74. Filmfestspiele Cannes 2021
Der Alte muss sterben |
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Sophie Marceau in Francois Ozons Tout s'est bien passé als ausgezeichnete Charakterdarstellerin | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Schönheit ist des Schreckens Anfang. In unzähligen Schockern seit 'Freaks' und grausamen Komödien wie 'Hairspray' entpuppen sich gerade die gut aussehenden, glatten Charaktere als die wahren Monster. ... Der beauty contest wird gar Klassenkampf, wenn das White-Trash-Girl gegen den Snob aus der US-Bourgeoisie antritt.« – Hans Schifferle, 1999
Spike Lee ist eine sehr gute Wahl für einen Jury Präsidenten. Ein Großteil der Presse interessiert sich dafür allerdings nicht weiter, sondern nur dafür, statt über Filme und Kunst, über Politik und irgendwelche vermeintlich »kritischen« Zitate reden und schreiben zu können.
Am Dienstag machte Spike Lee eine Bemerkung auf der Jury-Pressekonferenz, keine dumme, sondern eine gefällige, der sowieso 90 Prozent der Leute hier zustimmen und auch 90 Prozent der Journalisten zu
Hause, weil er dort – Potzblitz! – Putin kritisiert, Bolsonaro und Trump. Ein mutiger Filmemacher! Und daraufhin kommt dann die Frage der Moderatorin in Deutschland: Ist Cannes also dieses Jahr ein politisches Festival? Man muss da die Fassung wahren und wohlwollend von der Frage ablenkend auf die Filme kommen, anstatt das Naheliegende zu entgegnen: Was wäre daran jetzt am Festival umgekehrt unpolitischer, wenn der Jurypräsident das nicht gesagt hätte? Glauben Sie,
dass sich Spike Lee seine Reden vom Festival scripten lässt? Und was ist daran mutig, Putin zu kritisieren, und Trump? Mutig wäre es noch eher, Macron zu kritisieren, oder das Festival. Lars von Trier hat so etwas vor zehn Jahren noch getan, heute wohl auch nicht mehr.
Genauso hätte man mal nachfragen können, ob die Tatsache, dass Spike Lee zur Eröffnung in einem pinken Anzug kommt, nun ein Indiz dafür ist, dass dies ein besonderes politisches Festival ist, oder ob uns bei Lee mit der
Wahl der Anzugfarbe gerade sagen möchte, dass ihm derartige Debatten an bestimmten Körperteilen vorbei gehen.
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Durch das Buchungssystem, bei dem man sich neue Karten immer ab 7 Uhr morgens reservieren kann und das am besten auch schnell tut, muss man nun so früh wie nie aufstehen. Das Privileg des besseren Akkreditierungs-Badges liegt nach Ansicht mancher im Zeitpunkt, an dem Tickets zur Verfügung stehen, ansonsten alleine in dem Sitzbereich, der einem vorgeschlagen wird. Allerdings ist dies nicht unbedingt jener, in dem man selbst auch gerne sitzen würde. So hatte ich einmal das Vergnügen,
als Gast eines weißen Badges im Kino zu sitzen. Dies war in der drittletzten Reihe des Debussy ungefähr 20 bis 30 Reihen von der Leinwand entfernt. Es war für mich besseres Fernsehen und wäre keinesfalls der von mir bevorzugte Platz gewesen.
In der Regel sitze ich gerne in einem leicht seitlichen vorderen Bereich des Kinos. Auch das ist jetzt natürlich weiterhin möglich. Immerhin.
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Mit 12 und vielleicht auch noch mit 15 war ich in Sophie Marceau verliebt. La Boum – Die Fete natürlich, dann beim Sprachaufenthalt in Tours hatte ich einen unvergesslichen Kinoabend mit Maurice Pialats klassischen Kriminalfilm Police und fand die Sexszenen mit Gerard Depardieu ziemlich hässlich. Seitdem habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich Marceau nur mag, weil ich sie attraktiv und begehrenswert finde, oder auch, weil sie eine gute Schauspielerin ist? Sie macht immer wieder gute Filme, aber nicht besonders viele, und wirkt wie unter Wert betrachtet, so als könnte das französische Kino bis heute nicht richtig frei mit ihr umgehen. Undenkbar, dass Desplechin, Bonello, Denis oder Assayas mit ihr drehen. Warum eigentlich?
