Frankreich 2022 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Claude Zidi Jr. Drehbuch: Raphaël Benoliel, Cyrille Droux, Claude Zidi Jr. Kamera: Laurent Dailland Darsteller: MB14, Michèle Laroque, Guillaume Duhesme, Maëva El Aroussi, Samir Decazza u.a. |
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Grenzüberschreitende Berufung | ||
(Foto: Port-au-Prince) |
Dass etwas passieren muss, um die Gesellschaften Europas vor einem Auseinanderbrechen zu bewahren, ist wohl am besten den Franzosen klar. Kein europäisches Land versucht über seine Filme eine stärkere »Integrationspolitik«. Waren diese Filme in ihren Anfängen noch klassische Culture-Clash-Komödien – man denke an Ziemlich beste Freunde oder die ersten Claude-Filme –, bewegen sich die jüngsten Beispiele weniger zum Clash als zum Cash, wird vor allem gezeigt, dass die französische Hochkultur bereit ist, ihre verlorenen Schafe nicht nur in ihre elitärsten Zirkel aufzunehmen, sondern sie sogar angemessen dafür zu bezahlen. Wir haben das in Haute Couture gesehen, wo ein junges Mädchen aus einer Banlieue als Schneiderin im Hause Dior ankommt, und wir haben es in der Küchenbrigade bestaunen dürfen, wo migrantische Jugendliche über die Haute Cuisine in einem Segment integriert werden, das als Hochkulturbastion bislang unerreichbar schien.
Diese Filme werden gemeinhin als Sozialmärchen belächelt, doch vielleicht sind sie inzwischen weniger Märchen als tatsächlich funktionierende Rollenmodell- und Realpolitikunterstützung, folgt man zumindest Marc Zitzmann, der in der FAZ vom 15.10.22 ein gegenwärtiges Frankreich beschrieben hat, das sich mehr und mehr von einem strafenden Zentralstaat zu einem Modell der Sozialarbeit entwickelt hat, mit dem z.B. Dschihadisten im Gefängnis der Hass abgewöhnt werden soll. »Es gibt Ausflüge ins Museum oder in den Zoo, man spielt Basketball oder flaniert am Ärmelkanalstrand, immer in Begleitung eines oder zweier Mentoren. Manchmal bearbeiten diese ›das Zentrum von der Peripherie her‹, sprechen über Hobbys und geben Persönliches preis. Manchmal gehen sie Inhalte der dschihadistischen Weltanschauung frontal an.«
Nicht viel anders funktioniert auch das neueste in die deutschen Kinos kommende französische »Sozialmärchen«, das wie die bereits zitierten Filme ein weiteres französisches Hochkultursymbol bedient, um die sich in den Vorstädten nur allzu leicht kriminalisierende Jugend wieder ins Boot zu holen. Es ist jedoch nicht die Welt der großen französischen Zoos oder Museen, es ist die der französischen Oper.
Claude Zidi Jr., Sohn der französischen Regielegende Claude Zidi (der die grotesken französischen Komödien der 1970er bedient und u.a. mit Louis de Funès zusammengearbeitet hat) muss dafür gar nicht allzu tief in den Märchenbaukasten hineingreifen, sondern platziert mit seinem Hauptdarsteller MB14 alias Mohamed Belkhir eine Person, die bereits im realen Leben nach Erfolgen als Rapper auch noch Erfolg in einer Casting-Show hatte und Beatbox-Weltmeister war.
In Tenor ist dieses Casting allerdings ein eher zufälliger Moment. Denn der von MB14 verkörperte Antoine denkt nicht einmal im Traum an ein Casting, da er mit Buchhaltungskursen, Rap-Battles, Sushi-Auslieferungen und der organisatorischen Betreuung seines großen Bruders, der mit illegalen Boxkämpfen und Wetten sein Geld verdient, voll ausgelastet ist. Aber eine eher unfreiwillige Sushi-Lieferung führt ihn in die Opéra Garnier, in der er nicht nur mit dem klassischen Pariser Schmock konfrontiert, sondern auch von der einflussreichen Gesangslehrerin Marie (Michèle Laroque) entdeckt und zu einem Opernsänger-Workshop eingeladen wird.
Damit diversifiziert sich Zidis Film in zwei Welten, denn Antoine versucht natürlich das Beste aus beiden Welten zu gewinnen, auch wenn es ihn dabei fast zerreißt. Zidi arbeitet diese dramatischen Momente zwar mit ein wenig zu viel Melodram und einem etwas zu schwülstigen Score ab und verliert sich dann und wann in etwas zu haarsträubenden Klischees, aber das ist spätestens ab dem Mittelteil von Tenor völlig egal und vergeben. Denn Tenor gräbt sich mit seinen leidenschaftlichen Hauptdarstellern nicht nur immer weiter in die unterschiedlichen Milieus und verwebt sie mit einer zunehmenden Differenzierung seiner Charaktere, sondern taktet die großen Gefühle zunehmend so, wie die dargestellten Rap-Battles zwischen den Banlieues funktionieren.
Und hier überrascht Tenor gleich noch einmal. Denn es ist am Ende nicht die Liebe, die opernhaft und alle Erwartungshaltungen erfüllend im Mittelpunkt steht und mit der in Didis Film immer wieder auch klassenübergreifend gespielt wird, sondern es ist am Ende so wie in Haute Couture und der Küchenbrigade die Integration über den Beruf, die zählt. Und die hier durch den symbolhafter und nicht wichtiger einzuschätzenden Tempel der Musik, die Opéra Garnier, noch einmal an Bedeutung gewinnt.
Und das nicht nur, weil die Oper hier am Ende das Rap-Battle für sich entscheidet, sondern weil jeder am Ende weiß, dass wie in den Rap-Battles zwischen den verschiedenen Banlieues es nur Tagessieger gibt und keinen endgültigen, dass nicht der Sieg, sondern der Weg das Ziel ist.
Ténor ist damit wie die anderen erwähnten »Sozialmärchen« auch ein zutiefst politischer Film, dessen Wirkung nicht unterschätzt werden sollte, mehr noch, als er bei aller Integrationspolitik, die er subtil und immer wieder sehr direkt kritisch transportiert, am Ende auch noch das Kunststück fertigbringt, tatsächlich unter die Haut zu gehen und jeder beseelt wie einst Kafka sagen kann: »Im Kino gewesen, geweint!«