20.07.2021
74. Filmfestspiele Cannes 2021

Die Tage der Chanel-Tüten

Bellocchio
Szene aus Marco Bellocchios Marx can wait
(Foto: Cannes Media Library)

Marco Bellocchios Gewissensbisse, ein Film aus dem Tschad, und Neues von Sean Penn – Cannes-Tagebuch, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Sean Penn ... ist immer in Gefahr, vom Poeti­schen ins Lächer­liche zu rutschen.«
- Hans Schif­ferle, SZ 19.03.2003

»Sind hier irgend­welche Engländer im Raum?« So kann man auch einen Film ansagen. Gemacht hat es Thierry Fremaux, der künst­le­ri­sche Leiter der Film­fest­spiele von Cannes. Um dann, gleich nachdem sich ein paar Hände zögernd nach oben bewegt hatten, hinzu­zu­fügen, es tue ihm jetzt zwar sehr leid, aber er müsse doch einfach mal sagen, wie sehr er sich im letzten Sonntag gefreut habe, als die Italiener Fußball-Euro­pa­meister geworden sind und nicht die Engländer. Riesen­ap­plaus im Salle Debussy, und nicht nur von den zahlreich anwe­senden Italie­nern. Überhaupt sei Fußball ja fast so schön wie das Kino. Noch lauterer Applaus im Saal.

So leitete Fremaux die Begrüßung von Marco Belloc­chio ein. Der inzwi­schen über 80-jährige italie­ni­sche Regisseur gewann seit Mitte der 60er Jahre wichtige Preise, stand aber doch immer nicht nur im Schatten der großen Neorea­listen, sondern auch ihrer Nach­folger, im Schatten von Berto­lucci, Cavani, Wert­müller und von Pasolini sowieso. Belloc­chio ist der Reprä­sen­tant einer Zwischen­ge­ne­ra­tion: zu jung, um nach dem Krieg gleich anzu­fangen, zu alt, um später die Revolte anzu­führen.

Belloc­chio habe nie eine Goldene Palme gewonnen, sagte Fremau weiter, »und das ist falsch.« Diesen Fehler aber könne man nun korri­gieren, darum werde der Regisseur nun mit einer Goldenen Ehren­palme ausge­zeichnet.

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In manchem wird Cannes der Berlinale immer ähnlicher. Seit wenigen Jahren gibt es auch hier Ehren­palmen und Pres­se­em­bargos; in diesem Jahr gibt es auch eine Reihe »Cannes Premieren«. Offen­kundig weil man nicht noch mehr Filme in den Wett­be­werb stopfen konnte, und weil man sich nicht traut, wie immer schon in Venedig 20 plus x Filme im »Wett­be­werb außer Konkur­renz« zu zeigen.
Aber „Cannes Premieres“ – das klingt wie „Berlinale Spezial“, also einfach doof. Und was diese neue Sektion von den Filmen, die weiterhin im „Wett­be­werb außer Konkur­renz“ laufen nun unter­scheidet, hat keiner gewusst, den ich gefragt habe.
Da laufen dann Filme von Desplechin, Amalric, Arnold oder eben Belloc­chio.

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Zu Anfang von Marx kann warten versam­melt Marco Belloc­chio eine Familie an einen großen gedeckten Tisch. Es ist seine Familie, das sagt er gleich, genauso wie: »Wir dachten alle, dass dies viel­leicht die letzte Gele­gen­heit sein würde, um uns alle noch einmal zusammen zu treffen.« Man isst zusammen, redet, und der Regisseur hat diese Gespräche aufge­zeichnet als Rahmen für weitere Gespräche, alte Film­aus­schnitte, Photo­gra­phien, Archiv­ma­te­rial.
Es sind acht Geschwister: Belloc­chio selbst wird noch dieses Jahr 82, er hat einen älteren Bruder und zwei ältere Schwes­tern, die alle noch leben, und einen jüngeren Bruder. Ein weiterer älterer Bruder ist gestorben, und Belloc­chios Zwil­lings­bruder Camillo. Um den soll es in dem Film vor allem gehen.

