74. Filmfestspiele Cannes 2021
Visconti Uno, Antonioni due! |
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Ildiko Enyedi: Die Geschichte meiner Frau – hässliches, banales Illustrationskino | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Rossellini verfolgt mit seiner Kamera Ingrid Bergman wie ein Tiger im Dschungel seine Beute: ohne zu zögern, ohne Mitleid.« – Rudolf Thome
»Wenn man das Kino verlässt, dann grübelt man nach über eine seltsame Liebesgeschichte, über eine Idealvorstellung auch von Liebe und Kino, die Grenzen überschreiten will. Aber, was viel wichtiger ist: man verspürt dabei eine leichte, ziemlich schöne Melancholie.« – Hans Schifferle
Bisher habe ich immer im „Le Crillon“ geschrieben. Dieses alte typisch-fanzösische Bistro, dessen Vorläufer es angeblich schon zu Napoleons Zeiten gab, gehört zu „meinem Cannes“ bisher untrennbar dazu. Das wissen auch die meisten, die mich kennen, und weil viele das „Crillon“ mögen, ist das auch ein guter Ort, um sich ohne Verabredung einfach über den Weg zu laufen.
In diesem Jahr aber hat es geschlossen. Der Blick durch die Scheibe wirkt, als würde
umgebaut, auf zwei Schildern am Eingang steht Widersprüchliches: Auf dem einen heißt es, man könne nicht wieder öffnen, auf dem anderen steht, man sei zurück. Weil über dem Lokal weiterhin das alte Namensschild steht, hoffe ich mal auf Letzteres. In zehn Monaten, im nächsten Mai wissen wir mehr.
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Wir haben aber sowieso wenig (Frei-)Zeit in diesem Jahr. Das hat zum einen mit dem Phänomen zu tun, dass ich bisher schon ein paar Mal beiläufig erwähnt habe: die Filme in Cannes sind diesmal alle sehr lang. Man könnte auch sagen, sie sind zu lang. Manchmal kommen sie einem auch nur so vor. Zusätzlich verschärft wird dieses Problem dadurch, dass in diesem Jahr der Wettbewerb mit gleich 24 Filmen im Wettbewerb ziemlich aufgeblasen ist. 2019 waren es 21 Filme. Und mit denen „Cannes Premieres“ kam noch eine neue Sektion dazu; man könnte auch sagen die Gruppe der Filme „außer Konkurrenz“ ist noch ausgeweitet worden. Kurz und gut: es gibt sowieso schon mehr Filme, die wir Berichterstatter sehen „müssen“ oder sollten, und dann sind viele davon auch noch besonders lang. 9 Filme sind klar über zwei Stunden, zwei davon fast 3 Stunden lang, andere nur knapp unter der 120 Minuten-Marke, und auch in der Reihe »Un Certain Regard« waren mehrere Filme sehr lang, und nicht immer war das nötig. Schon der japanische Eröffnungsfilm Onoda dauerte 3 Stunden.
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Zeit kostet natürlich auch das Corona-Management: wie schon berichtet muss man sich regelmäßig einen aktuellen PCR-Test besorgen, also erstmal buchen, dann zum Testzentrum gehen und wieder zurück und jedes Mal, wenn man das Festival Palais betritt, steht man dort erstmal eine Weile in der Schlange, um den Test vorzuzeigen.
Bei alldem bleibt dann tatsächlich wenig Raum für private Verabredungen, dafür, mit den Freunden, die man nicht so oft sieht, auch noch mal wenigstens einen Kaffee trinken zu gehen, geschweige denn zusammen zu essen und zu trinken. Am Dienstag war es endlich so weit: Zuerst ging ich mit dem Italiener Ugo Busaporco weg, dann kamen auch noch Nil und Azize dazu. Nil Kural ist die letzte übriggebliebene türkische Filmredakteurin und Azize Tan die ehemalige Leiterin des Istanbul-Filmfestivals, die nach ihrem Rücktritt vor ein paar Jahren andere Festivals in der Türkei leitet.
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Mit Ugo gingen wir erstmal kreuz und quer den Wettbewerb durch. Bei ihm hört sich das so an: »Farhadi is neorealismo. But I want to see no neorealismo no more. I am angry about Farhadi: Old master, ma no confrontation, no Bergman. Is nothing.«
Titane sei kein richtiger Horrorfilm, aber immerhin explizit weibliches Filmemachen. »Good for competition. No Sean Penn. No nice wellness art. No Netflix. E Cinema!« Recht hat er.
Ich mag es, wie Ugo redet, in seinem Mix aus Italienisch und Englisch, das er weniger gut kann als Französisch und der leidenschaftlichen Energie, die er auch nach vielen Jahren nicht jedem Film entgegenbringt. Er ist auch ein Vielarbeiter, dem man immer wieder im Presseschreibraum über den Weg läuft.
Wes Andersons The French Dispatch ist auch für Ugo ein guter Film. »Tutto va bene: cast magnifico, tutto bene. Slapstick, gioci – but no passagi della perfectione.« Zur Perfektion habe er zu viel Langeweile (noia) und Melancholie.
