Deutschland/Marokko 2008 · 100 min. · FSK: ab 6 Regie: Irene von Alberti Drehbuch: Irene von Alberti Kamera: Birgit Möller Darsteller: Sabrina Ouazani, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Naima Bouzid, Nohad Sabri u.a. |
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Schwere Düfte, schwarze Locken, braune Haut |
Der Mann muss einkaufen, klar. Wo in Berlin-Mitte die jungen Frauen vielleicht noch Wert darauf legen, eine eigene Platin-Kreditkarte zu besitzen, und damit auch ihre eigenen Rabattpunkte zu sammeln, ist in Marokko die Welt noch in Ordnung – aus früherer Sicht betrachtet. Der Mann bezahlt. Auch umgekehrt stimmt die Rechnung: Denn für die teuren Klamotten, den Schmuck und das gute Essen, bekommt auch der Mann, was er erwartet: Schwere Düfte, schwarze Locken, braune Haut – die so künstlichen wie exotischen Paradiese des romantischen Orient. Beides ist natürlich Lug und Trug: Die Kreditkarten, auf die der Mann aus dem Westen reduziert ist, schlagen Blasen, die derzeit gerade platzen, und das Mädchen aus dem Orient, ist nicht warm und weich, sondern gar cool und berechnend. So chlashen zweierlei Rechnungsarten zusammen und am Schluß platzt die Gefühlsblase. Was bleibt ist Macht – und da wird der Westen zum Norden, der noch immer über die Länder des Südens gesiegt hat. Ein Aufstand ist nicht zu erwarten. Aber, das ist das heimliche Thema von Irene von Albertis Film: Die Einschläge kommen näher.
Die Berliner Filmregisseurin Irene von Alberti ist eine Vertreterin des deutschen Independent-Kinos, das gerade in der Krise, in der die Großproduktionen baden gehen, seine Kraft zeigt. In Tangerine, erzählt die Regisseurin auf den Spuren von Paul Bowles von der Hölle unter der Wüste, von einem Zusammenstoß der Kulturen im marokkanischen Tanger. Im Zentrum stehen zwei Mädchen, etwa gleichalt und doch völlig verschieden, und ihre unmögliche Freundschaft: Pia (Nora von Waldstätten), ist Musikerin aus Deutschland und ein Pop-Glamour-Girl aus allzu gutem Haus, das in Tanger auf andere Gedanken kommen will. In der Diskothek lernt sie Amira (Sabrina Ouazani, bekannt aus dem französischen L’esquive) kennen, ein Mädchen aus der Unterschicht, das dort als Tänzerin arbeitet, und wild mit den Westlern flirtet. Die Grenzen ihrer Arbeit zur Prostitution sind fließend. Die beiden freunden sich an.
Aber da ist auch Pias Freund Tom (Alexander Scheer). Er scheint für kurze Zeit nur Augen für sie zu haben, sie spürt sein Interesse und ist geschmeichelt. Aber vor allem sieht sie die Chance, über den jungen Mann in den Westen zu kommen. Und auch Pia hat einen versteckten Plan. Sie versucht mit Amiras Hilfe ihre angeschlagene Beziehung zu Tom auf die Probe zu stellen. So will jeder in dieser Dreickecksbeziehung etwas anderes, und neben Sehnsucht und Hoffnung auf Glück hat jeder noch seine eigene »hidden agenda«, ein Geheimnis.
Tangerine ist ein Film darüber, dass sich Liebe und Ökonomie nicht trennen lassen, sondern verschränkt sind, darüber, dass im Zweifelsfall, mit Brecht gesprochen, das Fressen dem Gefühl und der Moral vorausgeht. »Je mehr du mir gibst, desto mehr liebst du mich«, sagt Amira Tangerine ist auch eine Grenzerkundung in mehrfacher Hinsicht: Moralisch, politisch, aber auch ästhetisch: Ein flanierender, flirrender, mit Handkamera gedrehter Film – nicht zuletzt deshalb, weil Irene von Alberti im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen versucht, aus den üblichen deutschen Mittelstandsverhältnissen wegzukommen und andere Lebenswirklichkeiten einzufangen. Weil sie Ausbeutungsverhältnisse beim Namen nennt. Und Nora von Waldstätten, bisher schon durch Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner und eine Tatort-Hauptrolle aufgefallen, spielt ihre erste Kino-Hauptrolle souverän und auffällig: A star is born!