74. Filmfestspiele Cannes 2021
Wenn Körper sich nicht fügen wollen... |
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Film als »Nation Building« in der Cannes Classic-Reihe: I Know Where I’m Going | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Am Ende des viktorianischen Zeitalters stand die Erfindung des Films. Vielleicht ist das Kino, was Moral, Technik und Kunst anbelangt, die Vollendung dieser Zeit und schließlich ihre Überwindung.«
- Hans Schifferle, SZ, 19.03.93, (Spielfilm-Tips zum Wochenende)
»Good to see you! How are you?« – »I survived. Everybody says: 'I survived.'« Ein kurzer Dialog auf der Presseterrasse mit einem Kollegen aus Portugal, den ich seit Jahren immer wieder auf den Festivals dieser Welt treffe. Er ist recht typisch für die Gespräche und die Atmosphären, die uns hier begegnen.
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Kriegsmetaphern sind in Deutschland nicht sehr beliebt, aus verständlichen Gründen. In anderen Ländern sind sie es mehr, insbesondere in Bezug auf Covid-19. Wenn es heißt, man habe die Pandemie bis jetzt überlebt, dann bezieht sich das auf diesen Eindruck, dass es hier einen Feind gibt, der einen attackiert und der einem zumindest potentiell nach dem Leben trachtet. Auch in den Kriegen des Jahrhunderts gab es Risikogruppen.
Und vielleicht ist diese merkwürdig gebrochene, ambivalente Stimmung hier in Cannes, diese Mischung aus Lebenslust und Melancholie, das mitunter ziemlich vulgäre Feiern im Augenblick und zugleich die gedämpfte Schwierigkeit damit, sich wirklich zu freuen und sich wirklich auf das Festival einzulassen, vielleicht ist diese Atmosphäre des merkwürdigen Jahres 2021 derjenigen Atmosphäre gar nicht so unvergleichbar, wie ich sie mir vorstelle, dass sie im Zweiten Weltkrieg in den Bars und Cafés neutraler Länder geherrscht haben muss. In Portugal zum Beispiel, das Erich Maria Remarque beschreibt (Die Nacht von Lissabon), oder in Uruguay während der 30er und 40er Jahre. Casablanca war überall. In Montevideo soll es, so erzählt man sich, eine Straßenkreuzung gegeben haben, in der sich auf der einen Seite eine Café-Bar befand, die ein beliebter Treffpunkt von Faschisten und Nazi-Sympathisanten war, und direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite eine Café-Bar, die von Parteigängern der Alliierten und von Emigranten und Flüchtlingen vor den Nazis besucht wurde.
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In den „Cannes Classics“ lief ein Film von den „Archers“, also Michael Powell und Emeric Pressburger, der aus diesen 40er Jahren stammte. Über dieses außergewöhnliche Regieduo müsste man jetzt eigentlich viel erzählen.
Aber wichtiger ist es, dieses wunderbaren Präsentationsrituale zu beschreiben, mit denen hier ein Film vorgestellt wird. Der Film läuft nämlich nicht einfach, sondern er bekommt auch im Fall von Klassikern eine Einführung, die idealerweise vom Chef und Gastgeber persönlich, von Thierry Fremaux stammt. Dazu gibt es illustre Gäste. Im Fall von Powell/Pressburgers I Know
Where I’m Going war es Tilda Swinton, die persönlich im Saal war, in der dritten Reihe aufstand, ein Mikrophon bekam und sehr glaubwürdig behauptete, bei diesem Film handle es sich um ihren persönlichen Lieblingsfilm. Weil es hier um die Hebrideninsel gehe, auf der sie selbst aufgewachsen sei, »my family island« – wobei man, wenn man den Film dann gesehen hatte, hinzufügen konnte, dass im Film zwar von der Insel Kiloran dauernd die Rede ist, sie aber bis zum
Schluss nie erreicht wird. Warum, dazu kommen wir noch.
Swinton meinte weiter, dass dieser Film deswegen so toll sei, weil: »It is the best picture on Scotland by an Englishman and by an Hungariarian«.
