74. Filmfestspiele Cannes 2021
Abschied aus Walhalla |
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Mia Hansen-Løves Bergman Island – die größte Enttäuschung im diesjährigen Wettbewerb | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Nur durch Lügen kommt die Wahrheit zum Vorschein.«
- Aus: Benedetta von Paul Verhoeven»Das aki hinkte, solange ich es kannte, der Zeit hinterher. Es hat, und das ist bittere Ironie, den letzten Zug verpaßt. Im aki roch man förmlich den Niedergang des Kinos. Der Glamour der 50er, das Handwerkliche war noch zu spüren. Darüber lag die Freizügigkeit und das Aufbäumen der 70er. Die Uhr, für die Reisenden plakativ seitlich vorne plaziert, scheint auch die Geschichte des Kinos angezeigt zu haben . . . Alles wird halt zum Disneyland.«
- Hans Schifferle in der Zeitschrift 24, 1996
Die Pandemie beschädigt auch den Geschmack. Nicht den Filmgeschmack und schon gar nicht den Geschmackssinn der Zunge meine ich, sondern die Tatsache, wie viele Gaststätten auch in Cannes den Lockdown für einen Umbau genutzt haben. Aber nirgendwo sieht es schöner aus als vorher.
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Titane ist auch nach ein paar Tagen noch eine Goldene Palme, die fassungslos macht. Im guten Sinn. Wir werden noch öfters über diesen Film schreiben, so wie überhaupt noch viel darüber geschrieben werden wird. Seminararbeiten vor allem. Das ist ein typischer Film fürs Dechiffriersyndikat, für all jene, die nicht so gerne einfach einen Film sehen, und sich dann für diese Erfahrung eine Theorie entwickeln, sondern die umgekehrt einen Film durch die verschiedenen klassischen oder modischen Theoriemodelle jagen.
Dies ist auch unbedingt etwas anderes als Das Piano, jener mir persönlich immer schon etwas zu gediegene, zu pseudo-poetische Film, der bisher den einzigen Gewinn einer Goldenen Palme durch eine Frau markierte. Auch das war ein Film, der vor allem wie die sehr ausgedachte Illustration aller möglicher Theoriemodelle der 80er Jahre wirkte. Und zugleich plumpen Vorurteilen in die Hände spielte: Frauen sind poetisch, Frauen sind gefühlvoll, schien dieser Film zu sagen, Frauen sind eben, wie wir Männer uns Frauen so vorstellen. Genauer gesagt: Angeblich so vorgestellt haben. Denn auch wir Männer wussten es schon immer besser.
Titane dagegen sprengt Modelle und Vorstellungen. Unter anderem gemeinsam mit den anderen drei Wettbewerbsfilmen, die von Frauen gemacht wurden, und den diversen Filmen von Regisseurinnen in anderen Reihen sprengen sie auch jede Vorstellung, dass es so etwas gäbe, wie einen weiblichen Blick. Diese Vorstellung ist Unsinn.
Es hätte das Festival dazu nicht gebraucht, aber auch
Cannes beweist: Es gibt keinen weiblichen Blick! Es gibt viele Blicke von vielen Individuen, unter anderem von Frauen. Aber es gibt nichts, was Titane mit The Story of My Wife von Ildiko Inyedi vebindet und diese Filme wieder mit La Fracture von Catherine Corsini und diesen wiederum mit Mia Hansen-Løves Bergman Island.
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Vielleicht war dies die größte Enttäuschung im diesjährigen Wettbewerb. Weil ich die Filme von Mia Hansen-Løve bisher immer mochte, immer interessant fand, naturgemäß in verschiedenen Intensitätsgraden. Und vor dem Festival hätte ich erwartet, dass dies ein toller Film wird, und hätten wir auch im Ausnahmejahr unsere üblichen Cannes-Wetten platziert, hätte ich wohl auf sie gesetzt. Aber ich mochte diesen Film nicht. Ich finde, er ist der schlechteste Film, den Hansen-Løve je gemacht hat. Schlimmer aber: Ich fand ihn unglaublich uninteressant.
