74. Filmfestspiele Cannes 2021
Die Tage der Chanel-Tüten |
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Szene aus Marco Bellocchios Marx can wait | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Sean Penn ... ist immer in Gefahr, vom Poetischen ins Lächerliche zu rutschen.«
- Hans Schifferle, SZ 19.03.2003
»Sind hier irgendwelche Engländer im Raum?« So kann man auch einen Film ansagen. Gemacht hat es Thierry Fremaux, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Cannes. Um dann, gleich nachdem sich ein paar Hände zögernd nach oben bewegt hatten, hinzuzufügen, es tue ihm jetzt zwar sehr leid, aber er müsse doch einfach mal sagen, wie sehr er sich im letzten Sonntag gefreut habe, als die Italiener Fußball-Europameister geworden sind und nicht die Engländer. Riesenapplaus im Salle Debussy, und nicht nur von den zahlreich anwesenden Italienern. Überhaupt sei Fußball ja fast so schön wie das Kino. Noch lauterer Applaus im Saal.
So leitete Fremaux die Begrüßung von Marco Bellocchio ein. Der inzwischen über 80-jährige italienische Regisseur gewann seit Mitte der 60er Jahre wichtige Preise, stand aber doch immer nicht nur im Schatten der großen Neorealisten, sondern auch ihrer Nachfolger, im Schatten von Bertolucci, Cavani, Wertmüller und von Pasolini sowieso. Bellocchio ist der Repräsentant einer Zwischengeneration: zu jung, um nach dem Krieg gleich anzufangen, zu alt, um später die Revolte anzuführen.
Bellocchio habe nie eine Goldene Palme gewonnen, sagte Fremau weiter, »und das ist falsch.« Diesen Fehler aber könne man nun korrigieren, darum werde der Regisseur nun mit einer Goldenen Ehrenpalme ausgezeichnet.
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In manchem wird Cannes der Berlinale immer ähnlicher. Seit wenigen Jahren gibt es auch hier Ehrenpalmen und Presseembargos; in diesem Jahr gibt es auch eine Reihe »Cannes Premieren«. Offenkundig weil man nicht noch mehr Filme in den Wettbewerb stopfen konnte, und weil man sich nicht traut, wie immer schon in Venedig 20 plus x Filme im »Wettbewerb außer Konkurrenz« zu zeigen.
Aber „Cannes Premieres“ – das klingt wie „Berlinale Spezial“, also einfach
doof. Und was diese neue Sektion von den Filmen, die weiterhin im „Wettbewerb außer Konkurrenz“ laufen nun unterscheidet, hat keiner gewusst, den ich gefragt habe.
Da laufen dann Filme von Desplechin, Amalric, Arnold oder eben Bellocchio.
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Zu Anfang von Marx kann warten versammelt Marco Bellocchio eine Familie an einen großen gedeckten Tisch. Es ist seine Familie, das sagt er gleich, genauso wie: »Wir dachten alle, dass dies vielleicht die letzte Gelegenheit sein würde, um uns alle noch einmal zusammen zu treffen.« Man isst zusammen, redet, und der Regisseur hat diese Gespräche aufgezeichnet als Rahmen für weitere Gespräche, alte Filmausschnitte, Photographien, Archivmaterial.
Es
sind acht Geschwister: Bellocchio selbst wird noch dieses Jahr 82, er hat einen älteren Bruder und zwei ältere Schwestern, die alle noch leben, und einen jüngeren Bruder. Ein weiterer älterer Bruder ist gestorben, und Bellocchios Zwillingsbruder Camillo. Um den soll es in dem Film vor allem gehen.
Marx can wait ist ein sehr persönlicher Familienfilm und die Dokumentation einer offenen Wunde; er fängt mit der Vorstellung der Familie an und mit ein paar Seitenblicken auf die italienische Geschichte im 20. Jahrhundert, und dann wird die Bewegung des Films spiralförmig immer enger und zentriert sich um den Bruder Camillo.