»I am so grateful to Thierry. This is a huge moment!«
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Dann wurde ein Video eingespielt, auf dem Martion Scorsese zu sehen war. Er sagte zur Begrüßung folgendes:
»Whenever I am working, there are moments when I certainly come aware, of dozens of people, who have been my life, people I love, gueded me, inpired me, they are all gone. But in a sense really they are not gone at all. They are still guiding and truly still inspiring me. One of those people was Michael Powell. I started by admiring his pictures ... He became my friend. I saw most
of the films made by the Archers when I was very young. But there were some I saw later. The first time I saw I Know Where I’m Going was in Los Angeles, in the night before I was shooting Raging Bull. I aproached it very sceptical. I thought that maybe that would be a lighter picture. I
was so delighted, that I was wrong. Yes it was funny, exciting, truly mystical ... I have seen it many times since then, I really lost counting. And I am moved and surprised every time. It comes to my enchanted suspense...«
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I Know Where I’m Going wurde 1945 gedreht und erzählt von Joan, einer jungen Schottin, die uns bereits als Kind gezeigt und als sehr unabhängig und eigensinnig vorgestellt wird. Sie ist mit einem sehr reichen Engländer verlobt, der es sich hat einfallen lassen, die Hochzeit auf einer – gemieteten – Hebrideninsel stattfinden zu lassen. Doch ein Unwetter
verhindert an der Küste die Überfahrt, sie muss ein paar Tage in einem Fischerdorf verbringen, und lernt Land und Leute mit anderen Augen sehen.
Wie bei dem Titel nicht anders zu erwarten, wird ihr im Laufe des Films klargemacht, dass sie nicht immer weiß, wo sie hingeht. Es sind hochinteressante gute Darsteller. Die von Wendy Hiller gespielte Hauptfigur ist eigentlich die einzige, die mich stört, die weder gut spielt noch gut aussieht, und eher etwas sehr Selbstgerechtes
ausstrahlt. Das soll sie natürlich auch. So gesehen eine interessante Figur: Keineswegs sympathisch, sondern ein arroganter Kontrollfreak. Als sie begreift, dass zuerst die Natur sich ihren Plänen nicht fügt und sie sich dann noch in einen schottischen Adligen verliebt, befällt sie Panik. In einem Zeitalter, in dem Fördergremien und Redaktionen, aber auch Filmkritiker ständige Plausibilität und »Glaubwürdigkeit« von Figuren verlangen, erinnert uns der Film daran, dass das
Leben etwas ist, das weitgehend außerhalb unserer Kontrolle liegen kann.
Dieser Film stellt ein Land und seine Menschen vor, leistet eine Art Nation-Building, allerdings für Fremde, für diejenigen, die das Land nicht kennen. Denn das Land selbst ist ja schon eine Nation, aber der Rest der Welt nimmt den Unterschied dieses Landes gegenüber England nicht wahr. Dieses Defizit will der Film aufheben. So ähnlich haben es die gleichen beiden Regisseure nur ein paar Jahre zuvor gemacht: bei dem Film 49th Parallel.
Noch eine Kleinigkeit: Die bei uns als Schlagersängerin bekannte Petula Clark spielt ein exzentrisches Mädchen.
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Wenn ich früher die SZ-Filmseite aufschlug, wusste ich immer gleich, ob dies ein Text von Hans Schifferle war, längst bevor ich das Namenskürzel unten am Ende des Textes gesehen hatte. Sie hatten einen eigenen Sound, und sie redeten nie um den Film herum: In ihnen ging es weder wie bei Michael Althen in dieser romantisch-liebenden Art irgendwann um »das Kino« an-sich, noch wie bei Fritz Göttler um neueste französische Theorie oder alte Strukturalisten, Hauptsache Anti-Adorno und Pro-Grafe. Sondern es ging sehr sehr konkret, so konkret wie möglich um die Filme, die jetzt hier zu besprechen waren. Nicht zufällig ist »concrete« im Englischen auch das Wort für Beton. Hans hat seine Texte eher geschraubt, und die Schrauben sehr fest gezogen, wie bei seinen Motorrädern.
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Titane von Julia Ducournau wäre ein Film für Hans Schifferle gewesen, nicht nur, weil er von einer jungen Frau handelt, die von Maschinen fasziniert ist.
Manchmal genügen wenige Sekunden, weiß man nach ein paar Minuten, ob der Film einen bei der Hand nimmt oder allein lässt, ob man ihm vertrauen kann, sich ihm hingeben, oder besser nicht. Selten täuscht dieses Gefühl.
Hier, in Julie D’s Film Titane hat man sehr schnell das Gefühl, sich auf diesen Film verlassen zu können. Es stimmt dann eine gute halbe Stunde lang, danach schwindet das Vertrauen und bis zum Schluss habe ich mit dem Film gehadert, einerseits fasziniert, andererseits abgestoßen, einerseits mich auf die Vision der Autoren einlassen wollend, andererseits mir selber zugeben müssen, dass sie nicht ganz funktioniert.
Wenn einige Dutzend Zuschauer – egal was man von einem Pressepublikum in Cannes halten mag – mehr als einmal während des Films lachen, dann hat dies bestimmt auch etwas mit der Verlegenheit zu tun, mit der manche nur auf diese Weise fertig werden. Aber es zeigt auch, dass hier etwas möglicherweise nicht ganz gelungen ist.
Zugleich muss man erstmal betonen, was alles gelingt in Titane; man muss klar herausarbeiten, dass dies ein hervorragender Film ist, meisterlich inszeniert und allem Anschein nach sehr gut kontrolliert von einer Regisseurin, die weiß, was sie will.
Die Probleme, die dieser Film meiner Meinung nach hat, liegen darin, dass sie zu viel gewollt hat, und Dinge gewollt hat, die einander widersprechen und die sie dann nicht ganz kontrollieren konnte.
Auch über Geschmack kann man sich natürlich streiten – in diesem Fall über die Frage, ob die Wahl des Schauspielers Vincent Lindon, der in Frankreich so ziemlich alles machen darf, was er will, und für viele offenbar eine beliebte Allzweckwaffe ist, in diesem Fall wirklich eine so
gute war.
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So richtig kann sich die Regisseurin nicht zwischen zwei Filmen entscheiden. Der eine ist die Geschichte einer Serienmörderin – endlich mal im Kino. Das andere ist eine Art Frankenstein-Geschichte. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt oder zusammenhängen könnte, aber bleibt unklar.
In mancher Hinsicht hat mich dieser Film auch an den zweiten der Iranerin Ana Lily Amirpour erinnert: The Bad Batch will auch zu viel, ist ein ästhetischer und narrativer Overload, aber doch verteidigenswert.
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Aus meiner Sicht liegt das Problem des Films aber eher darin, dass die Sinnlichkeit des Films letztlich keine wirklich direkte ist, sondern eine vermittelte, abstrahierte, ausgedachte, behauptete Sinnlichkeit.
Es ist eine Frauengeschichte. Sie handelt von der Angst der Frauen. Als Genrefilm kein Romero, kein Argento. Sondern am ehesten und allzu dick aufgetragener „Body Horror“ à la Cronenberg. Also gut. Nur muss man gleich wieder hinzufügen: An keinem Punkt geht der Film über Cronenberg hinaus.
Und dass Schwangerschaft selbst bei so einem Film das zentrale Frauentopic sein muss, lässt mich etwas ratlos zurück.
Dies ist bisher der einzige Film im Wettbewerb, der offen Homosexualität zeigt.
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Die allgemeine Ambivalenz mit Titane brachte später mein italienischer Freund Udo Busaporco in seiner Weise auf den Punkt: »The story is complete stupid. But no Titanic, no Netflix, it is cinema!«
Und »Better than Farhadi«
Aber wir beide waren uns auch einig: Wir müssen diesen Film verteidigen gegen die Puritaner. Gegen die alte, gestrige Idee des heiligen Kinos, des heiligen reinen Autorenfilms den Farhadi, Moretti und andere hier vertreten.