22.07.2021
74. Filmfestspiele Cannes 2021

Abschied aus Walhalla

Bergman Island
Mia Hansen-Løves Bergman Island – die größte Enttäuschung im diesjährigen Wettbewerb
(Foto: Cannes Media Library)

Den weiblichen Blick gibt es nicht, aber dafür einen zweiten Blick auf Paul Verhoevens Benedetta und einen neuen Film von Mia Hansen-Løve – Cannes-Tagebuch, 10. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nur durch Lügen kommt die Wahrheit zum Vorschein.«
- Aus: Benedetta von Paul Verhoeven

»Das aki hinkte, solange ich es kannte, der Zeit hinterher. Es hat, und das ist bittere Ironie, den letzten Zug verpaßt. Im aki roch man förmlich den Nieder­gang des Kinos. Der Glamour der 50er, das Hand­werk­liche war noch zu spüren. Darüber lag die Frei­zü­gig­keit und das Aufbäumen der 70er. Die Uhr, für die Reisenden plakativ seitlich vorne plaziert, scheint auch die Geschichte des Kinos angezeigt zu haben . . . Alles wird halt zum Disney­land.«
- Hans Schif­ferle in der Zeit­schrift 24, 1996

Die Pandemie beschä­digt auch den Geschmack. Nicht den Film­ge­schmack und schon gar nicht den Geschmacks­sinn der Zunge meine ich, sondern die Tatsache, wie viele Gast­stätten auch in Cannes den Lockdown für einen Umbau genutzt haben. Aber nirgendwo sieht es schöner aus als vorher.

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Titane ist auch nach ein paar Tagen noch eine Goldene Palme, die fassungslos macht. Im guten Sinn. Wir werden noch öfters über diesen Film schreiben, so wie überhaupt noch viel darüber geschrieben werden wird. Semi­nar­ar­beiten vor allem. Das ist ein typischer Film fürs Dechif­frier­syn­dikat, für all jene, die nicht so gerne einfach einen Film sehen, und sich dann für diese Erfahrung eine Theorie entwi­ckeln, sondern die umgekehrt einen Film durch die verschie­denen klas­si­schen oder modischen Theo­rie­mo­delle jagen.

Dies ist auch unbedingt etwas anderes als Das Piano, jener mir persön­lich immer schon etwas zu gediegene, zu pseudo-poetische Film, der bisher den einzigen Gewinn einer Goldenen Palme durch eine Frau markierte. Auch das war ein Film, der vor allem wie die sehr ausge­dachte Illus­tra­tion aller möglicher Theo­rie­mo­delle der 80er Jahre wirkte. Und zugleich plumpen Vorur­teilen in die Hände spielte: Frauen sind poetisch, Frauen sind gefühl­voll, schien dieser Film zu sagen, Frauen sind eben, wie wir Männer uns Frauen so vorstellen. Genauer gesagt: Angeblich so vorge­stellt haben. Denn auch wir Männer wussten es schon immer besser.

Titane dagegen sprengt Modelle und Vorstel­lungen. Unter anderem gemeinsam mit den anderen drei Wett­be­werbs­filmen, die von Frauen gemacht wurden, und den diversen Filmen von Regis­seu­rinnen in anderen Reihen sprengen sie auch jede Vorstel­lung, dass es so etwas gäbe, wie einen weib­li­chen Blick. Diese Vorstel­lung ist Unsinn.
Es hätte das Festival dazu nicht gebraucht, aber auch Cannes beweist: Es gibt keinen weib­li­chen Blick! Es gibt viele Blicke von vielen Indi­vi­duen, unter anderem von Frauen. Aber es gibt nichts, was Titane mit The Story of My Wife von Ildiko Inyedi vebindet und diese Filme wieder mit La Fracture von Catherine Corsini und diesen wiederum mit Mia Hansen-Løves Bergman Island.

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Viel­leicht war dies die größte Enttäu­schung im dies­jäh­rigen Wett­be­werb. Weil ich die Filme von Mia Hansen-Løve bisher immer mochte, immer inter­es­sant fand, natur­gemäß in verschie­denen Inten­si­täts­graden. Und vor dem Festival hätte ich erwartet, dass dies ein toller Film wird, und hätten wir auch im Ausnah­me­jahr unsere üblichen Cannes-Wetten platziert, hätte ich wohl auf sie gesetzt. Aber ich mochte diesen Film nicht. Ich finde, er ist der schlech­teste Film, den Hansen-Løve je gemacht hat. Schlimmer aber: Ich fand ihn unglaub­lich unin­ter­es­sant.

