74. Filmfestspiele Cannes 2021
Heute sind wir alle Italiener |
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Der Sieg Italiens – ein Sieg Europas... | ||
(Foto: A.T. Purr) |
»Wir spielen mit Spaß, damit die Italiener Spaß haben. Sie haben es verdient, nach all dem Leid.«
- Roberto Mancini, italienischer Nationaltrainer
»Sur les marches ce soir...«, »un programme magnifique...«, »l’équipe de ce film...« – so kündigt allabendlich oder genau gesagt bereits ab dem frühen Nachmittag ein Sprecher über große Boxen das Programm der Premieren am Abend im »Lumières« an, dem Haupt-Kino des Festivals. Für alle Fans und Fotografen, die auch im Coronajahr dicht gedrängt bereits Stunden vor Beginn des Defilees auf dem Roten Teppich um die besten Plätze kämpfen.
Dieser Auftritt heißt hier »Les
Marches«.
Und ein Film hat in Cannes eine „équipe“, eine Mannschaft wie beim Fußball, kein Team.
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Erstes Zwischenfazit: ein solider, aber keineswegs sensationeller Wettbewerb. Die Auswahl im vergangenen Jahr „Cannes ‘73“ war nicht uninteressanter und scheint in mancher Hinsicht im Rückblick ungewöhnlicher. In diesem Jahr sind die Filme in den meisten Fällen irgendwie gedämpft und zurückhaltend; Pflichtaufgaben, aber nicht besonders inspiriert. Inspirierter war dann vielleicht eher das, was bisher in der wichtigsten Nebenreihe „Un certain regard“ zu sehen war. Der Witz ist verschlissen, hier vom „unsicheren Blick“ zu sprechen, „un certain regard“, aber er ist trotzdem nicht so schlecht und nicht so unzutreffend. Bloß, dass die Unsicherheit in diesen Zeiten, in denen einerseits alle auf Sicherheit zu großen Wert legen und andererseits in einer Weise verunsichert sind wie noch nie in ihrem Leben, auf der Kinoleinwand etwas besonders Faszinierendes und Vielversprechendes hat.
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Auch beim Filmfestival muss man Prioritäten setzen. Deswegen hatte ich schon am Dienstag das Halbfinale Italien-Spanien geguckt, dabei mit Spaniern und Latinos ge-WhatsApped.
Heute nun sehen wir gleich das EM-Finale.
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Ebenso wie Kino und Gesellschaft sind auch Sport, Wirtschaft, Macht und Gesellschaft seit weit über 100 Jahren ein inniges Geflecht; der Sport ist Labor und Kondensat, Spiegel und Medium zugleich. Wie Filmfestivals, so sind auch Fußballturniere ein Schauplatz für das gesellschaftliche Ringen um Emanzipation und Teilhabe und für den politischen, ökonomischen und kulturellen Wettkampf zwischen Nationen und Kontinenten.
Wie das Kino ist der Sport ein Medium der Eroberung
öffentlichen Raums durch neue gesellschaftliche Gruppen, durch neue Diskurse. Er ist grundsätzlich von einer großen sozialen Offenheit geprägt, von relativer Durchlässigkeit im Vergleich zu der Undurchlässigkeit anderer Gesellschaftsbereiche. Sport war, wieder wie die Filmkunst, auch eine der wenigen Bühnen, auf denen während des Kalten Kriegs der Ostblock mit dem Westen gleichziehen oder ihn sogar überholen konnte.
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Bereits in der Nacht zu diesem Sonntag trafen mit Brasilien und Argentinien im Finale der Copa America die zwei führenden Fußballnationen des Kontinents aufeinander. Argentinien gewann mit 1-0, und befreite sich vom Fluch einer 28-jährigen Serie ohne Titel und seinen Superstar Lionel Messi von der Belastung, mit der »Albiceleste« noch titellos zu sein.
Wie schade, das nur virtuell mit den Argentiniern, die sonst immer hier sind, feiern zu können!
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Auch im heutigen Duell zwischen England und Italien sollen Serien gebrochen werden: Italiens Erfolglosigkeit bei der EM seit 1968, Englands internationale Titellosigkeit seit dem WM-Sieg 1966. Auch der fand in Wembly statt. Und so ist es eigentlich eine offenkundige, himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass die englische Mannschaft nicht nur sämtliche Vorrundenspiele im eigenen Londoner Wembley Stadion austragen durfte, sondern auch noch das Achtelfinalspiel, das Halbfinale und jetzt das Finale.
Im Duell zwischen England und Italien kann man auch viel Tradition entdecken. England, das immer noch und historisch korrekt als »das Mutterland des Fußballs« gilt, tritt hier gegen Italien an, das den Fußballsport in den 20er und 30er Jahren entscheidend erneuerte und nicht ohne Grund 1934 und 1938 Weltmeister wurde.
