USA 2015 · 88 min. · FSK: ab 16 Regie: Sean Baker Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch Kamera: Sean Baker, Radium Cheung Darsteller: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, Mickey O'Hagan, Alla Tumanian u.a. |
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Tangerine Dream |
»An allem sind die Männer schuld, Machos, meistens Weiße. Sie sind voll verantwortlich für die ganze Scheiße . Sie regieren diese Welt, sie haben zu viel Macht. Sie haben unseren Planeten auf den Hund gebracht. Gibt’s größere Schurken? Die Antwort lautet 'Nein'. Doch auch lesbische, schwarze Behinderte können ätzend sein.« – Funny van Dannen
Lesbische schwarze Behinderte tauchen in Sean Bakers Tangerine L.A. zwar keine auf. Aber dafür sind die beiden Hauptdarsteller*innen dieses Independentfilms zwei transsexuelle, afroamerikanische Prostituierte: Und auch die können zumindest im Film zuweilen ebenfalls recht unangenehm werden.
Sin-Dee Rella (Kitara Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor) arbeiten auf dem Straßenstrich in West-Hollywood. Es ist Heiligabend und Sin-Dee Rella wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen, weil sie für ihren Freund und Zuhälter Chester (James Ransone) Drogen aufbewahrt hatte. Doch der dankte seiner Freundin deren Loyalität schlecht und hat sie in der Zeit, in der sie für ihm hinter Gittern saß, mit einer echten Frau betrogen. Sin-Dee Rella ist außer sich. Sie macht die betreffende Dinah (Mickey O’Hagan) ausfindig und begibt sich mit dieser im Schlepptau auf die Suche nach Chester, um diesen zur Rede zu stellen. Derweil kreuzen sich immer wieder die Wege der beiden Hauptfiguren und die des armenischen Taxifahrers Rezmik (Karren Karagulian) ...
Nachdem Sean Baker in seinem letztem Film, dem Drama Scarlett (2012), einen Einblick in die Pornofilmszene von Los Angeles gegeben hatte, widmet er sich in Tangerine L.A. mit den transsexuellen, schwarzen Prostituierten gleich einer dreifachen gesellschaftlich stigmatisierten Randgruppe. Aber obwohl die beiden Hauptfiguren Sin-Dee Rella und Alexandra von der ersten Filmminute an nicht nur mit ihrem extravaganten Äußeren, sondern auch mit ihrer sexuell expliziten Schnodderschnauze auffallen, ist sofort klar, dass Baker hier keine voyeuristische Freakshow betreibt, sondern dass die Sympathien des Filmemachers gerade diesen von ihn gezeigten Originalen gelten.
Der präsentierten dreifachen Randgruppe entspricht die ebenfalls in gleich dreifacher Hinsicht äußerst ungewöhnliche Art des Films: Denn neben dem ungewöhnlichen Milieu der Filmhandlung sind auch die Ästhetik und die technische Machart des Films äußerst eigen: So kommt Tangerine L.A. trotz der Fiktionalität der Geschichte im Gewand einer Fake-Doku daher. Immer ist Sean Baker – der bei diesem Film als Koautor, Regisseur, Kameramann, und als Cutter in Personalunion fungiert – mit seiner Kamera ganz dicht an den Protagonist*innen dran und verfolgt diese bei ihren chaotischen Irrwegen durch die Straßen von L.A. Die Kamera ist in diesem Falle ein iPhone 5S, das mittels eines anarmorphistischen iPhone-Adapter-Prototyps von der Firma Moondog Labs zu einer fast vollwertigen Filmkamera hochgepimpt wurde.
Auf diese Weise war es möglich, Tangerine L.A. für nur 100.000 Dollar zu drehen. Zugleich steht der leicht körnige, aber zugleich sehr farbsatte Look (hier wurde allerdings in der Postproduktion noch einmal kräftig nachgeschraubt) dem Film außerordentlich gut. Er verbindet auf visueller Ebene die beiden Welten des fiktionalen und des dokumentarischen Films: Auf der einen Seite wirkt der Film ähnlich authentisch, wie die Fake-Doku Taxi Teheran von Jafar Panahi. Ein ganz direkter inhaltlicher Bezug zur iranischen Tragikomödie entsteht in Tangerine L.A. über die Figur des albanischen Taxifahrers Rezmik, der so manchen schrägen Gast kutschiert.
Aber Tangerine L.A. ist wesentlich aufgedrehter und schriller. Nicht ganz unpassend wurde der Film von einem amerikanischen Kritiker zu Billy Wilders Screwball-Comedy Manche mögen’s heiß (1959) in Beziehung gesetzt. Wir erinnern uns: Neben Marilyn Monroe zeigt der Film Tony Curtis und Jack Lemmon als Frauen verkleidet. Allerdings war dies in dem bereits ein halbes Jahrhundert altem Klassiker noch widrigen Umständen geschuldet. – Echte Transvestiten in einem Film zu zeigen war in den spießigen 1950er-Jahren noch undenkbar.
Dass solche Darstellungen heute möglich sind, dazu trug entschieden Kenneth Ager mit seinem avantgardistischen schwulen Lederfetischfilm Scorpio Rising (1964) bei. Die viel direkteren Vorgänger von Tangerine L.A. sind jedoch mit ihrer ungeschönten Authentizität und ihrer dokumentarischen Ästhetik Paul Morrisseys Filme Trash (1968) und Flesh (1970). Im ersten Film von Andy Warhols Stammregisseur spielt Joe Dallesando einen Strichjungen und im zweiten einen Fixer, der mit einem Transvestiten liiert ist. Doch während diese Morrissey-Filme sich durch ihre bedrückende Tristesse auszeichnen, ist Tangerine L.A. über weite Strecken hin einfach brüllend komisch.