Marx can wait ist ein sehr persön­li­cher Fami­li­en­film und die Doku­men­ta­tion einer offenen Wunde; er fängt mit der Vorstel­lung der Familie an und mit ein paar Seiten­bli­cken auf die italie­ni­sche Geschichte im 20. Jahr­hun­dert, und dann wird die Bewegung des Films spiral­förmig immer enger und zentriert sich um den Bruder Camillo.

Als Marco geboren wurde, rief die Hebamme zur allge­meinen Über­ra­schung: »Da ist noch ein anderer.« Dann hat es drei Stunden gedauert, und als Camillo endlich aus dem Mutter­leib raus kam, so erzählt die Schwester, »da war er ganz schwarz.« Er wurde dann gleich dreimal getauft, erst zwei Nottaufen und dann irgend­wann die richtige. »Wir werden im Limbo enden.« sagt die eine Schwester, worauf die andere entgegnet: »Limbo gibt’s nicht mehr, das hat die Kirche abge­schafft. Aber das Purga­to­rium gibt es noch«.

So geht dieser Film voran, humorvoll, mit erra­ti­schen Seiten­bli­cken, zum Beispiel auf die absurden Seiten des Katho­li­zismus, die mit dem Eigent­li­chen direkt nichts zu tun haben, aber doch einen Zusam­men­hang und eine Struktur sichtbar machen, und getrieben von Ernst. Es ist alles ziemlich lustig, heiter wie hier etwa zwei alte Frauen mitein­ander reden und dann irgend­wann auch die Brüder dazu. Aber eigent­lich ist es sehr traurig, und es ist dieser Schmerz, der Belloc­chio antreibt.

Die Familie lebte in Piacenza. 1946, als es die Abstim­mung zwischen Republik und Monarchie gab, stimmten alle Erwach­senen für die Monarchie. Man hatte Angst vor den Kommu­nisten.
Der Film zeigt Doku­men­tar­aus­schnitte der allge­meinen Geschichte, oder tolle Wahl-Plakate; er lässt Leute in die Kamera sagen: »Die Kirche herrschte mit Angst und Terror.«

Aber auch die Dynamik dieser Familie ist »ein Terror­zu­sam­men­hang« (Alexander Kluge). Während es dann über Marco heißt »Your bril­li­ance was never doubted«, und sich der Zuschauer noch fragt, ob es verrä­te­ri­sche Eitelkeit des Regis­seurs ist, solche Sätze im Film zu lassen, oder notwendig er Teil des Ganzen, da erzählen die über­le­benden Geschwister, Camillo sei ein Engel gewesen, schüch­tern und melan­cho­lisch. Sein jüngerer Bruder fast es in einen schönen Satz: »Er war keiner, der nach Argen­ti­nien fuhr und als Millionär wieder­kommt; kein Aben­teurer.«

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Recht früh starb der Vater (1891-1956) an Krebs. Die Mutter nutzte die Hilf­lo­sig­keit des Atheisten aus, um ihm die letzte Ölung verpassen zu lassen – zur Empörung der Kinder, die von einer Farce reden, und trotz der Schimpf­ka­no­naden des Ster­benden: »Du schmut­ziger Pfaffe, hau ab!« Eine Szene wie aus einem Film von Visconti, Pasolini, Berto­lucci – oder Belloc­chio.

Dieser Tod wirft das Thema des Über­le­bens auf. Wer überlebt und warum? Ende 1968 hat sich Bruder Camillo umge­bracht. Aus Angst zu versagen, aus Leben­sü­ber­druss, weil er keinen Platz im Leben fand, nicht in der Familie und nicht fern von ihr.

Belloc­chio geht mit sich ins Gericht, durchaus schmerz­haft, aber doch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Das sei ihm nicht vorge­worfen, es fällt aber auf, weil er in diesem Film erkennbar Herr der Erzählung bleibt, weil er für ihn unan­ge­nehme Passagen zeigt, aber doch nie zu sehr, und abge­fe­dert durch schmei­chel­hafte. Die Wunde bleibt offen, aber wie tief sie für Bellochio wirklich ist, oder ob dieser Film nur ein letzter Akt der Recht­fer­ti­gung vor sich selber ist, das kann man schwer sagen, denn dafür bleiben wir zu weit weg.