Das liegt nicht allein an Vicky Krieps in der Haupt­rolle, obwohl Freund Carlos ganz richtig vermutet hat, dass ich sie so unero­tisch finde, wie kaum eine andere aktuell gut beschäf­tigte Schau­spie­lerin. Aber tatsäch­lich habe ich noch nie verstanden, warum man Vicky Krieps besetzt, was man ernsthaft an deren verschla­fener Sprech­weise und Ausstrah­lung finden kann.

Aber das ist es gar nicht.

Es ist eher die Tatsache, dass dieser Film eine überaus platte, weder besonders witzige, noch besonders ernst­hafte und schon gar nicht subtile Aufar­bei­tung der Beziehung der Regis­seurin mit Olivier Assayas ist. Garniert mit einem durch Bergman-Ornamente erzeugten Bedeu­tungs­flair.

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Es geht um ein Paar, einen Regisseur der 50 plus x Jahre alt ist und mit einer Regis­seurin zusammen ist, die Anfang 30 ist. Tim Roth spielt Assayas, Vicky Krieps die Regis­seurin.
Beide haben ein junges Kind, das bei Verwandten unter­ge­bracht ist, und beide sind zusammen auf die schwe­di­sche Insel Farö gefahren, weil sie dort ein Häuschen gemietet haben, um in Ruhe an ihren jewei­ligen Dreh­büchern weiter­ar­beiten zu können. Nebenbei soll ein bisschen Bergman-Stimmung getankt werden.

Das schwe­di­sche Tourismus-Institut ist bestimmt sehr glücklich mit diesem Film, denn es wird nicht wenige Leute geben, die danach Lust haben, auch mal eine Bergman-Tour zu buchen oder auch mal das Haus von innen zu sehen, wo der große schwe­di­sche Regisseur sich für seine Filme inspi­rieren ließ.

So weit, so gut. Nur kommt es in der Geschichte dann bald zum einen zu den bekannten, weil allen Klischees entspre­chenden Eifer­süch­te­leien – er ist unglaub­lich produktiv, schreibt Seite um Seite, sie leidet unter einer Schreib­blo­ckade. Er hat keine richtige Zeit für sie und ist auch nicht besonders neugierig auf ihre neuen Ideen, teilt aber seine eigenen auch nicht umgekehrt mit der Lebens­ge­fährtin. Er bekommt dauernd Anrufe von irgend­wel­chen Leuten, die mit ihm zusam­men­ar­beiten wollen, und hat Treffen mit Produ­zenten und Welt­ver­trieben, für sie inter­es­siert sich nur der örtliche Nerd.
Das ist alles relativ entspannt. Weil die Regis­seurin das selber auch mal gespürt hat, greift sie Mitte des Films zu einem Kunst­griff: Die Figuren ihrer neuen Geschichte mate­ria­li­sieren sich, und halten sich nun selber auf Farö auf, bewegen sich in den gleichen Räumen, und treffen irgend­wann sogar die Regis­seurin selbst.
Man kann sich nun entzücken ob solch poeti­scher Einfälle, um Krea­ti­vität in Bilder zu fassen. Ich war eher angeödet, weil es keine erkenn­bare Richtung nimmt und ziemlich sinnlose Bedeu­tungs­hu­berei ist.
Und das große Vorbild Bergman, über den Olivier Assayas bereits lange vor seiner Beziehung zu Hansen-Løve einen Doku­men­tar­film gedreht hat, wird regel­recht ausge­beutet.

Das Anspie­lungs­ma­te­rial liegt so platt zutage, wie es platter gar nicht geht. Klar: Szenen einer Ehe; klar: Die Zeit mit Monika; klar: Persona. Nur hat dieser Film ästhe­tisch so gar nichts mit Bergman zu tun. Welten trennen ihn von dessen Tiefe und Schärfe. Statt schmerz­haft ist Bergman Island nur weiner­lich.

Und dann noch die ganze Abba-Musik...