Das stimmt natürlich: Anderson weiß das, er reflektiert Langeweile und eine offene Nostalgie.
Einig waren wir uns dann zwar schnell, dass man heute nostalgisch sein muss. Und dass Anderson natürlich auf seine Art auch ein sehr konservativer Filmemacher ist.
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Dann sagte ich: »But Visconti as well was conservative.« – Ugos Antwort: »Yes. But he is no Visconti. Because Visconti is cinema!«
Und so ging es weiter, jetzt ganz fern vom aktuellen Cannes-Programm: »Visconti is the best. Even better than Antonioni.« – »For me too.«
Wir stellten eine Rangliste des klassischen italienischen Kinos auf: »Visconti uno; Antonioni due; Rosselini tre.«
Fellini? »No! Fellini no!« meinte Ugo. »The first Fellini is magnifico. Perfetto, grandioso, bellissima, duri, belli, politi, no intellectuale, ma narrativa. Tu senti la musica que fa«. Aber danach sei nichts mehr gekommen.
Alles Lüge und Theater. Auch La Dolce Vita will Ugo nicht gelten lassen.
»Quarto e de Sica. Visconto e cinema. Antonioni e arte. Rosselini is politics. Perque de Sica e grande? La nonchalance de cinema. E vero?«
Wenn man auf dieses Kino schaut, kann man jedenfalls alles, was in diesem Jahr läuft, im Vergleich vergessen.
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Es ist ein ganz schön harter Tag für Petrov. Da steht der Mann in der Straßenbahn, findet keinen Sitzplatz, hustet vor sich hin, und hat Fieber. Plötzlich hält die Straßenbahn. Draußen steht einer, dessen Gesicht mit einer furchterregenden knallroten Maske bedeckt ist, eine Art Joker des 23. Jahrhunderts. Der hat die Bahn gestoppt und holt ihn raus. Dort in der Kälte der Metropole drückt er Petrov eine Kalaschnikow in die Hand. Es dauert keine zwei Minuten, dann hat er erklärt bekommen, wie das Ding funktioniert. Den anderen die neben ihm stehen, geht es genauso. Ein paar Kleinbusse kommen angefahren, aus ihnen zerrt man eine Handvoll Anzugträger heraus, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind, und die nicht wissen, wie ihnen geschieht, dazu zwei, drei ältere Frauen, die zu viel Schmuck tragen und Haute-Couture. Fast wortlos werden diese offensichtlich reichen Menschen aufgereiht, dann kommt das Kommando, und auch Petrov drückt ab...
Ein Schnitt, Petrov steht weiter in der Straßenbahn, und erst jetzt fällt uns wieder ein, dass kurz zuvor ein Mitfahrer vor sich hin gemurmelt hatte: »Man sollte alle in der Regierung erschießen!« Es war eine Fantasie, die sich hier kurz materialisiert hatte – doch dieser Anfang erinnert von fern an nichts Geringeres, als an den Beginn von Christopher Nolans Tenet, wenn auch an dessen postsowjetische Version. Tenet beginnt auch mit einem harten Terrorakt durch eine Handvoll ähnlich maskierter Angreifer, der vor allem den Zuschauern ihre absolute Hilflosigkeit vor Augen führen sollte. Alles ist möglich!
Auch im neuen Film des großartigen russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov (mit Leto hatte er vor drei Jahren in Cannes die Herzen des Publikums erobert) dient dieser harte Anfang dazu, den Ton für alles weitere zu setzen.
Petrov’s Flu ist zumindest formal die Verfilmung des gleichnamigen Roman des erst 42-Jährigen russischen Autors Alexei Salnikov, das im Original etwa »Die Petrovs in und um die Grippe« bedeutet. Ein paar Episoden, lose zusammengehalten durch die Titelfigur schwanken zwischen Surealismus, Absurdität und Nostalgie. Und ein historischer Materialismus, der die Objekte liebt, fetischisiert und ihnen die Menschen Untertan macht.
Serebrennikovs Film ist ein faszinierender, erschütternder Fiebertraum, fesselnd und irritierend. Die Kamera ist wieder virtuos und perfekt, die Musik so schön wie die altmodische Farbgebung und das Produktion-Design, von der chaotisch aufgeplatzten Geschichte versteht man nur Fragmente.
Aber vielleicht gibt es da gar nichts zu erklären. Vielleicht muss man das fühlen, muss Spaß haben am Dreck und an der Menschlichkeit im Destruktiven, an der schwarzen Weltweisheit, die hier zutage tritt.
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Trotzdem: Es fehlt etwas. Der Film wächst nach der Sichtung noch tagelang in mir. Aber ich finde, es kickt nicht.
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Im Abspann wird auch Roman Abramovitch gedankt. Spricht das jetzt für Abramovitch oder gegen Serebrennikov?
