initialen Treffen folgt Suzume Sōta, die erst langsam begreift, was passiert, und reist durch ganz Japan, von der Provinz bis in die ganz große Stadt, bis nach Tokio, um immer wieder neue Türen zu schließen. Dieses schon fast klassische Road-Movie-Szenario gibt Shinkai die Möglichkeit, nicht nur eine Liebesgeschichte zu erzählen, die in ihrer bizarren Konstellation und abgründigen Symbolik fast schon an das absurde Theater erinnert und dazu noch mit einer Verlusttraumatisierung verwoben wird, einem Verlust, der Suzume erst während ihrer Reise durch Japan wirklich bewusst wird. Daneben berichtet Shinkai aber auch über das Japan von heute, die Landflucht mit ihren verlassenen Orten und einer Entmenschlichung normalen Lebens, das zunehmend in eine nicht nur spirituelle, sondern auch ökologische Krise führt. Dabei ist das Aufbegehren der Natur in Form eines mythischen Wesens nichts anderes, als es Autoren wie Fontane mit ihrem poetischen Realismus in Werken wie Die Brück’ am Tay thematisierten.
Shinkai überführt diese Gratwanderung zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft, Verdrängung und Katharsis in immer wieder überraschende, völlig überwältigende Perspektiven und Animationen. Allein schon Suzumes initiale Fahrradfahrt, der Blick über die Pedale in das vor Suzume liegende Tal ist eine Erzählung für sich, ein großer Moment, in dem Licht und Bewegung, Natur und Technik sich zu einer komplexen und zugleich poetischen Melange verbinden.
Diese Gegensätze spielt Shinkai immer wieder aus, werden selbst die mythischen Momente durch Beton und Metall oder eine im fast schon sogartigen lichtdurchfluteten Ligne claire-Stil entwickelte Szene in einem kleinen Supermarkt gerahmt. Auch erzählerisch gleitet Shinkai durch diese Grundlage nie in die reine Fantasy ab, sondern versucht eine Art gesellschaftliche Gruppentherapie, die so wie in Ponyo und eigentlich im ganzen Ghibli-Kosmos darauf hinweist, dass wir nur durch die Anerkennung der Natur und ihrer göttlichen Grundlagen zu einer heilsamen Gegenwart finden können. Shinkai geht jedoch noch weiter, indem er sich in einem letzten Schritt vom die Natur verehrenden japanischen Shintoismus emanzipiert und den gerade so populären Multiverse-Gedanken und eine Begegnung mit dem eigenen Kind in seine Geschichte integriert und subtil andere Multiverse-Helden, wie etwa den kopfüber in die Stadt fallenden Spider-Man aus Spider-Man: A New Universe, zitiert.
Das ist großes Kino der großen Gefühle und großen Ideen, das jedoch nie in Kitsch und Melodrama abgleitet, das immer wieder überraschende Fragen stellt und Visionen in den Raum stellt, die unbequem sind, und vor allem eins deutlich macht: Liebe und Tod reichen in unserer Welt nicht mehr aus, um die Welt zu retten.