Belloc­chio wollte sich das Thema vom Leib halten, wie er offen konsta­tiert. Die Krisen ders Bruders zu dessen Lebzeiten, und die offenbar empfun­dene Schuld seit dem Tod des Bruders. Jetzt aber arbeitet er mit seinem Film etwas davon ab. Der Film bietet die hoch­in­ter­es­sante Innen­an­sicht einer Familie. Zugleich aber ist es auch die Innen­an­sicht einer Gene­ra­tion, für die die Psycho­ana­lyse die noch entschei­den­dere Erfahrung war, als der Marxismus. Marx konnte warten, Freud nicht. »Marx kann warten« heißt der Film übrigens, weil dies Camillo zu Marco in deren letztem Gespräch sagte, als ihn der Bruder mit – wie er selbst sagt – vulgär­mar­xis­ti­schen Phrasen belehrte.

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Spätes­tens drei, vier Tage vor der Preis­ver­lei­hung ist es zu merken: Die Tage der Chanel-Tüten sind wieder ange­bro­chen. Denn Cannes ist auch jenseits der zu erwer­benden Film­rechte eine Shopping-Tour. Dieses Jahr sind mir besonders deutsche Fern­seh­re­dak­teure aufge­fallen, die mit Galerie-Lafayette-Einkaufs­tüten sogar ins Kino kamen.

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Dieser Vater gibt sich kulti­viert, er hört gerne Chopin. Dann wechselt er das Haus, denn er kann es nicht bezahlen. Er ist ein Zerstörer und einer, der das weiß. Die Tochter versteht es noch nicht, wird erstmal zum Punk.

Diese Vater­figur in Flag Day ist ein Familientyrann in ungewohnter Art. Die Tyrannei des von Sean Penn gespielten Vaters John Vogel ist auf den ersten Blick subtil. Er umgarnt seine Tochter mit Geschenken, immer wenn er da ist, ist er der lustige unterhaltsame Vater. Nur ist er kaum da. Wenn er gerade weg ist, treibt er »Geschäfte«. Dahinter, was das für welche sind, kommt man erst allmählich. Mit unsicheren Geschäftsmodellen, und kleinen Hochstapeleien fängt es an, später kommt es zu einem Banküberfall, und zu den Druck von Falschgeld im Wert von 22 Millionen Dollar. Alles das geht auf eine wahre Geschichte zurück und ein Buch, das von der Tochter geschrieben wurde. Weil es leider zu viel um diese Tochter kreist, erfährt man über den Vater zu wenig. So ist Flag Day, bei dem Penn Regie führte, vor allem einen Film, der seinen Schauspielern eine große Bühne bietet. Entweder Dylan Penn oder ihren Vater Sean sieht man nahezu immer im Bild. Es könnte schlechter sein, oder es hätte schlimmer sein können, oder man hatte Schlechteres erwartet – so war am Ende der Eindruck auch vieler Kollegen von diesem Film. Eine gute Nachricht ist dies allerdings noch nicht.

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Irgend­wann mitten­drin kann man übrigens an Donald Trump denken und seine Tochter Ivana – wobei die vermut­lich nie ein Punk war. Auch Donald Trump sagt von sich, er sei »ein Unter­nehmer«, mache Geschäfte. Und wenn die Tochter irgend­wann fragt, »Was machst Du eigent­lich?« kann der Vater das nicht gut erklären. Wenn wir uns diese Leute als die Trumps vorstellen, dann wird dieser Film immerhin lustig. Auch dieser Vater ist ein schreck­li­cher Angeber, eigent­lich ein Loser, einer der nicht die Wahrheit sagen kann.

Sean Penns Film ist leider auch sehr schwer­blütig, zu ernst gemeint, ihm fehlt alles Leichte. Aber was will er uns mit ihm eigent­lich sagen? Warum hat er ihn gemacht, wenn nicht, um der Tochter eine Bühne zu bereiten. Das wäre Sinn genug – aber Flag Day behauptet in jeder Szene irgend­etwas mehr, was er nicht einlösen kann. Sean Penn ist weiterhin das Beispiel eines Schau­spie­lers, der sich sehr wichtig nimmt und großen Ehrgeiz hat, ohne diesen künst­le­ri­schen Ehrgeiz auch mit Qualität füllen zu können. Er ist das Beispiel eines Schau­spie­lers, der besser nicht Regisseur geworden wäre.