Als Marco geboren wurde, rief die Hebamme zur allgemeinen Überraschung: »Da ist noch ein anderer.« Dann hat es drei Stunden gedauert, und als Camillo endlich aus dem Mutterleib raus kam, so erzählt die Schwester, »da war er ganz schwarz.« Er wurde dann gleich dreimal getauft, erst zwei Nottaufen und dann irgendwann die richtige. »Wir werden im Limbo enden.« sagt die eine Schwester, worauf die andere entgegnet: »Limbo gibt’s nicht mehr, das hat die Kirche abgeschafft. Aber das Purgatorium gibt es noch«.
So geht dieser Film voran, humorvoll, mit erratischen Seitenblicken, zum Beispiel auf die absurden Seiten des Katholizismus, die mit dem Eigentlichen direkt nichts zu tun haben, aber doch einen Zusammenhang und eine Struktur sichtbar machen, und getrieben von Ernst. Es ist alles ziemlich lustig, heiter wie hier etwa zwei alte Frauen miteinander reden und dann irgendwann auch die Brüder dazu. Aber eigentlich ist es sehr traurig, und es ist dieser Schmerz, der Bellocchio antreibt.
Die Familie lebte in Piacenza. 1946, als es die Abstimmung zwischen Republik und Monarchie gab, stimmten alle Erwachsenen für die Monarchie. Man hatte Angst vor den Kommunisten.
Der Film zeigt Dokumentarausschnitte der allgemeinen Geschichte, oder tolle Wahl-Plakate; er lässt Leute in die Kamera sagen: »Die Kirche herrschte mit Angst und Terror.«
Aber auch die Dynamik dieser Familie ist »ein Terrorzusammenhang« (Alexander Kluge). Während es dann über Marco heißt »Your brilliance was never doubted«, und sich der Zuschauer noch fragt, ob es verräterische Eitelkeit des Regisseurs ist, solche Sätze im Film zu lassen, oder notwendig er Teil des Ganzen, da erzählen die überlebenden Geschwister, Camillo sei ein Engel gewesen, schüchtern und melancholisch. Sein jüngerer Bruder fast es in einen schönen Satz: »Er war keiner, der nach Argentinien fuhr und als Millionär wiederkommt; kein Abenteurer.«
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Recht früh starb der Vater (1891-1956) an Krebs. Die Mutter nutzte die Hilflosigkeit des Atheisten aus, um ihm die letzte Ölung verpassen zu lassen – zur Empörung der Kinder, die von einer Farce reden, und trotz der Schimpfkanonaden des Sterbenden: »Du schmutziger Pfaffe, hau ab!« Eine Szene wie aus einem Film von Visconti, Pasolini, Bertolucci – oder Bellocchio.
Dieser Tod wirft das Thema des Überlebens auf. Wer überlebt und warum? Ende 1968 hat sich Bruder Camillo umgebracht. Aus Angst zu versagen, aus Lebensüberdruss, weil er keinen Platz im Leben fand, nicht in der Familie und nicht fern von ihr.
Bellocchio geht mit sich ins Gericht, durchaus schmerzhaft, aber doch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Das sei ihm nicht vorgeworfen, es fällt aber auf, weil er in diesem Film erkennbar Herr der Erzählung bleibt, weil er für ihn unangenehme Passagen zeigt, aber doch nie zu sehr, und abgefedert durch schmeichelhafte. Die Wunde bleibt offen, aber wie tief sie für Bellochio wirklich ist, oder ob dieser Film nur ein letzter Akt der Rechtfertigung vor sich selber ist, das kann man schwer sagen, denn dafür bleiben wir zu weit weg.
