Tangerine L.A.

Tangerine

USA 2015 · 88 min. · FSK: ab 16
Regie: Sean Baker
Drehbuch: ,
Kamera: Sean Baker, Radium Cheung
Darsteller: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, Mickey O'Hagan, Alla Tumanian u.a.
Tangerine Dream

Fear and Laughter in Los Angeles

»An allem sind die Männer schuld, Machos, meistens Weiße. Sie sind voll verant­wort­lich für die ganze Scheiße
. Sie regieren diese Welt, sie haben zu viel Macht. Sie haben unseren Planeten auf den Hund gebracht. Gibt’s größere Schurken? Die Antwort lautet 'Nein'. Doch auch lesbische, schwarze Behin­derte können ätzend sein.« – Funny van Dannen

Lesbische schwarze Behin­derte tauchen in Sean Bakers Tangerine L.A. zwar keine auf. Aber dafür sind die beiden Haupt­dar­steller*innen dieses Inde­pen­d­ent­films zwei trans­se­xu­elle, afro­ame­ri­ka­ni­sche Prosti­tu­ierte: Und auch die können zumindest im Film zuweilen ebenfalls recht unan­ge­nehm werden.

Sin-Dee Rella (Kitara Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor) arbeiten auf dem Straßen­strich in West-Hollywood. Es ist Heilig­abend und Sin-Dee Rella wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen, weil sie für ihren Freund und Zuhälter Chester (James Ransone) Drogen aufbe­wahrt hatte. Doch der dankte seiner Freundin deren Loyalität schlecht und hat sie in der Zeit, in der sie für ihm hinter Gittern saß, mit einer echten Frau betrogen. Sin-Dee Rella ist außer sich. Sie macht die betref­fende Dinah (Mickey O’Hagan) ausfindig und begibt sich mit dieser im Schlepptau auf die Suche nach Chester, um diesen zur Rede zu stellen. Derweil kreuzen sich immer wieder die Wege der beiden Haupt­fi­guren und die des arme­ni­schen Taxi­fah­rers Rezmik (Karren Kara­gu­lian) ...

Nachdem Sean Baker in seinem letztem Film, dem Drama Scarlett (2012), einen Einblick in die Porno­film­szene von Los Angeles gegeben hatte, widmet er sich in Tangerine L.A. mit den trans­se­xu­ellen, schwarzen Prosti­tu­ierten gleich einer drei­fa­chen gesell­schaft­lich stig­ma­ti­sierten Rand­gruppe. Aber obwohl die beiden Haupt­fi­guren Sin-Dee Rella und Alexandra von der ersten Film­mi­nute an nicht nur mit ihrem extra­va­ganten Äußeren, sondern auch mit ihrer sexuell expli­ziten Schnod­der­schnauze auffallen, ist sofort klar, dass Baker hier keine voyeu­ris­ti­sche Freakshow betreibt, sondern dass die Sympa­thien des Filme­ma­chers gerade diesen von ihn gezeigten Origi­nalen gelten.

Der präsen­tierten drei­fa­chen Rand­gruppe entspricht die ebenfalls in gleich drei­fa­cher Hinsicht äußerst unge­wöhn­liche Art des Films: Denn neben dem unge­wöhn­li­chen Milieu der Film­hand­lung sind auch die Ästhetik und die tech­ni­sche Machart des Films äußerst eigen: So kommt Tangerine L.A. trotz der Fiktio­na­lität der Geschichte im Gewand einer Fake-Doku daher. Immer ist Sean Baker – der bei diesem Film als Koautor, Regisseur, Kame­ra­mann, und als Cutter in Perso­nal­union fungiert – mit seiner Kamera ganz dicht an den Prot­ago­nist*innen dran und verfolgt diese bei ihren chao­ti­schen Irrwegen durch die Straßen von L.A. Die Kamera ist in diesem Falle ein iPhone 5S, das mittels eines anar­mor­phis­ti­schen iPhone-Adapter-Prototyps von der Firma Moondog Labs zu einer fast voll­wer­tigen Film­ka­mera hoch­ge­pimpt wurde.

Auf diese Weise war es möglich, Tangerine L.A. für nur 100.000 Dollar zu drehen. Zugleich steht der leicht körnige, aber zugleich sehr farbsatte Look (hier wurde aller­dings in der Post­pro­duk­tion noch einmal kräftig nach­ge­schraubt) dem Film außer­or­dent­lich gut. Er verbindet auf visueller Ebene die beiden Welten des fiktio­nalen und des doku­men­ta­ri­schen Films: Auf der einen Seite wirkt der Film ähnlich authen­tisch, wie die Fake-Doku Taxi Teheran von Jafar Panahi. Ein ganz direkter inhalt­li­cher Bezug zur irani­schen Tragi­komödie entsteht in Tangerine L.A. über die Figur des alba­ni­schen Taxi­fah­rers Rezmik, der so manchen schrägen Gast kutschiert.

Aber Tangerine L.A. ist wesent­lich aufge­drehter und schriller. Nicht ganz unpassend wurde der Film von einem ameri­ka­ni­schen Kritiker zu Billy Wilders Screwball-Comedy Manche mögen’s heiß (1959) in Beziehung gesetzt. Wir erinnern uns: Neben Marilyn Monroe zeigt der Film Tony Curtis und Jack Lemmon als Frauen verkleidet. Aller­dings war dies in dem bereits ein halbes Jahr­hun­dert altem Klassiker noch widrigen Umständen geschuldet. – Echte Trans­ves­titen in einem Film zu zeigen war in den spießigen 1950er-Jahren noch undenkbar.

Dass solche Darstel­lungen heute möglich sind, dazu trug entschieden Kenneth Ager mit seinem avant­gar­dis­ti­schen schwulen Leder­fe­tisch­film Scorpio Rising (1964) bei. Die viel direk­teren Vorgänger von Tangerine L.A. sind jedoch mit ihrer unge­schönten Authen­ti­zität und ihrer doku­men­ta­ri­schen Ästhetik Paul Morris­seys Filme Trash (1968) und Flesh (1970). Im ersten Film von Andy Warhols Stamm­re­gis­seur spielt Joe Dalle­sando einen Strich­jungen und im zweiten einen Fixer, der mit einem Trans­ves­titen liiert ist. Doch während diese Morrissey-Filme sich durch ihre bedrü­ckende Tristesse auszeichnen, ist Tangerine L.A. über weite Strecken hin einfach brüllend komisch.