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Tout s'est bien passé (Everything Went Fine) von Francois Ozon stellt diese Fragen noch einmal anders, denn hier spielt Sophie Marceau die Hauptrolle und zeigt, dass sie eine ausgezeichnete Charakterdarstellerin ist.
Am Beginn kommt es zu einem Schlaganfall, ein alter Mann, Vater André (André Dussollier), kommt ins Hospital, er hat zwei Töchter, die sich um ihn kümmern. Sophie Marceau spielt die jüngere, Emmanuelle, ihre Schwester Pascale ist Géraldine Pailhas. André ist teilweise gelähmt, nicht in der Lage, selbstständig zu funktionieren, wird künstlich ernährt, er wird bevormundet, er wird therapiert, er will das alles nicht. Nicht mehr. Will ich das sehen? Jetzt? – das war eine frühe
Frage im Kino.
Der Film aber zieht einen hinein. Ein bisschen ist das eine Komödie, aber es ist natürlich auch alles ganz furchtbar. Man möchte nicht in dieser Lage sein, man möchte das nicht erleben. Ozon nähert sich dem Schrecken, der Krankheit und dem Sterben sarkastisch. Inkorrekt für manche.
Ob der Film damit schon unkonventionell ist, ist eine andere Frage. Es wird Leute geben, die Ozon vorwerfen, einen konventionellen Film gemacht zu haben – und im Prinzip macht dieser Regisseur sehr oft konventionelle Filme, aber er macht sie auf einem hohen Niveau und auf eine Art und Weise, der immer etwas nicht-konventionelles eigen ist.
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Ist es Zufall, oder ein etwas guter schlechter Witz, wenn Ozon eine Szene zeigt, in der ein Tourist die Hauptfigur auf einer Metro-Karte fragt, wo sind wir? Und ihre Antwort lautet: »Stalingrad« – wie die Metrostation in Paris. Aber nicht nur.
Dann schneidet Ozon in einen Rückblick: »Kannst du keine Karten lesen?« herrscht der Vater die Tochter an, ca. 40 Jahre ist das her, Anfang der 80er. Der Vater war nicht immer nett, er hat die Tochter schikaniert. Der Vater hat seiner
Tochter früher einiges zugemutet. Z.B. auch seine Depressionen, mit denen das junge Mädchen nicht umgehen konnte: »If I had a gun I would have blown my brains out.«
Dann kommt, als es dem Vater nicht besser geht, die entscheidende Bitte an die Tochter: »Ich will, dass du mir hilfst, es zu beenden. Verstehst du mich?«
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So wird aus dem Film das Sterbehilfe-Familien-Drama. Mit der Frage, ob Emmanuèle seinem Wunsch nachkommen soll – es ist bezeichnend, dass er sie und nicht Pascale darum gebeten hat –, aber er bleibt entschlossen und schwankt nur ein einziges Mal, damit er seinen Enkel bei einem Klarinettenkonzert sehen kann.
So wie Ozon die Vater-Figur darstellt, ist es über weite Strecken des Films so, dass nicht klar ist, wie sehr er kämpft und warum er glauben könnte, dass es Zeit
ist zu gehen. Diese scheinbar eintönige Familien-Dynamik weicht bald auf, als klar wird, dass André die Mutter (Charlotte Rampling) geheiratet hat, obwohl er gay ist.
Tout s'est bien passé nimmt an Fahrt auf, als André der in Frankreich nicht durch Sterbehilfe sterben darf – fürs Gesetz leidet er nicht genug – in die Schweiz reist, wo eine Frau (Hanna Schygulla) ihm hilft. Bestimmte
Elemente wie die Geschichte der Familie in der Shoah wirken etwas aufgesetzt, doch die Informationen über die realen Figuren und Ozons Freundschaft mit ihnen im Abspann vertieft den Film zweifellos im Nachhinein.
Was auch immer gewisse Schwächen sein mögen, Everything Went Fine findet einen bewegenden Schlussakt, der in dem einfachen, aber verheerenden Moment aufs Schwarz schneidet.
