Frankreich/B 2021 · 108 min. · FSK: ab 16 Regie: Julia Ducournau Drehbuch: Julia Ducournau Kamera: Ruben Impens Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Dominique Frot u.a. |
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Sich räkeln auf der Motorhaube führt zu überraschenden Verrenkungen | ||
(Foto: Koch Films) |
»Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus.«
Homer»Zorn ist immer ein Fehler.«
Montaigne»Wenn es nur darum geht, zwei Menschen beim Ficken zu zeigen, ist es irrelevant. Wenn eine Sexszene nicht der Entwicklung einer Figur eine weitere Ebene hinzufügt, dann schreibe sie nicht.«
Julia Ducournau
Abgefahren, das ist so ein Wort. Hier passt es. Es sind hochstilisierte, zugleich ungebändigte Bilder, die wir in Titane sehen. Ein abgefahrener Film; ein Film, mit dem wir nicht fertig sind.
Was bereits enorm für diesen Film einnimmt, ist, dass man seine Geschichte eigentlich nicht erzählen kann, sondern dass man sie auf der großen Leinwand des Kinos ansehen muss – weil sie sich in Bildern mitteilt, weil Worte einen falschen Eindruck erwecken. Denn tatsächlich geht es hier, wenn man es dann doch in Worte kleidet, um eine Serienmörderin, mit der man Mitleid hat; um ein böses Kind, das zu einer Frau heranwächst, die Sex mit Autos hat und irgendwann von einer der Maschinen ein Kind erwartet – und spätestens jetzt hat jeder Leser verstanden, dass man das sehen muss, um zu begreifen, was daran faszinierend und sogar anmutig sein kann.
Wer sich dem Film anvertraut, begleitet erst einmal ein Mädchen, das Alex heißt und einen schweren Autounfall verursacht. Von nun an lebt sie mit einer Metallplatte im Kopf und einer hässlichen Narbe über dem rechten Ohr. Als junge Erwachsene ist sie ein Outsider. In ihrem Leben ist sie Teil der trashigen Welt der Autoshows, die von Ölgeruch durchzogen ist, in der Schweiß und Muskeln, leichtbekleidete Frauen und stiernackige Männer dominieren.
Den Männern widersteht sie, Metall erotisiert sie; alles hier ist zum Fetisch verklärtes Objekt. Eines Tages hat Alex dann Sex in und mit einem Cadillac. Man kann das wörtlich nehmen und einfach glauben, man kann es für einen Tagtraum halten, für Phantasie oder Epiphanie. Jedenfalls ist Alex bald darauf schwanger, und zu ihren bisherigen Körpersäften kommt ein neuer hinzu: dickflüssiges, schwarzes Öl. In einer Mischung aus verwundbarer Verunsicherung und Entschlossenheit geht Alex nun ihren Weg: Eine Flucht, aber in großer Konsequenz. Leichen bleiben zurück, ein neuer Vater wird gefunden.
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Einen »Gewaltfilm« hat die ZEIT nach dem Cannes-Sieg den Film genannt. Das trifft es gar nicht. Denn Gewalt ist für Alex uninteressant. Es ist allenfalls ein Mittel, um sich zu wehren, ein Mittel, um der eigenen Hilflosigkeit Herr zu werden.
Seit Homers Betrachtungen über den Zorn des Achill ist der Zorn ein wunderbarer Handlungsmotor. Zorn verrät alles über uns selbst. Denn niemand wird zornig über das, was ihm richtig und angemessen erscheint. In Zorn versetzt uns, was
unseren Wünschen, Vorstellungen oder unserem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht.
Allerdings hat der Zorn kein gutes Image. Denn Zorn bedeutet das Verlassen des Maßvollen, bedeutet Exzess, Ungerechtigkeit, schlechtes Benehmen. Zorn ist nur subjektiv richtig, objektiv aber immer falsch. Wie schon Seneca schrieb: Zorn »ist ganz Erregung und Drang, rasend vor unbändigem Verlangen nach Schmerz, Waffen, Blut, dem Scharfrichter, einem Verlangen, das keineswegs menschlich ist. Es ist
ihm gleichgültig, was mit ihm passiert, solange er nur dem anderen schadet.« Zorn bedeutet alles, was unserer gedämpften, mittelständischen Saturiertheit, unserem Luxusleben entgegensteht. Zorn stört.
Und Alex ist zornig. Also stört sie. Also stört dieser Film.
Aber ja, es sind verstörende Bilder, denen man hier begegnen wird. Aber sie faszinieren auch. Sie können bezaubern. Titane von Julia Ducournau nimmt sein Publikum mit auf eine von Anfang an rasante, anstrengende, emotionale Reise, die aber, das kann man versprechen, bei einem relativ ruhigen Punkt und so etwas wie Frieden und Versöhnung ankommt.
