16.07.2021
74. Filmfestspiele Cannes 2021

Visconti Uno, Antonioni due!

The Story of my Wife
Ildiko Enyedi: Die Geschichte meiner Frau – hässliches, banales Illustrationskino
(Foto: Cannes Media Library)

Was vom Kino übrigblieb: Endlich mal wieder Kaltgetränke und Gespräche übers Kino. Zum Beispiel über Kirill Serebrennikov, Wes Anderson und über Ildiko Enyedi, die ein richtiges Desaster nach Cannes gebracht hat – Cannes-Tagebuch, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Rossel­lini verfolgt mit seiner Kamera Ingrid Bergman wie ein Tiger im Dschungel seine Beute: ohne zu zögern, ohne Mitleid.« – Rudolf Thome

»Wenn man das Kino verlässt, dann grübelt man nach über eine seltsame Liebes­ge­schichte, über eine Ideal­vor­stel­lung auch von Liebe und Kino, die Grenzen über­schreiten will. Aber, was viel wichtiger ist: man verspürt dabei eine leichte, ziemlich schöne Melan­cholie.« – Hans Schif­ferle

Bisher habe ich immer im „Le Crillon“ geschrieben. Dieses alte typisch-fanzö­si­sche Bistro, dessen Vorläufer es angeblich schon zu Napoleons Zeiten gab, gehört zu „meinem Cannes“ bisher untrennbar dazu. Das wissen auch die meisten, die mich kennen, und weil viele das „Crillon“ mögen, ist das auch ein guter Ort, um sich ohne Verab­re­dung einfach über den Weg zu laufen.
In diesem Jahr aber hat es geschlossen. Der Blick durch die Scheibe wirkt, als würde umgebaut, auf zwei Schildern am Eingang steht Wider­sprüch­li­ches: Auf dem einen heißt es, man könne nicht wieder öffnen, auf dem anderen steht, man sei zurück. Weil über dem Lokal weiterhin das alte Namens­schild steht, hoffe ich mal auf Letzteres. In zehn Monaten, im nächsten Mai wissen wir mehr.

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Wir haben aber sowieso wenig (Frei-)Zeit in diesem Jahr. Das hat zum einen mit dem Phänomen zu tun, dass ich bisher schon ein paar Mal beiläufig erwähnt habe: die Filme in Cannes sind diesmal alle sehr lang. Man könnte auch sagen, sie sind zu lang. Manchmal kommen sie einem auch nur so vor. Zusätz­lich verschärft wird dieses Problem dadurch, dass in diesem Jahr der Wett­be­werb mit gleich 24 Filmen im Wett­be­werb ziemlich aufge­blasen ist. 2019 waren es 21 Filme. Und mit denen „Cannes Premieres“ kam noch eine neue Sektion dazu; man könnte auch sagen die Gruppe der Filme „außer Konkur­renz“ ist noch ausge­weitet worden. Kurz und gut: es gibt sowieso schon mehr Filme, die wir Bericht­erstatter sehen „müssen“ oder sollten, und dann sind viele davon auch noch besonders lang. 9 Filme sind klar über zwei Stunden, zwei davon fast 3 Stunden lang, andere nur knapp unter der 120 Minuten-Marke, und auch in der Reihe »Un Certain Regard« waren mehrere Filme sehr lang, und nicht immer war das nötig. Schon der japa­ni­sche Eröff­nungs­film Onoda dauerte 3 Stunden.

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Zeit kostet natürlich auch das Corona-Manage­ment: wie schon berichtet muss man sich regel­mäßig einen aktuellen PCR-Test besorgen, also erstmal buchen, dann zum Test­zen­trum gehen und wieder zurück und jedes Mal, wenn man das Festival Palais betritt, steht man dort erstmal eine Weile in der Schlange, um den Test vorzu­zeigen.