Ich kann sagen: Ich glaube leider, dass England den unverdienten Heimvorteil nutzen wird, aber ich hoffe sehr, dass ihnen die Italiener die vorhandenen Grenzen aufzeigen. Wie die „Welt“ treffend schrieb: »Englands Fußball gehört zum einfältigsten, was man bei diesem Turnier sehen kann. Nach einer kurzen Startoffensive wird zunächst einmal Rhythmus verschleppt bzw. am besten ganz verhindert.«
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Politisch und gesellschaftlich gesehen muss man eigentlich gegen England sein. Denn dies ist das Land mit dem kürzesten Gedächtnis Europas. Ein Land der Lüge und des Erinnerungsverlusts. Letzterer maskiert sich mit allerlei historischen Ornamenten, die vorgeblich die Erinnerung pflegen. Es ist aber eine höchst einseitige selektive Erinnerung, die die Uniformen das verlorenen britischen Empires trägt und dessen Rituale nostalgisch zelebriert.
Das England von heute ist
ein Land der Illusionen. So wie die Schäden des Brexit für Wirtschaft und Menschen auf der Insel kaum diskutiert werden, so wie auch die Korruptionsfälle innerhalb der Regierung, die Aushöhlung des Rechtsstaats und die Lügen des Premierministers nur die wenigsten interessieren. Diejenigen, die glaubten, Boris Johnson wäre ein kurzes Intermezzo der englischen Politik, ein Epigone von Donald Trump, haben sich getäuscht. Er war der Amateur, Johnson ist der Profi der
rechtspopulistischen Trumpismus-Politik.
Zu dieser gehört ein neuer vulgärer Nationalismus, der im Zuge der Brexit-Kampagne angeheizt wurde und bis heute wirkt. Er verbindet sich mit den nostalgischen Sehnsüchten der Konservativen nach einer Rückkehr in frühere, vermeintlich traditionalistischere Verhältnisse.
Der augenblickliche Fußballboom ist Ausdruck dieser Paarung aus alten Instinkten und neuer Vulgarität. Das zeigt sich auch in der allen Zuschauern der Fernsehübertragung bemerkbaren Verrohung der englischen Fußball-Verhältnisse: Pfeifen bei gegnerischen Nationalhymnen, und das Blenden und Stören des gegnerischen Torwarts, der Eckbälle und Freistöße mit Laserpointern, sprechen alten britischen Vorstellungen von »sportsmanship« und »fair play« Hohn.
Wegen alldem kann man davon ausgehen: Für die Italiener halten werden heute Abend nicht nur viele Fußballfans in der ganzen Welt, sondern insbesondere auch Schotten, Waliser, Nordiren und in England lebende Nachfahren der ehemaligen Kolonien.
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Italien zeigt hingegen gerade – im Fußball wie andernorts –, dass in der Desillusionierung eine Chance liegen kann. Die Flüchtlingskrise, die fortdauernde Finanzkrise sowie die zunehmende Lähmung der demokratischen Institutionen durch Populisten aller Lager wurden durch die Covid-19 Pandemie, die Italien als erstes europäisches Land und besonders hart und unvorbereitet traf, radikalisiert. Das erforderte nicht nur radikale Gegenmaßnahmen, sondern
zunächst der Wirklichkeit klar ins Auge zu sehen. Italien zeigte sich fähig zu einer solchen nüchternen Gegenwartsanalyse. Nie sind die Italiener besser, als wenn sie gut sein müssen.
Trainer Roberto Mancini hat ein klares System (das offensive, klassische, holländische 4-3-3). Aber er ist jederzeit bereit und fähig zu variieren. Die Vielzahl der EM-Torschützen zeigt die Breite und Variabilität im Kader. Gegner wissen nicht, auf wen sie sich konzentrieren sollen.
So wie
Premierminister Mario Draghi das Land still, sachlich und elegant verändert, so tut es auch Mancini mit dem Calcio. Zwei gemäßigte Führungsfiguren, die der Welt eine andere Vorstellung von Italien schenken. Nach der Corona-Depression mit verlorenen Familienmitgliedern, Einkommensverlusten und Einschränkungen aller Art kann Italien das gut gebrauchen.
In Wembley treten heute Abend nicht nur zwei Mannschaften und nicht nur zwei Nationen gegeneinander an, sondern zwei Prinzipien und zwei Symbole.
Zugespitzt muss man formulieren: Die englische Mannschaft ist die Mannschaft des Neoliberalismus. Und die Mannschaft des letzten Aufbäumens des Vereinigten Königreichs vor dem Austritt Schottlands und Wales' vorhersehbaren Untergang Großbritanniens im politischen Maelstrom.
Die italienische Mannschaft ist die der Selbstbehauptung Europas – nicht nur aber auch, weil Italien eine der Gründungsnationen des Vereinten Europa gewesen ist, und die
Gründungsakte der EWG nicht zufällig den Namen »Römische Verträge« trägt.
Wer für Europa ist, muss für Italien sein.