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Paul Verhoeven liebt das Chaos. Die Provo­ka­tion. Und schon deswegen muss man ihn und seine Filme lieben.

Das Unkon­ven­tio­nelle, Provo­ka­tive war schon immer das Haupt­in­ter­esse von Paul Verhoeven, der auch mit über 80 und 30 Jahre nach Basic Instinct Spaß daran hat, der Gesell­schaft ihre Doppel­moral und den Tugend­ta­liban unserer Brei­ten­ge­rade ihre Untugend vorzu­halten. In diesem Fall geht es auch darum, zu zeigen, dass ex-christ­liche Länder Europas sich auch mit den Abgründen der eigenen Religion beschäf­tigen dürfen.

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Flesh & Blood heißt der frühere, relativ verges­sene Mittel­alter-Film von Paul Verhoeven mit Rutger Hauer. Was für eine Rolle hätte Rutger Hauer wohl in diesem Film gespielt, lebte er noch?

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Benedetta erzählt die Geschichte einer Nonne, die zuerst Visionen hat, und dann die Frau­en­liebe für sich entdeckt. Eine Weile ist sie eine früh­neu­zeit­liche Touris­ten­at­trak­tion, dann kommt die Inqui­si­tion.

Als nase­weises, sehr sehr gläubiges Kind reicher Leute kommt sie ins Nonnen­kloster. Offenbar schon damals mit Gott oder der heiligen Jungfrau im Bunde. Auf dem Weg ins Kloster werden sie über­fallen und die Kleine ist die Einzige, die sich den Räubern furchtlos in den Weg stellt und das Gold ihrer Eltern vertei­digt.

Charlotte Rampling empfängt sie dann. Sie spielt eine schmun­ze­lige Äbtissin, die die Reichen ausnimmt mit Sprüchen, wie dass man hier nicht auf dem Basar sei, und der Papa sich doch nicht jüdisch benehmen und feilschen sollte wie die gottlosen Juden.

Solche kleinen Bosheiten über die Kirche und ihren Anti­se­mi­tismus gefallen dem Regisseur. Verhoe­vens Film ist hoch­un­ter­haltsam und klüger, als er manchmal aussieht. Lustig sind die kleinen theo­lo­gi­schen Dispu­ta­tionen, wie jene, ob es eigent­lich auch für Wunder bestimmte gemein­same Muster und Regeln gibt, nach denen sich Gott offenbart. Oder ob eher gilt: »God is not bound to any rules of the book.« Dieser Einwand kommt aller­dings von einem ehrgei­zigen zynischen Bischof.

Der Regisseur zeichnet vor allem ein altka­tho­lisch sattes, grelles Bild der Renais­sance voller Vulga­ri­täten und expli­ziten Szenen, zu denen nicht nur der Sex im Kloster gehört, sondern auch platzende Pest­beulen, Autodafes auf dem Markt­platz, irr gewordene Nonnen und betont kitschig süßliche Chris­tus­vi­sionen, in denen der Heiland aussieht wie ein Beau aus der neuesten Jeans-Werbung. Und der britisch-fran­zö­si­sche Weltstar Rampling spielt eine kühle süffi­sante ungläu­bige Äbtissin, die schon zuviel gesehen hat, als dass sie Visionen, Pest und Todsünde noch erschüt­tern könnten.

Zugleich kann man konsta­tieren: Im Vergleich zum wunder­baren Elle finde ich es etwas merk­würdig, was Verhoeven hier macht. Und ich verstehe eigent­lich nicht, warum er es macht, was ihn daran inter­es­siert. Aber so ist Verhoeven. In seiner Karriere gibt es Meis­ter­werke und es gibt die eher merk­wür­digen und ein bisschen durch­schnitt­li­chen Filme, wie Hollow Man. Gleich­zeitig sage ich mir natürlich auch, dass sich dieser Film viel­leicht später im Nach­hinein doch noch als Meis­ter­werk entpuppen könnte. So wie etwa Black Book, den ich, als er 2006 in Venedig lief, mögen wollte, aber eigent­lich nicht gemocht habe. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass das eines seiner Meis­ter­werke ist und ich den Film unter­schätzt habe.

Einer der entschei­denden Sätze könnte auch für dessen Haupt­figur gelten: »Humi­lia­tion does not leave a mark.«