Bei alldem bleibt dann tatsäch­lich wenig Raum für private Verab­re­dungen, dafür, mit den Freunden, die man nicht so oft sieht, auch noch mal wenigs­tens einen Kaffee trinken zu gehen, geschweige denn zusammen zu essen und zu trinken. Am Dienstag war es endlich so weit: Zuerst ging ich mit dem Italiener Ugo Busaporco weg, dann kamen auch noch Nil und Azize dazu. Nil Kural ist die letzte übrig­ge­blie­bene türkische Film­re­dak­teurin und Azize Tan die ehemalige Leiterin des Istanbul-Film­fes­ti­vals, die nach ihrem Rücktritt vor ein paar Jahren andere Festivals in der Türkei leitet.

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Mit Ugo gingen wir erstmal kreuz und quer den Wett­be­werb durch. Bei ihm hört sich das so an: »Farhadi is neorea­lismo. But I want to see no neorea­lismo no more. I am angry about Farhadi: Old master, ma no confron­ta­tion, no Bergman. Is nothing.«

Titane sei kein richtiger Horror­film, aber immerhin explizit weib­li­ches Filme­ma­chen. »Good for compe­ti­tion. No Sean Penn. No nice wellness art. No Netflix. E Cinema!« Recht hat er.

Ich mag es, wie Ugo redet, in seinem Mix aus Italie­nisch und Englisch, das er weniger gut kann als Fran­zö­sisch und der leiden­schaft­li­chen Energie, die er auch nach vielen Jahren nicht jedem Film entge­gen­bringt. Er ist auch ein Viel­ar­beiter, dem man immer wieder im Pres­se­schreib­raum über den Weg läuft.

Wes Andersons The French Dispatch ist auch für Ugo ein guter Film. »Tutto va bene: cast magnifico, tutto bene. Slapstick, gioci – but no passagi della perfec­tione.« Zur Perfek­tion habe er zu viel Lange­weile (noia) und Melan­cholie.
Das stimmt natürlich: Anderson weiß das, er reflek­tiert Lange­weile und eine offene Nostalgie.

Einig waren wir uns dann zwar schnell, dass man heute nost­al­gisch sein muss. Und dass Anderson natürlich auf seine Art auch ein sehr konser­va­tiver Filme­ma­cher ist.

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Dann sagte ich: »But Visconti as well was conser­va­tive.« – Ugos Antwort: »Yes. But he is no Visconti. Because Visconti is cinema!«

Und so ging es weiter, jetzt ganz fern vom aktuellen Cannes-Programm: »Visconti is the best. Even better than Antonioni.« – »For me too.«
Wir stellten eine Rangliste des klas­si­schen italie­ni­schen Kinos auf: »Visconti uno; Antonioni due; Rosselini tre.«
Fellini? »No! Fellini no!« meinte Ugo. »The first Fellini is magnifico. Perfetto, grandioso, bellis­sima, duri, belli, politi, no intellec­tuale, ma narrativa. Tu senti la musica que fa«. Aber danach sei nichts mehr gekommen. Alles Lüge und Theater. Auch La Dolce Vita will Ugo nicht gelten lassen.
»Quarto e de Sica. Visconto e cinema. Antonioni e arte. Rosselini is politics. Perque de Sica e grande? La noncha­lance de cinema. E vero?«

Wenn man auf dieses Kino schaut, kann man jeden­falls alles, was in diesem Jahr läuft, im Vergleich vergessen.

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Es ist ein ganz schön harter Tag für Petrov. Da steht der Mann in der Straßen­bahn, findet keinen Sitzplatz, hustet vor sich hin, und hat Fieber. Plötzlich hält die Straßen­bahn. Draußen steht einer, dessen Gesicht mit einer furcht­erre­genden knall­roten Maske bedeckt ist, eine Art Joker des 23. Jahr­hun­derts. Der hat die Bahn gestoppt und holt ihn raus. Dort in der Kälte der Metropole drückt er Petrov eine Kala­sch­nikow in die Hand. Es dauert keine zwei Minuten, dann hat er erklärt bekommen, wie das Ding funk­tio­niert. Den anderen die neben ihm stehen, geht es genauso. Ein paar Klein­busse kommen ange­fahren, aus ihnen zerrt man eine Handvoll Anzug­träger heraus, deren Hände mit Kabel­bin­dern gefesselt sind, und die nicht wissen, wie ihnen geschieht, dazu zwei, drei ältere Frauen, die zu viel Schmuck tragen und Haute-Couture. Fast wortlos werden diese offen­sicht­lich reichen Menschen aufge­reiht, dann kommt das Kommando, und auch Petrov drückt ab...