Bellocchio wollte sich das Thema vom Leib halten, wie er offen konstatiert. Die Krisen ders Bruders zu dessen Lebzeiten, und die offenbar empfundene Schuld seit dem Tod des Bruders. Jetzt aber arbeitet er mit seinem Film etwas davon ab. Der Film bietet die hochinteressante Innenansicht einer Familie. Zugleich aber ist es auch die Innenansicht einer Generation, für die die Psychoanalyse die noch entscheidendere Erfahrung war, als der Marxismus. Marx konnte warten, Freud nicht. »Marx kann warten« heißt der Film übrigens, weil dies Camillo zu Marco in deren letztem Gespräch sagte, als ihn der Bruder mit – wie er selbst sagt – vulgärmarxistischen Phrasen belehrte.
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Spätestens drei, vier Tage vor der Preisverleihung ist es zu merken: Die Tage der Chanel-Tüten sind wieder angebrochen. Denn Cannes ist auch jenseits der zu erwerbenden Filmrechte eine Shopping-Tour. Dieses Jahr sind mir besonders deutsche Fernsehredakteure aufgefallen, die mit Galerie-Lafayette-Einkaufstüten sogar ins Kino kamen.
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Dieser Vater gibt sich kultiviert, er hört gerne Chopin. Dann wechselt er das Haus, denn er kann es nicht bezahlen. Er ist ein Zerstörer und einer, der das weiß. Die Tochter versteht es noch nicht, wird erstmal zum Punk.
Diese Vaterfigur in Flag Day ist ein Familientyrann in ungewohnter Art. Die Tyrannei des von Sean Penn gespielten Vaters John Vogel ist auf den ersten Blick subtil. Er umgarnt seine Tochter mit Geschenken, immer wenn er da ist, ist er der lustige unterhaltsame Vater. Nur ist er kaum da. Wenn er gerade weg ist, treibt er »Geschäfte«. Dahinter, was das für welche sind, kommt man erst allmählich. Mit unsicheren Geschäftsmodellen, und kleinen Hochstapeleien fängt es an, später kommt es zu einem Banküberfall, und zu den Druck von Falschgeld im Wert von 22 Millionen Dollar. Alles das geht auf eine wahre Geschichte zurück und ein Buch, das von der Tochter geschrieben wurde. Weil es leider zu viel um diese Tochter kreist, erfährt man über den Vater zu wenig. So ist Flag Day, bei dem Penn Regie führte, vor allem einen Film, der seinen Schauspielern eine große Bühne bietet. Entweder Dylan Penn oder ihren Vater Sean sieht man nahezu immer im Bild. Es könnte schlechter sein, oder es hätte schlimmer sein können, oder man hatte Schlechteres erwartet – so war am Ende der Eindruck auch vieler Kollegen von diesem Film. Eine gute Nachricht ist dies allerdings noch nicht.
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Irgendwann mittendrin kann man übrigens an Donald Trump denken und seine Tochter Ivana – wobei die vermutlich nie ein Punk war. Auch Donald Trump sagt von sich, er sei »ein Unternehmer«, mache Geschäfte. Und wenn die Tochter irgendwann fragt, »Was machst Du eigentlich?« kann der Vater das nicht gut erklären. Wenn wir uns diese Leute als die Trumps vorstellen, dann wird dieser Film immerhin lustig. Auch dieser Vater ist ein schrecklicher Angeber, eigentlich ein Loser, einer der nicht die Wahrheit sagen kann.
Sean Penns Film ist leider auch sehr schwerblütig, zu ernst gemeint, ihm fehlt alles Leichte. Aber was will er uns mit ihm eigentlich sagen? Warum hat er ihn gemacht, wenn nicht, um der Tochter eine Bühne zu bereiten. Das wäre Sinn genug – aber Flag Day behauptet in jeder Szene irgendetwas mehr, was er nicht einlösen kann. Sean Penn ist weiterhin das Beispiel eines Schauspielers, der sich sehr wichtig nimmt und großen Ehrgeiz hat, ohne diesen künstlerischen Ehrgeiz auch mit Qualität füllen zu können. Er ist das Beispiel eines Schauspielers, der besser nicht Regisseur geworden wäre.