Das liegt nicht allein an Vicky Krieps in der Hauptrolle, obwohl Freund Carlos ganz richtig vermutet hat, dass ich sie so unerotisch finde, wie kaum eine andere aktuell gut beschäftigte Schauspielerin. Aber tatsächlich habe ich noch nie verstanden, warum man Vicky Krieps besetzt, was man ernsthaft an deren verschlafener Sprechweise und Ausstrahlung finden kann.
Aber das ist es gar nicht.
Es ist eher die Tatsache, dass dieser Film eine überaus platte, weder besonders witzige, noch besonders ernsthafte und schon gar nicht subtile Aufarbeitung der Beziehung der Regisseurin mit Olivier Assayas ist. Garniert mit einem durch Bergman-Ornamente erzeugten Bedeutungsflair.
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Es geht um ein Paar, einen Regisseur der 50 plus x Jahre alt ist und mit einer Regisseurin zusammen ist, die Anfang 30 ist. Tim Roth spielt Assayas, Vicky Krieps die Regisseurin.
Beide haben ein junges Kind, das bei Verwandten untergebracht ist, und beide sind zusammen auf die schwedische Insel Farö gefahren, weil sie dort ein Häuschen gemietet haben, um in Ruhe an ihren jeweiligen Drehbüchern weiterarbeiten zu können. Nebenbei soll ein bisschen Bergman-Stimmung getankt
werden.
Das schwedische Tourismus-Institut ist bestimmt sehr glücklich mit diesem Film, denn es wird nicht wenige Leute geben, die danach Lust haben, auch mal eine Bergman-Tour zu buchen oder auch mal das Haus von innen zu sehen, wo der große schwedische Regisseur sich für seine Filme inspirieren ließ.
So weit, so gut. Nur kommt es in der Geschichte dann bald zum einen zu den bekannten, weil allen Klischees entsprechenden Eifersüchteleien – er ist unglaublich produktiv, schreibt Seite um Seite, sie leidet unter einer Schreibblockade. Er hat keine richtige Zeit für sie und ist auch nicht besonders neugierig auf ihre neuen Ideen, teilt aber seine eigenen auch nicht umgekehrt mit der Lebensgefährtin. Er bekommt dauernd Anrufe von irgendwelchen Leuten, die mit ihm
zusammenarbeiten wollen, und hat Treffen mit Produzenten und Weltvertrieben, für sie interessiert sich nur der örtliche Nerd.
Das ist alles relativ entspannt. Weil die Regisseurin das selber auch mal gespürt hat, greift sie Mitte des Films zu einem Kunstgriff: Die Figuren ihrer neuen Geschichte materialisieren sich, und halten sich nun selber auf Farö auf, bewegen sich in den gleichen Räumen, und treffen irgendwann sogar die Regisseurin selbst.
Man kann sich nun entzücken
ob solch poetischer Einfälle, um Kreativität in Bilder zu fassen. Ich war eher angeödet, weil es keine erkennbare Richtung nimmt und ziemlich sinnlose Bedeutungshuberei ist.
Und das große Vorbild Bergman, über den Olivier Assayas bereits lange vor seiner Beziehung zu Hansen-Løve einen Dokumentarfilm gedreht hat, wird regelrecht ausgebeutet.
Das Anspielungsmaterial liegt so platt zutage, wie es platter gar nicht geht. Klar: Szenen einer Ehe; klar: Die Zeit mit Monika; klar: Persona. Nur hat dieser Film ästhetisch so gar nichts mit Bergman zu tun. Welten trennen ihn von dessen Tiefe und Schärfe. Statt schmerzhaft ist Bergman Island nur weinerlich.
Und dann noch die ganze Abba-Musik...