Ein Schnitt, Petrov steht weiter in der Straßen­bahn, und erst jetzt fällt uns wieder ein, dass kurz zuvor ein Mitfahrer vor sich hin gemurmelt hatte: »Man sollte alle in der Regierung erschießen!« Es war eine Fantasie, die sich hier kurz mate­ria­li­siert hatte – doch dieser Anfang erinnert von fern an nichts Gerin­geres, als an den Beginn von Chris­to­pher Nolans Tenet, wenn auch an dessen post­so­wje­ti­sche Version. Tenet beginnt auch mit einem harten Terrorakt durch eine Handvoll ähnlich maskierter Angreifer, der vor allem den Zuschauern ihre absolute Hilflosigkeit vor Augen führen sollte. Alles ist möglich!

Auch im neuen Film des groß­ar­tigen russi­schen Regis­seurs Kirill Sere­bren­nikov (mit Leto hatte er vor drei Jahren in Cannes die Herzen des Publikums erobert) dient dieser harte Anfang dazu, den Ton für alles weitere zu setzen.

Petrov’s Flu ist zumindest formal die Verfil­mung des gleich­na­migen Roman des erst 42-Jährigen russi­schen Autors Alexei Salnikov, das im Original etwa »Die Petrovs in und um die Grippe« bedeutet. Ein paar Episoden, lose zusam­men­ge­halten durch die Titel­figur schwanken zwischen Surea­lismus, Absur­dität und Nostalgie. Und ein histo­ri­scher Mate­ria­lismus, der die Objekte liebt, feti­schi­siert und ihnen die Menschen Untertan macht.

Sere­bren­ni­kovs Film ist ein faszi­nie­render, erschüt­ternder Fieber­traum, fesselnd und irri­tie­rend. Die Kamera ist wieder virtuos und perfekt, die Musik so schön wie die altmo­di­sche Farb­ge­bung und das Produk­tion-Design, von der chaotisch aufge­platzten Geschichte versteht man nur Fragmente.

Aber viel­leicht gibt es da gar nichts zu erklären. Viel­leicht muss man das fühlen, muss Spaß haben am Dreck und an der Mensch­lich­keit im Destruk­tiven, an der schwarzen Welt­weis­heit, die hier zutage tritt.

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Trotzdem: Es fehlt etwas. Der Film wächst nach der Sichtung noch tagelang in mir. Aber ich finde, es kickt nicht.

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Im Abspann wird auch Roman Abra­mo­vitch gedankt. Spricht das jetzt für Abra­mo­vitch oder gegen Sere­bren­nikov?

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Wie ich nun erfahren habe, war Hans Schif­ferle nie in Cannes, jeden­falls nicht beim Film­fes­tival in offi­zi­eller Funktion. Auch bei der SZ und bei epd-film waren solche Termine schon immer Chefsache.
Obwohl es sich viel­leicht schon allein deswegen für Hans gelohnt hätte, mal einfach trotzdem auf eigene Faust dahin zu fahren, damit eines seiner Lieb­lings­mo­tor­räder mal an die fran­zö­si­sche Riviera kommt, gekommen wäre. Schade für die fran­zö­si­sche Riviera!