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Mahamat Saeh Harouns Lingui ist ein ganz anderer Film. Die ersten Bilder zeigen eine Frau bei harter, mühe­voller Arbeit. Mit verschie­denen eigens dafür vorbe­rei­teten und zuge­schlif­fenen Messern schneidet sie Auto­reifen entzwei, und holt das Metall aus den Reifen heraus. Aus diesem Metall flicht sie kunst­volle Gebilde, Öfen und Schirme. Die werden dann verkauft für pro Stück 2000 oder 3000 CFA-Franc, der Währung des Tschad. Das sind unge­rechnet 3-4 Euro.

Die Haupt­figur von Lingui ist eine allein­ste­hende Frau, die ein Kind hat. Deswegen sehen angeblich »alle auf sie herab«, so wird es gesagt. Davon sieht man in dem Film aller­dings nichts, wie auch von anderen Dingen, von denen die Rede ist, ohne dass sie gezeigt werden. Die Mutter geht wie andere Frauen auch in die Moschee und betet; der Priester kommt zu ihr und gibt ihr gütig auto­ri­täre Lektionen. Dies ist eine isla­mi­sche Gemein­schaft, die am Ende alles in allem nicht besonders brutal oder repressiv wirkt. Wer nicht mitmachen will, mag viel­leicht zum Außen­seiter werden, aber er wird nicht mit dem Tod bedroht.
Dann wird die 15-jährige Tochter schwanger. Das Kind soll abge­trieben werden, sagt die Tochter. Sie muss aber erst einige Über­zeu­gungs­ar­beit leisten, denn die gläubige Mutter will das nicht. Abgesehen davon, dass überhaupt kein Geld dafür vorhanden ist, das Ganze machen zulassen – illegal ist es sowieso, man muss also entweder mit sehr viel Geld einen richtigen Arzt bestechen oder mit immer noch relativ viel Geld irgend­welche Quack­salber.
Wenn in solchen Momenten die Mutter der Tochter Moral­pre­digten hält, denke ich: Der »böse Islam« ist es eigent­lich nicht, sondern es sind die Menschen, die andere Menschen unter­drü­cken. Oft genug unter­drü­cken die Menschen sich selber, und die Menschen sind schuld, dass sie so viel Schwach­sinn glauben und »Gottes Strafe« fürchten und derglei­chen mehr.

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Der Schweizer Michael Senn­hauser analy­sierte den Film kühl: »Das afri­ka­ni­sche Kino – soweit es noch existiert – hat sich längst aufge­split­tert in unzählige Varianten, die in Europa kaum mehr ankommen. Was sichtbar bleibt, dank der europäi­schen Festivals und der europäi­schen Förder­szene, ist die Art Autoren­kino, welche den Vorstel­lungen der 1980er Jahre entspricht. Dazu gehören leider auch etliche Filme von Mahamat-Saleh Haroun... Festivals, gerade auch das von Cannes, mit seinem Anspruch, das globale Autoren­kino zu fördern und sichtbar zu machen, kommen leicht in ein Dilemma: Der« afri­ka­ni­sche »Markt verlangt nach anderen Produkten und Distri­bu­tionen als klas­si­sche Kinofilme, darum gibt es die auch kaum mehr. Es sei denn als europäi­sche Ko-Prop­duk­tionen, mehr oder weniger für den Festival-Bedarf. Auch Lingui (Verbin­dungen, Verwandt­schaft) ist wieder so ein Festival-Zombie, eine belgisch-fran­zö­sisch-deutsch-tscha­di­sche Kopro­duk­tion.«

Das ist ziemlich treffend auf den Punkt gebracht. Lingui ist naiv, nicht dumm, aber auch nicht interessant über die Einblicke ins Leben des Tschad hinaus. Er ist ein bisschen explizit, und er hätte auch im Berlinale Wettbewerb laufen können – das heißt, in Cannes hat er eigentlich nichts zu suchen. Warum er hier läuft, liegt auch daran, dass man einen Film aus Afrika zeigen möchte. Und nicht in jedem Jahr gibt es Atlan­tique.