Trotzdem ist dieser Film das Gegenteil von Versöhnlichkeit. Und da hat die ZEIT recht: Dies ist auch »ein Film jenseits aller zeitgeistigen Sozialmoden wie Rücksichtnahme, Vorsicht, Achtsamkeit. Ein störender, quer stehender Monolith in der Kultur der Verträglichkeit.«
Titane zeigt uns, dass der ganze augenblickliche Diskursschmuh mit den tatsächlichen Leidenschaften der Menschen, wie mit ihren Problemen, wie Überschreitung, Exzess, Begierde,
Schrecken des Lebens, aber auch gar nichts zu tun hat.
Aber man sollte auch nicht so tun, als sei dieser Film rundum gelungen. Das ist er keineswegs; genau genommen hat er sogar viele Schwächen. Und Genre-Aficionados werden sofort die Beispiele herbeizitieren können, welche Werke zitiert oder beklaut werden, wo etwas besser, konsequenter, härter gemacht ist. Aber für Genre-Aficionados ist dieser Film nicht gemacht.
Was man wohl kritisieren muss, ist, dass sich die Regisseurin nicht so richtig entscheiden kann zwischen zwei Filmen. Der
eine ist die Geschichte einer Serienmörderin, zu der man unter anderen Umständen schreiben würde, dass hier endlich mal eine weibliche Serienmörderin im Kino zu sehen ist – auch das bedeutet Gender-Equality! –; das andere ist eine Art Frankenstein-Geschichte. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt oder zusammenhängen könnte, bleibt aber unklar. Natürlich, werden jetzt einige zu Recht einwenden, ist das auch wiederum gerade der Clou des Ganzen. Denn es gibt eine
dritte Geschichte, die einer Tochter, die einen Vater sucht.
Aber alles will sich trotzdem nicht recht fügen – und ganz subjektiv finde ich, dass der Film nicht aufgeht, und ein bisschen zu prätentiös ist, zu verliebt in seine Einfälle. Vor allem aber, und das werfe ich Titane wirklich vor: Er gibt sich viel zu viele Blößen. Darum funktioniert er nicht als Rammbock des Genre-Films gegen Opas Autorenkino; darum wird er dessen Macht nicht erschüttern, sondern paradox bestätigen – weil sich zu viele nach dem Besuch des Films einfach an den Kopf fassen.
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»Ein feministischer Horrorfilm« sei Titane, schreibt »Gala«, die bekannte Fachzeitschrift für Filmwissenschaft und Frauenpolitik. Ich weiß offen gesagt nicht ganz genau, was eigentlich feministisch daran sein soll, außer dass jetzt eine Frau die Regisseuren und eine Frau die Hauptfigur ist. Reicht das schon? Oder ist es eher das, was Beate Hausbichler jetzt in ihrem Buch »Der verkaufte Feminismus« beschreibt: Das neoliberale Entpolitisieren und Labeling einer einst politischen Bewegung?
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Es werden in den nächsten Jahren viele Seminararbeiten über diesen Film geschrieben werden, in dem Ideen sich in Fleisch und Metall verwandeln. Neben Offensichtlichem – David Cronenbergs »Body Horror«, der Kulturgeschichte von Cyborg und Maschinenmensch – dürfte das universitäre Dechiffriersyndikat auch Filmtheorie und Feminismus, Psychoanalyse und Performance-Ästhetik über diesen Film stülpen. Die Gefahr liegt dabei darin, die schiere Lust zu übersehen, die die Regisseurin Julia Ducournau und ihre Hauptdarstellerin Agathe Rousselle leiten, das Spielerische, das der Treibstoff dieses Films ist. Gespielt wird vor allem mit Motiven des Horrorkinos. Hier ist Titane tatsächlich zuhause: In der Provokation unserer Gewohnheiten und Anstandsgefühle. In ihrer Erschütterung.
Das Rebellische ist das Politische in diesem wilden, sinnlichen Film, aber eben auch eine große Kraft und Konsequenz. Mit dieser Verbindung gewann Titane im Juli die Goldene Palme in Cannes.
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Titane, auch das muss an dieser Stelle erwähnt werden, ist ein Film, der in Deutschland komplett unmöglich wäre, weil es unvorstellbar ist, dass so ein Film, dass so ein Stoff von der deutschen Filmförderung entsprechend unterstützt werden würde – erst recht nicht mit sieben Millionen Euro, so wie das in Frankreich geschah. Und weil ein solcher Film in Frankreich fast an der Tagesordnung, in Deutschland aber undenkbar ist, wird es noch lange dauern, bis auch ein deutscher Film einmal eine Goldene Palme gewinnen wird.