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Wie ich nun erfahren habe, war Hans Schifferle nie in Cannes, jedenfalls nicht beim Filmfestival in offizieller Funktion. Auch bei der SZ und bei epd-film waren solche Termine schon immer Chefsache.
Obwohl es sich vielleicht schon allein deswegen für Hans gelohnt hätte, mal einfach trotzdem auf eigene Faust dahin zu fahren, damit eines seiner Lieblingsmotorräder mal an die französische Riviera kommt, gekommen wäre. Schade für die französische Riviera!
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Im Film der Ungarin Ildiko Enyedi (The Story of My Wife nach einem Roman des Ungarn Milan Füst, der bestimmt sehr bedeutend war) gab es einen wirklich schönen Moment. Ungefähr bei Minute 75, also noch vor Ende der ersten Halbzeit dieses Drei-Stunden-Mammutwerks, da standen – und ich kann sagen, dass ich diese Bewegung ausgelöst habe, in dem Moment als ich mit der türkischen Freundin Nil
aufstand, um das Kino zu verlassen – direkt hinter uns noch weitere drei Kollegen aus Österreich und vier aus Deutschland auf und gingen direkt hinter uns auch aus dem Kino. Es war sozusagen der Exodus der deutschsprachigen Filmkritik.
Ich erlaube mir trotzdem ein klares Urteil über diesen Film, denn die Geschichte habe ich mir noch am gleichen Abend von anderen, die im Kino ausgeharrt hatten, fertig erzählen lassen und die auch bestätigen, dass sich an der Ästhetik nicht das
Geringste ändert, sondern dass – ich zitiere – alles nur noch schlimmer wird.
Dieser Film ist in seiner ersten Hälfte schon ein richtiges Desaster, eine Beleidigung der Sinne und eine Beleidigung allen Kinoverständnisses. Er hat im Wettbewerb nichts zu suchen. Denn dieser Film hat nicht etwa eine schlechte Haltung zum Kino, sondern er hat überhaupt keine. Dieser Film hat nicht die geringste Handschrift, nicht die geringste Position, er ist einfach hässliches, banales
Illustrationskino, das niemals irgend so etwas wie Poesie und Aura entfaltet, wo niemals ein Funke überhaupt überspringen kann, weil ja gar kein Funke da ist.
Es gibt eine recht passabel ja sogar gut inszenierte Szene, als nach etwa einer Dreiviertelstunde das Paar miteinander tanzt. Aber ansonsten? Fehlanzeige! Aseptische Künstlichkeit.
Vor allem sprich dieser Film allem Hohn, was manche sich als »weibliche Ästhetik« ausmalen, als »female gaze«. Dieser Film einer Frau aus
Ungarn beweist, dass es nicht weibliche und männliche Filme gibt, sondern gute und schlechte. Und hier hat eine Frau einfach einen ganz schlechten Film gemacht. Sie hat auch einen Film gemacht, der komplett aus der Perspektive der männlichen Hauptfigur erzählt ist, einen Film, in dem diese männliche Hauptfigur von allen möglichen Frauen, sehr oft ziemlich jungen 17, 18-jährigen 17-Jährigen aus vollkommen unerfindlichen Gründen angeschmachtet wird.
In der Hinsicht ist jeder
David-Hamilton-Film der 70er Jahre besser als dieser. Hier sind es nämlich, man muss das so formulieren, ziemlich kitschige und vor allem kleinbürgerliche Klein-Mädchen-Träume, die entfaltet werden. Und alleine schon in dem extrem hölzernen Hauptdarsteller Gijs Naber kulminieren die Probleme. Denn kein Funke springt über, keinerlei Chemie herrscht zwischen ihm und seiner angeblichen Frau und großen Liebe, die Lea Seydoux ganz passabel spielt. Über drei Stunden schleppt sich dieses
Ehedrama dann hin mit dem vorhersehbaren Ende, dass das Paar, das am Anfang des Films aus unerfindlichen Gründen heiratet, am Ende getrennt sein wird.
Das hätte man auch nach einer halben Stunde etwa schon gewusst. Der Film walzt diese schlichte Wahrheit, die auch nicht besonders interessant ist, wenn uns die Figuren sowieso nicht interessieren, auf weiteren zweieinhalb Stunden aus.
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Ausgerechnet vor der Premiere des neuen Films des Koreaners Hong Sang-soo (außer Konkurenz) gab es heute eine Bombendrohung.
Die schmucken jungen Soldaten, die das Kino Debussy absperrten und versuchten, so ernst zu gucken wie römische Prätorianer in Quo Vadis, erklärten, es gäbe »eine militärische Operation«, aber es würde schnell gehen.
So stand ich vor dem Absperrgitter und guckte mir
die Tattoos und die Gesichter der Soldaten, die im Gegensatz zur Polizei offenbar keine Masken tragen müssen, genauer an.
Der Film selbst war dann keineswegs Bombe und auch die Soldaten, die einem Claire Denis-Film entsprungen sein könnten, fehlten mir dann sehr.