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Mahamat Saeh Harouns Lingui ist ein ganz anderer Film. Die ersten Bilder zeigen eine Frau bei harter, mühevoller Arbeit. Mit verschiedenen eigens dafür vorbereiteten und zugeschliffenen Messern schneidet sie Autoreifen entzwei, und holt das Metall aus den Reifen heraus. Aus diesem Metall flicht sie kunstvolle Gebilde, Öfen und Schirme. Die werden dann verkauft für pro Stück 2000 oder 3000 CFA-Franc, der Währung des Tschad. Das sind ungerechnet 3-4 Euro.
Die Hauptfigur von Lingui ist eine alleinstehende Frau, die ein Kind hat. Deswegen sehen angeblich »alle auf sie herab«, so wird es gesagt. Davon sieht man in dem Film allerdings nichts, wie auch von anderen Dingen, von denen die Rede ist, ohne dass sie gezeigt werden. Die Mutter geht wie andere Frauen auch in die Moschee und betet; der Priester kommt zu ihr und gibt ihr gütig autoritäre Lektionen. Dies ist eine islamische Gemeinschaft, die am Ende alles
in allem nicht besonders brutal oder repressiv wirkt. Wer nicht mitmachen will, mag vielleicht zum Außenseiter werden, aber er wird nicht mit dem Tod bedroht.
Dann wird die 15-jährige Tochter schwanger. Das Kind soll abgetrieben werden, sagt die Tochter. Sie muss aber erst einige Überzeugungsarbeit leisten, denn die gläubige Mutter will das nicht. Abgesehen davon, dass überhaupt kein Geld dafür vorhanden ist, das Ganze machen zulassen – illegal ist es sowieso, man muss also
entweder mit sehr viel Geld einen richtigen Arzt bestechen oder mit immer noch relativ viel Geld irgendwelche Quacksalber.
Wenn in solchen Momenten die Mutter der Tochter Moralpredigten hält, denke ich: Der »böse Islam« ist es eigentlich nicht, sondern es sind die Menschen, die andere Menschen unterdrücken. Oft genug unterdrücken die Menschen sich selber, und die Menschen sind schuld, dass sie so viel Schwachsinn glauben und »Gottes Strafe« fürchten und dergleichen mehr.
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Der Schweizer Michael Sennhauser analysierte den Film kühl: »Das afrikanische Kino – soweit es noch existiert – hat sich längst aufgesplittert in unzählige Varianten, die in Europa kaum mehr ankommen. Was sichtbar bleibt, dank der europäischen Festivals und der europäischen Förderszene, ist die Art Autorenkino, welche den Vorstellungen der 1980er Jahre entspricht. Dazu gehören leider auch etliche Filme von Mahamat-Saleh Haroun... Festivals, gerade auch das von Cannes, mit seinem Anspruch, das globale Autorenkino zu fördern und sichtbar zu machen, kommen leicht in ein Dilemma: Der« afrikanische »Markt verlangt nach anderen Produkten und Distributionen als klassische Kinofilme, darum gibt es die auch kaum mehr. Es sei denn als europäische Ko-Propduktionen, mehr oder weniger für den Festival-Bedarf. Auch Lingui (Verbindungen, Verwandtschaft) ist wieder so ein Festival-Zombie, eine belgisch-französisch-deutsch-tschadische Koproduktion.«
Das ist ziemlich treffend auf den Punkt gebracht. Lingui ist naiv, nicht dumm, aber auch nicht interessant über die Einblicke ins Leben des Tschad hinaus. Er ist ein bisschen explizit, und er hätte auch im Berlinale Wettbewerb laufen können – das heißt, in Cannes hat er eigentlich nichts zu suchen. Warum er hier läuft, liegt auch daran, dass man einen Film aus Afrika zeigen möchte. Und nicht in jedem Jahr gibt es Atlantique.