74. Filmfestspiele Cannes 2021
Die besten Filme der Welt |
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Marion Cotillard und Adam Driver in Leos Carax' Annette | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Der Ausschluss der Lust in einer Gesellschaft, die von zweierlei Moral bearbeitet wird: von der Mehrheitsmoral der Platitüde und von der Kleingruppenmoral der (politischen und/oder sozialen) Strenge. Die Idee der Lust schmeichelt, wie es scheint, niemandem mehr. