15.07.2021
74. Filmfestspiele Cannes 2021

Wenn Körper sich nicht fügen wollen...

I know where I am going
Film als »Nation Building« in der Cannes Classic-Reihe: I Know Where I’m Going
(Foto: Cannes Media Library)

Kontrollfreaks außer Kontrolle: Ein alter und ein neuer Film über Frauen in Männerwelten – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Am Ende des vikto­ria­ni­schen Zeital­ters stand die Erfindung des Films. Viel­leicht ist das Kino, was Moral, Technik und Kunst anbelangt, die Voll­endung dieser Zeit und schließ­lich ihre Über­win­dung.«
- Hans Schif­ferle, SZ, 19.03.93, (Spielfilm-Tips zum Wochen­ende)

»Good to see you! How are you?« – »I survived. Everybody says: 'I survived.'« Ein kurzer Dialog auf der Pres­se­ter­rasse mit einem Kollegen aus Portugal, den ich seit Jahren immer wieder auf den Festivals dieser Welt treffe. Er ist recht typisch für die Gespräche und die Atmo­sphären, die uns hier begegnen.

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Kriegs­me­ta­phern sind in Deutsch­land nicht sehr beliebt, aus vers­tänd­li­chen Gründen. In anderen Ländern sind sie es mehr, insbe­son­dere in Bezug auf Covid-19. Wenn es heißt, man habe die Pandemie bis jetzt überlebt, dann bezieht sich das auf diesen Eindruck, dass es hier einen Feind gibt, der einen atta­ckiert und der einem zumindest poten­tiell nach dem Leben trachtet. Auch in den Kriegen des Jahr­hun­derts gab es Risi­ko­gruppen.

Und viel­leicht ist diese merk­würdig gebro­chene, ambi­va­lente Stimmung hier in Cannes, diese Mischung aus Lebens­lust und Melan­cholie, das mitunter ziemlich vulgäre Feiern im Augen­blick und zugleich die gedämpfte Schwie­rig­keit damit, sich wirklich zu freuen und sich wirklich auf das Festival einzu­lassen, viel­leicht ist diese Atmo­sphäre des merk­wür­digen Jahres 2021 derje­nigen Atmo­sphäre gar nicht so unver­gleichbar, wie ich sie mir vorstelle, dass sie im Zweiten Weltkrieg in den Bars und Cafés neutraler Länder geherrscht haben muss. In Portugal zum Beispiel, das Erich Maria Remarque beschreibt (Die Nacht von Lissabon), oder in Uruguay während der 30er und 40er Jahre. Casablanca war überall. In Monte­video soll es, so erzählt man sich, eine Straßen­kreu­zung gegeben haben, in der sich auf der einen Seite eine Café-Bar befand, die ein beliebter Treff­punkt von Faschisten und Nazi-Sympa­thi­santen war, und direkt gegenüber auf der anderen Straßen­seite eine Café-Bar, die von Partei­gän­gern der Alli­ierten und von Emigranten und Flücht­lingen vor den Nazis besucht wurde.

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In den „Cannes Classics“ lief ein Film von den „Archers“, also Michael Powell und Emeric Press­burger, der aus diesen 40er Jahren stammte. Über dieses außer­ge­wöhn­liche Regieduo müsste man jetzt eigent­lich viel erzählen.

Aber wichtiger ist es, dieses wunder­baren Präsen­ta­ti­ons­ri­tuale zu beschreiben, mit denen hier ein Film vorge­stellt wird. Der Film läuft nämlich nicht einfach, sondern er bekommt auch im Fall von Klas­si­kern eine Einfüh­rung, die idea­ler­weise vom Chef und Gastgeber persön­lich, von Thierry Fremaux stammt. Dazu gibt es illustre Gäste. Im Fall von Powell/Press­bur­gers I Know Where I’m Going war es Tilda Swinton, die persön­lich im Saal war, in der dritten Reihe aufstand, ein Mikrophon bekam und sehr glaub­würdig behaup­tete, bei diesem Film handle es sich um ihren persön­li­chen Lieb­lings­film. Weil es hier um die Hebri­den­insel gehe, auf der sie selbst aufge­wachsen sei, »my family island« – wobei man, wenn man den Film dann gesehen hatte, hinzu­fügen konnte, dass im Film zwar von der Insel Kiloran dauernd die Rede ist, sie aber bis zum Schluss nie erreicht wird. Warum, dazu kommen wir noch.
Swinton meinte weiter, dass dieser Film deswegen so toll sei, weil: »It is the best picture on Scotland by an Englishman and by an Hunga­ria­rian«.
»I am so grateful to Thierry. This is a huge moment!«

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Dann wurde ein Video einge­spielt, auf dem Martion Scorsese zu sehen war. Er sagte zur Begrüßung folgendes:
»Whenever I am working, there are moments when I certainly come aware, of dozens of people, who have been my life, people I love, gueded me, inpired me, they are all gone. But in a sense really they are not gone at all. They are still guiding and truly still inspiring me. One of those people was Michael Powell. I started by admiring his pictures ... He became my friend. I saw most of the films made by the Archers when I was very young. But there were some I saw later. The first time I saw I Know Where I’m Going was in Los Angeles, in the night before I was shooting Raging Bull. I aproached it very sceptical. I thought that maybe that would be a lighter picture. I was so delighted, that I was wrong. Yes it was funny, exciting, truly mystical ... I have seen it many times since then, I really lost counting. And I am moved and surprised every time. It comes to my enchanted suspense...«

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I Know Where I’m Going wurde 1945 gedreht und erzählt von Joan, einer jungen Schottin, die uns bereits als Kind gezeigt und als sehr unab­hängig und eigen­sinnig vorge­stellt wird. Sie ist mit einem sehr reichen Engländer verlobt, der es sich hat einfallen lassen, die Hochzeit auf einer – gemie­teten – Hebri­den­insel statt­finden zu lassen. Doch ein Unwetter verhin­dert an der Küste die Überfahrt, sie muss ein paar Tage in einem Fischer­dorf verbringen, und lernt Land und Leute mit anderen Augen sehen.
Wie bei dem Titel nicht anders zu erwarten, wird ihr im Laufe des Films klar­ge­macht, dass sie nicht immer weiß, wo sie hingeht. Es sind hoch­in­ter­es­sante gute Darsteller. Die von Wendy Hiller gespielte Haupt­figur ist eigent­lich die einzige, die mich stört, die weder gut spielt noch gut aussieht, und eher etwas sehr Selbst­ge­rechtes ausstrahlt. Das soll sie natürlich auch. So gesehen eine inter­es­sante Figur: Keines­wegs sympa­thisch, sondern ein arro­ganter Kontroll­freak. Als sie begreift, dass zuerst die Natur sich ihren Plänen nicht fügt und sie sich dann noch in einen schot­ti­schen Adligen verliebt, befällt sie Panik. In einem Zeitalter, in dem Förder­gre­mien und Redak­tionen, aber auch Film­kri­tiker ständige Plau­si­bi­lität und »Glaub­wür­dig­keit« von Figuren verlangen, erinnert uns der Film daran, dass das Leben etwas ist, das weit­ge­hend außerhalb unserer Kontrolle liegen kann.

Dieser Film stellt ein Land und seine Menschen vor, leistet eine Art Nation-Building, aller­dings für Fremde, für dieje­nigen, die das Land nicht kennen. Denn das Land selbst ist ja schon eine Nation, aber der Rest der Welt nimmt den Unter­schied dieses Landes gegenüber England nicht wahr. Dieses Defizit will der Film aufheben. So ähnlich haben es die gleichen beiden Regis­seure nur ein paar Jahre zuvor gemacht: bei dem Film 49th Parallel.

Noch eine Klei­nig­keit: Die bei uns als Schla­ger­sän­gerin bekannte Petula Clark spielt ein exzen­tri­sches Mädchen.

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Wenn ich früher die SZ-Filmseite aufschlug, wusste ich immer gleich, ob dies ein Text von Hans Schif­ferle war, längst bevor ich das Namens­kürzel unten am Ende des Textes gesehen hatte. Sie hatten einen eigenen Sound, und sie redeten nie um den Film herum: In ihnen ging es weder wie bei Michael Althen in dieser roman­tisch-liebenden Art irgend­wann um »das Kino« an-sich, noch wie bei Fritz Göttler um neueste fran­zö­si­sche Theorie oder alte Struk­tu­ra­listen, Haupt­sache Anti-Adorno und Pro-Grafe. Sondern es ging sehr sehr konkret, so konkret wie möglich um die Filme, die jetzt hier zu bespre­chen waren. Nicht zufällig ist »concrete« im Engli­schen auch das Wort für Beton. Hans hat seine Texte eher geschraubt, und die Schrauben sehr fest gezogen, wie bei seinen Motor­rä­dern.

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Titane von Julia Ducournau wäre ein Film für Hans Schif­ferle gewesen, nicht nur, weil er von einer jungen Frau handelt, die von Maschinen faszi­niert ist.

Manchmal genügen wenige Sekunden, weiß man nach ein paar Minuten, ob der Film einen bei der Hand nimmt oder allein lässt, ob man ihm vertrauen kann, sich ihm hingeben, oder besser nicht. Selten täuscht dieses Gefühl.

Hier, in Julie D’s Film Titane hat man sehr schnell das Gefühl, sich auf diesen Film verlassen zu können. Es stimmt dann eine gute halbe Stunde lang, danach schwindet das Vertrauen und bis zum Schluss habe ich mit dem Film gehadert, einer­seits faszi­niert, ande­rer­seits abge­stoßen, einer­seits mich auf die Vision der Autoren einlassen wollend, ande­rer­seits mir selber zugeben müssen, dass sie nicht ganz funk­tio­niert.

Wenn einige Dutzend Zuschauer – egal was man von einem Pres­se­pu­blikum in Cannes halten mag – mehr als einmal während des Films lachen, dann hat dies bestimmt auch etwas mit der Verle­gen­heit zu tun, mit der manche nur auf diese Weise fertig werden. Aber es zeigt auch, dass hier etwas mögli­cher­weise nicht ganz gelungen ist.

Zugleich muss man erstmal betonen, was alles gelingt in Titane; man muss klar heraus­ar­beiten, dass dies ein hervor­ra­gender Film ist, meis­ter­lich insze­niert und allem Anschein nach sehr gut kontrol­liert von einer Regis­seurin, die weiß, was sie will.

Die Probleme, die dieser Film meiner Meinung nach hat, liegen darin, dass sie zu viel gewollt hat, und Dinge gewollt hat, die einander wider­spre­chen und die sie dann nicht ganz kontrol­lieren konnte.
Auch über Geschmack kann man sich natürlich streiten – in diesem Fall über die Frage, ob die Wahl des Schau­spie­lers Vincent Lindon, der in Frank­reich so ziemlich alles machen darf, was er will, und für viele offenbar eine beliebte Allzweck­waffe ist, in diesem Fall wirklich eine so gute war.

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So richtig kann sich die Regis­seurin nicht zwischen zwei Filmen entscheiden. Der eine ist die Geschichte einer Seri­en­mör­derin – endlich mal im Kino. Das andere ist eine Art Fran­ken­stein-Geschichte. Wie das eine mit dem anderen zusam­men­hängt oder zusam­men­hängen könnte, aber bleibt unklar.

In mancher Hinsicht hat mich dieser Film auch an den zweiten der Iranerin Ana Lily Amirpour erinnert: The Bad Batch will auch zu viel, ist ein ästhetischer und narrativer Overload, aber doch verteidigenswert.

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Aus meiner Sicht liegt das Problem des Films aber eher darin, dass die Sinn­lich­keit des Films letztlich keine wirklich direkte ist, sondern eine vermit­telte, abstra­hierte, ausge­dachte, behaup­tete Sinn­lich­keit.

Es ist eine Frau­en­ge­schichte. Sie handelt von der Angst der Frauen. Als Genrefilm kein Romero, kein Argento. Sondern am ehesten und allzu dick aufge­tra­gener „Body Horror“ à la Cronen­berg. Also gut. Nur muss man gleich wieder hinzu­fügen: An keinem Punkt geht der Film über Cronen­berg hinaus.
Und dass Schwan­ger­schaft selbst bei so einem Film das zentrale Frau­en­topic sein muss, lässt mich etwas ratlos zurück.

Dies ist bisher der einzige Film im Wett­be­werb, der offen Homo­se­xua­lität zeigt.

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Die allge­meine Ambi­va­lenz mit Titane brachte später mein italie­ni­scher Freund Udo Busaporco in seiner Weise auf den Punkt: »The story is complete stupid. But no Titanic, no Netflix, it is cinema!«
Und »Better than Farhadi«

Aber wir beide waren uns auch einig: Wir müssen diesen Film vertei­digen gegen die Puritaner. Gegen die alte, gestrige Idee des heiligen Kinos, des heiligen reinen Autoren­films den Farhadi, Moretti und andere hier vertreten.