74. Filmfestspiele Cannes 2021
Das Rebellische ist das Politische |
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Cannes-Sieger Titane: Radikal statt rational, verspielt statt kontrolliert, provokativ statt perfekt. | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Monstrosität ist für mich etwas Positives. Es entlarvt all die normativen Spielarten der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens.«
- Julia Ducournau, Gewinnerin der Goldenen Palme 2021
Mit diesem Hauptpreis hatte niemand gerechnet. Die französische Regisseurin Julia Ducournau gewinnt für ihren Horror-Fantasyfilm Titane die Goldene Palme von Cannes.
Dieser Preis ist ein Schlag ins Gesicht. Ins Gesicht jenes Kinos, das bei Filmfestivals wie Cannes normalerweise gewinnt.
Eines Arthousekinos, das bestimmten engen ästhetischen Mustern folgt, aber wenn man ehrlich ist, schon lange alt und mürbe und ideenlos geworden ist. Eines Kinos, das in den letzten 30 Jahren zunehmend aus braven Geschichten über gute Menschen besteht, ein Weltverbesserungskino der Elendsportraits und der Lehrstücke, das aber filmisch wenig bietet und zumeist nur abbildet und illustriert, oder seine konventionellen Problemfilmdramaturgien hinter bedeutungsschwangeren langen Einstellungen und Wortkargheit versteckt.
Man könnte jetzt Namen und Filmtitel nennen, aber darum geht es nicht; es geht um ein Prinzip.
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Julia Ducournaus Titane kehrt sich ab von solchen verstaubten Prinzipien und Stereotypen und ist zugleich ein Film, der in der besten Tradition des Autorenkinos steht, der aber nicht Asche verwahrt, sondern dessen Flamme neu entzündet: Radikal statt rational, verspielt statt kontrolliert, provokativ statt perfekt.
Das Rebellische ist das Politische in diesem wilden Film, der keineswegs rundum gelungen ist und viele Schwächen hat – aber eben auch eine große Kraft und Konsequenz.
Was bereits enorm für diesen Film einnimmt, ist, dass man seine Geschichte eigentlich nicht erzählen kann, sondern sie sehen muss – weil sie sich in Bildern mitteilt, weil Worte einen falschen Eindruck erwecken. Denn tatsächlich geht es hier um eine Serienmörderin, mit der man Mitleid hat; um ein böses Kind, das einen schlimmen Unfall hatte und zu einer Frau heranwächst, die Sex mit Autos hat und irgendwann von einer der Maschinen ein Kind erwartet – und spätestens jetzt hat jeder Leser verstanden, dass man das sehen muss, um zu begreifen, was daran faszinierend und sogar anmutig sein kann.
Dass so ein Film aber provokativ ist, leuchtet sofort ein. Nun ist Provokation ja keineswegs ein Selbstzweck – sie kann aber enorm produktiv sein, indem sie eingefahrene Denkschemata herausfordert, uns zwingt, uns unseren Instinkten, Gefühlen, »niederen Gesinnungen« zu stellen und zu überprüfen, was wir eigentlich am Kino mögen, und warum wir überhaupt hineingehen.
Paradoxerweise ist Titane gleichzeitig viel mehr Wohlfühlkino, als so manche Beiträge der leicht eingerosteten Regie-Helden der letzten Jahrzehnte.
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Insofern hätte man sich auch keinen besseren Zeitpunkt für diese Goldene Palme vorstellen können, als das Jahr Null nach Corona, das Jahr, in dem sich das Kino zu einem Neuanfang zwingen muss, wenn es nicht den Kampf gegen die Streamer verlieren und sterben will.
Um zu überleben, braucht das Kino neue Geschichten, neue Figuren, und vor allem neue Bilder.
Es muss nicht Regionen und Bevölkerungsgruppen und bestimmte politische Ansichten repräsentieren, um interessant zu sein.
Aber es muss überraschen können. Es muss manchmal bezaubern. Und dann wieder irritieren. Viel zu oft geschieht keine von diesen drei Möglichkeiten, sondern die Leinwand zeigt Variationen des Immergleichen und Längstbekannten.
Natürlich erfüllt das Kino immer auch politische Agenden, mögen sie nun sympathisch sein oder nicht. Und es möchte die Menschen besser machen, erziehen, verwandeln. Tatsächlich weiß jeder Kinogänger, dass man aus guten Filmen verwandelt herauskommt, und vielleicht sogar etwas gelernt hat. Man weiß aber eben auch, dass die Absicht, je deutlicher sie erklärt und zur Schau getragen wird und den Rest dominiert, das gewünschte Ziel gerade zerstört.
Aber auch die Agenden müssen sich ändern. Das Kunstkino muss sich dem wieder öffnen, was das Kino inzwischen nur im Mainstream oder in seinen Nischenbezirken abbildet: Dem Unbewussten, Surrealen, Unklaren, Ungesicherten, Riskanten.
In den nun beginnenden 20er Jahren nach einer globalen Pandemie, in einer eher unsicheren Weltlage und in Wohlstandsgesellschaften, die trotz allem Reichtum und aller Sicherheit von Gegenwartssoziologen als »Gesellschaft der Angst« oder als
»Abstiegsgesellschaft« oder »überfordert und komplexitätsvergessen« beschrieben werden und denen ein »Ende der Illusionen« konstatiert wird, wünscht man sich ein Kino, das solchen Diagnosen nicht mehr mit naiven Utopien oder den Antworten von vorgestern oder Tabus und Korrektheitsvorstellungen begegnet.
Davon wurde in Cannes nur in den seltensten Fällen etwas angedeutet.
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Nebenbei hat die Cannes-Jury dieses Jahres auch noch etwas gemacht, was einfach seit längerer Zeit anstand: Sie hat einer Frau die Goldene Palme verliehen.
Zum allerersten Mal, denn man vergisst immer, dass Jane Campion, die immer genannt wird, sich 1993 den Preis für ihr Piano mit dem Chinesen Chen Kaige (Lebewohl, meine Konkubine) teilen musste.
Aber das politische Statement ist hier Nebensache und lenkt von der Regisseurin nur ab.
Ducournau hat diesen Preis nicht bekommen, weil sie eine Frau ist oder weil angeblich endlich mal eine Frau diesen Preis gewinnen muss. Sondern sie hat ihn bekommen, weil sie den außergewöhnlichsten Film dieses Wettbewerbs gemacht hat. Weil sie einen der wenigen Filme gemacht hat, der Ungesehenes, Neues zeigte, eine neue Figur auf die Leinwand brachte, und Bilder, die jeden Zuschauer körperlich ins Mark treffen und bei denen man sich zwischen Faszination und Ekel oft genug gefragt hat, ob man da jetzt hinschauen möchte, und dann aber nicht weggesehen hat, weil man wusste, man würde etwas versäumen.
Die anderen Preise fielen konventioneller aus – wie der Wettbewerb selbst als ganzer genommen. Dass gleich zweimal Preise ex-aequo verliehen wurden, zeigt auch, dass sich diese Jury nicht in allem einigen konnte, sondern Kompromisse fand.
Aber das ist egal: Das Ereignis dieses Jahres ist der kompromisslose Hauptpreis.