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Klarerweise haben wir es hier mit Bildungsbürgern zu tun, mit jenem typisch französischen Milieu, bzw. dem Milieu, das für französische Filme typisch ist: Gebildete Oberschicht, Großbürgertum, dass in mindestens schön eingerichteten Wohnungen wohnt, das Bücher liest und Literatur zu schätzen war es, ebenso wie klassische Musik, das auf Ausstellungen geht und Kunst sammelt, Geld ist kein Problem.
Aber die Frage des Vaters: »Ich will, dass du mir hilfst, es zu beenden. Verstehst du mich?« ist universal und wird uns in der einen oder anderen Weise allen bevorstehen. Diese Entscheidungen, diese Konflikte oder auch die Lage des Vaters.
Was heißt leben? Der Film beschäftigt sich auch mit unserer Verweigerung, uns diesen Problemen zu stellen.
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Vor allem Töchter stehen bislang im Zentrum vieler Filme auch außerhalb des Wettbewerbs bei den Filmfestspielen von Cannes: Töchter und Mütter, Töchter und Väter, manchmal auch Töchter untereinander – und dazu tritt immer wieder der Tod.
Morbidität in strahlendem Sonnenschein, so könnte man auch zusammenfassen, was an den ersten Festival-Tagen geboten wurde: Außer dem Drama über Sterbehilfe, ein Krebstod, die grausame Entführung eines jungen Mädchens in Mexiko, und die
Mutter, die gegen alle Verhältnisse Unwahrscheinlichkeiten um das Leben ihrer Tochter kämpft (»La Civil«).
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Die Kracher, die von Kindern an die Häuserwand geworfen werden, haben eine ungewöhnliche Explosionskraft. Die Staubwolke, die ihre Explosion beim Aufplatzen an der Betonwand erzeugt, wirkt so, als könnten sie unter anderen Umständen eine Kinderhand abreißen. Auch ansonsten sind es destruktive Vergnügungen, mit denen sich die Jugendlichen in dieser Gegend die Freizeit vertreiben. Im Kreis fahren, mit Autos immer wilder und immer enger, oder mit Motorrädern zum Beispiel.
Razzhimaya Kulaki ist der Original-Titel des zweiten Spielfilms der Russin Kira Kovalenko, dem man sofort ansieht, dass Kovalenko mit Kantemir Balakov (Bohnenstange) zusammenarbeitet, und eine Schülerin von Alexander Sokurov ist. Wörtlich bedeutet der Titel in etwa »Das Lösen der Fäuste«, und ob sie sich zum Kampf lösen, oder eine Verkrampfung nachlässt, das ist hier lange die Frage. Der Film spielt im Kaukasus, in Nordossetien. Ein sehr guter Film, wenn auch das, was man »klein«, und »sozial-realistisch« nennen könnte. Auch hier wieder steht eine Tochter im Zentrum: Ada.
Am Anfang beginnt es recht unschuldig, es scheint zum konventionellen Porträt einer jungen Frau zu werden, die einen heimlichen Liebhaber hat und eine Familie, die sie kontrolliert. Doch nichts ist hier niedlich und romantisch und bald wird klar, dass die Repression noch ganz andere Züge hat und eine außergewöhnliche ist.
Für Ada ist ihr zu Hause wie ein Gefängnis. Sie lebt hier mit ihrem jüngeren Bruder Dakko, der ein bisschen zurückgeblieben wirkt, und mit ihrem Vater. Der ist krank, aber er ist ein herrischer, autoritärer Mann, der keinen Widerspruch duldet. Die Mutter ist tot, und in mancher Hinsicht muss Ada auch dem Vater die Mutter ersetzen. Wie weit das geht ist nicht klar, aber die Zärtlichkeiten des Vaters gegenüber seiner Tochter, wenn sie ihm zum Beispiel die Fußnägel schneidet, haben etwas doppelt Unangemessenes: Sie sind ein bisschen zu liebevoll, und zugleich sind sie böse, dominant, sind eigentlich Versuche, Ada festzuhalten und nie loszulassen. Sie leidet auch unter einer unklaren Verletzung in früher Kindheit. Der Vater will sie nicht operieren lassen, er versteckt Adas Pass und den einzigen Schlüssel zur Wohnung. Irgendwann kommt der dritte, ältere Bruder Akim aus Rostow zurück, und nimmt den Kampf mit dem Tyrann auf.