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Paul Verhoeven liebt das Chaos. Die Provokation. Und schon deswegen muss man ihn und seine Filme lieben.
Das Unkonventionelle, Provokative war schon immer das Hauptinteresse von Paul Verhoeven, der auch mit über 80 und 30 Jahre nach Basic Instinct Spaß daran hat, der Gesellschaft ihre Doppelmoral und den Tugendtaliban unserer Breitengerade ihre Untugend vorzuhalten. In diesem Fall geht es auch darum, zu zeigen, dass ex-christliche Länder Europas sich auch mit den Abgründen der eigenen Religion beschäftigen dürfen.
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Flesh & Blood heißt der frühere, relativ vergessene Mittelalter-Film von Paul Verhoeven mit Rutger Hauer. Was für eine Rolle hätte Rutger Hauer wohl in diesem Film gespielt, lebte er noch?
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Benedetta erzählt die Geschichte einer Nonne, die zuerst Visionen hat, und dann die Frauenliebe für sich entdeckt. Eine Weile ist sie eine frühneuzeitliche Touristenattraktion, dann kommt die Inquisition.
Als naseweises, sehr sehr gläubiges Kind reicher Leute kommt sie ins Nonnenkloster. Offenbar schon damals mit Gott oder der heiligen Jungfrau im Bunde. Auf dem Weg ins Kloster werden sie überfallen und die Kleine ist die Einzige, die sich den Räubern furchtlos in den Weg stellt und das Gold ihrer Eltern verteidigt.
Charlotte Rampling empfängt sie dann. Sie spielt eine schmunzelige Äbtissin, die die Reichen ausnimmt mit Sprüchen, wie dass man hier nicht auf dem Basar sei, und der Papa sich doch nicht jüdisch benehmen und feilschen sollte wie die gottlosen Juden.
Solche kleinen Bosheiten über die Kirche und ihren Antisemitismus gefallen dem Regisseur. Verhoevens Film ist hochunterhaltsam und klüger, als er manchmal aussieht. Lustig sind die kleinen theologischen Disputationen, wie jene, ob es eigentlich auch für Wunder bestimmte gemeinsame Muster und Regeln gibt, nach denen sich Gott offenbart. Oder ob eher gilt: »God is not bound to any rules of the book.« Dieser Einwand kommt allerdings von einem ehrgeizigen zynischen Bischof.
Der Regisseur zeichnet vor allem ein altkatholisch sattes, grelles Bild der Renaissance voller Vulgaritäten und expliziten Szenen, zu denen nicht nur der Sex im Kloster gehört, sondern auch platzende Pestbeulen, Autodafes auf dem Marktplatz, irr gewordene Nonnen und betont kitschig süßliche Christusvisionen, in denen der Heiland aussieht wie ein Beau aus der neuesten Jeans-Werbung. Und der britisch-französische Weltstar Rampling spielt eine kühle süffisante ungläubige Äbtissin, die schon zuviel gesehen hat, als dass sie Visionen, Pest und Todsünde noch erschüttern könnten.
Zugleich kann man konstatieren: Im Vergleich zum wunderbaren Elle finde ich es etwas merkwürdig, was Verhoeven hier macht. Und ich verstehe eigentlich nicht, warum er es macht, was ihn daran interessiert. Aber so ist Verhoeven. In seiner Karriere gibt es Meisterwerke und es gibt die eher merkwürdigen und ein bisschen durchschnittlichen Filme, wie Hollow Man. Gleichzeitig sage ich mir natürlich auch, dass sich dieser Film vielleicht später im Nachhinein doch noch als Meisterwerk entpuppen könnte. So wie etwa Black Book, den ich, als er 2006 in Venedig lief, mögen wollte, aber eigentlich nicht gemocht habe. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass das eines seiner Meisterwerke ist und ich den Film unterschätzt habe.
Einer der entscheidenden Sätze könnte auch für dessen Hauptfigur gelten: »Humiliation does not leave a mark.«