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Im Film der Ungarin Ildiko Enyedi (The Story of My Wife nach einem Roman des Ungarn Milan Füst, der bestimmt sehr bedeutend war) gab es einen wirklich schönen Moment. Ungefähr bei Minute 75, also noch vor Ende der ersten Halbzeit dieses Drei-Stunden-Mammut­werks, da standen – und ich kann sagen, dass ich diese Bewegung ausgelöst habe, in dem Moment als ich mit der türki­schen Freundin Nil aufstand, um das Kino zu verlassen – direkt hinter uns noch weitere drei Kollegen aus Öster­reich und vier aus Deutsch­land auf und gingen direkt hinter uns auch aus dem Kino. Es war sozusagen der Exodus der deutsch­spra­chigen Film­kritik.
Ich erlaube mir trotzdem ein klares Urteil über diesen Film, denn die Geschichte habe ich mir noch am gleichen Abend von anderen, die im Kino ausge­harrt hatten, fertig erzählen lassen und die auch bestä­tigen, dass sich an der Ästhetik nicht das Geringste ändert, sondern dass – ich zitiere – alles nur noch schlimmer wird.
Dieser Film ist in seiner ersten Hälfte schon ein richtiges Desaster, eine Belei­di­gung der Sinne und eine Belei­di­gung allen Kino­ver­s­tänd­nisses. Er hat im Wett­be­werb nichts zu suchen. Denn dieser Film hat nicht etwa eine schlechte Haltung zum Kino, sondern er hat überhaupt keine. Dieser Film hat nicht die geringste Hand­schrift, nicht die geringste Position, er ist einfach häss­li­ches, banales Illus­tra­ti­ons­kino, das niemals irgend so etwas wie Poesie und Aura entfaltet, wo niemals ein Funke überhaupt über­springen kann, weil ja gar kein Funke da ist.
Es gibt eine recht passabel ja sogar gut insze­nierte Szene, als nach etwa einer Drei­vier­tel­stunde das Paar mitein­ander tanzt. Aber ansonsten? Fehl­an­zeige! Asep­ti­sche Künst­lich­keit.
Vor allem sprich dieser Film allem Hohn, was manche sich als »weibliche Ästhetik« ausmalen, als »female gaze«. Dieser Film einer Frau aus Ungarn beweist, dass es nicht weibliche und männliche Filme gibt, sondern gute und schlechte. Und hier hat eine Frau einfach einen ganz schlechten Film gemacht. Sie hat auch einen Film gemacht, der komplett aus der Perspek­tive der männ­li­chen Haupt­figur erzählt ist, einen Film, in dem diese männliche Haupt­figur von allen möglichen Frauen, sehr oft ziemlich jungen 17, 18-jährigen 17-Jährigen aus voll­kommen uner­find­li­chen Gründen ange­schmachtet wird.
In der Hinsicht ist jeder David-Hamilton-Film der 70er Jahre besser als dieser. Hier sind es nämlich, man muss das so formu­lieren, ziemlich kitschige und vor allem klein­bür­ger­liche Klein-Mädchen-Träume, die entfaltet werden. Und alleine schon in dem extrem hölzernen Haupt­dar­steller Gijs Naber kulmi­nieren die Probleme. Denn kein Funke springt über, keinerlei Chemie herrscht zwischen ihm und seiner angeb­li­chen Frau und großen Liebe, die Lea Seydoux ganz passabel spielt. Über drei Stunden schleppt sich dieses Ehedrama dann hin mit dem vorher­seh­baren Ende, dass das Paar, das am Anfang des Films aus uner­find­li­chen Gründen heiratet, am Ende getrennt sein wird.
Das hätte man auch nach einer halben Stunde etwa schon gewusst. Der Film walzt diese schlichte Wahrheit, die auch nicht besonders inter­es­sant ist, wenn uns die Figuren sowieso nicht inter­es­sieren, auf weiteren zwei­ein­halb Stunden aus.

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Ausge­rechnet vor der Premiere des neuen Films des Koreaners Hong Sang-soo (außer Konkurenz) gab es heute eine Bomben­dro­hung.
Die schmucken jungen Soldaten, die das Kino Debussy absperrten und versuchten, so ernst zu gucken wie römische Präto­rianer in Quo Vadis, erklärten, es gäbe »eine mili­täri­sche Operation«, aber es würde schnell gehen.
So stand ich vor dem Absperr­gitter und guckte mir die Tattoos und die Gesichter der Soldaten, die im Gegensatz zur Polizei offenbar keine Masken tragen müssen, genauer an.

Der Film selbst war dann keines­wegs Bombe und auch die Soldaten, die einem Claire Denis-Film entsprungen sein könnten, fehlten mir dann sehr.