Dass er Kampferfahrung hat, zeigen schon die Blumenkohlohren des erfahrenen Boxers. Es gibt ein gemeinsames Abendessen, danach spitzen sich die Dinge zu. Eine einzige Einstellung durch ein Autofenster zeigt zunächst, wie die Tochter wegläuft, wie der Vater sie einholt, wie sie sich gegen ihn wehrt, die Stärkere bleibt, und er erschöpft außer Atem halb auf den Boden niedersinkt; wie sie dann in den Betonschacht eines Steinbruchs hinunter läuft, der Vater langsam hinterher, wie
sie den älteren Bruder ruft, der auch hinterher kommt, und dann kommen irgendwann alle drei zusammen wieder hoch – der Bruder hält den Vater umfasst und stützt ihn beim Laufen.
Es ist klar: Der Alte muss sterben. Aber wie?
Ein Film der klaustrophobischen Verhältnisse und der zurückgebliebenen, zum Teil primitiven, fast immer destruktiven Charaktere. Es ist die Natur, die den Ton des Films vorgibt: Dies spielt alles in den engen schmalen Tälern des Kaukasus, die ständig im Schatten liegen,. weil die Sonne hier nur wenige Stunden hinkommt, zwischen hohen steilen Bergen. Die höchsten von ihnen sieht man im Hintergrund; sie sind felsig und schneebedeckt. Ihr Weiß mischt sich mit dem grauen Weiß des Himmels.
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Im französischen Supermarkt gibt es ein – sehr gutes – Milchgetränk, das den Namen hat: »La vache a boire«, »die Kuh zum Trinken«. Der Name liest sich anders, nachdem man Andrea Arnolds neuen Film gesehen hat.
Arnold erzählt vom Leben. Allerdings von dem einer Kuh. Und wenn man so will vom »Anthropozän«, dem Zeitalter der menschengemachten Natur. Von der Wiege bis zur Bahre begleiten wir die Kuh Luma, von ihrer Geburt, die – warum eigentlich? – bei allen Tieren hier mit Hilfe von Menschen stattfindet, die das Kalb aus dem Leib der Mutter herausziehen, bis zum Tod, bei dem der altersschwachen Kuh ein Gnadenschuss gegeben wird.
Dieser Film ist unerwartet von dieser Regisseurin, wenn aber erst drinsitzt scheint er in ihm vollkommen logisch. Zusammengehalten wird Arnolds erster Dokumentarfilm auf Kinolänge mit ihrem übrigen Werk (Red Roadd, Fish Tank, American Honey) durch ein paar Leitmotive: Arbeitswelten, Ausbeutung, die Welt von heute und Weiblichkeit.
Die Kamera, die über vier Jahre immer wieder an der Arbeit war, zeigt schön gestaltete Bilder, die genau und dicht an Luma dran sind. Es ist ein langweiliges Leben, ein immergleiches Leben: Fressen und gemolken werden. Nichts wird aufgeklärt, insbesondere nicht die Produktionsverhältnisse der Milch und die verschiedenen technischen Bedingungen. Warum müssen die Kühe zum gemolken-werden immer auf kleinen Balken stehen? Vermutlich weil sie dann ruhig bleiben und sich nicht so
viel bewegen. Läuft die ziemlich schlechte Popmusik bei den Melk-Vorgängen deswegen, weil man die Kühe damit in Stimmung bringt? Oder beruhigt? Wieviel Milch produziert eine Kuh eigentlich am Tag und was genau sind das eigentlich für Milchbauern? So groß sie im ersten Moment wirken, sind sie wahrscheinlich im Vergleich zu anderen eher kleine Fische.
Auch weil alles ausschließlich aus Kuh-Perspektive gezeigt wird, bzw. aus der von uns vermuteten, imaginierten Kuhperspektive,
erzählt Arnold in diesem genauen, schönen ungewöhnlichen Film von uns.
Es geht Andrea Arnold übrigens in diesem Film nicht um irgendeine Form von Aktivismus für Tierrechte oder gegen Fleisch essen oder ums Klima. Im Gegenteil äußerte sie sich bei der Pressekonferenz eher besorgt um die Lage der Kuh-Bauern wie jene, die sie in diesem Film nebenbei mit porträtiert hat.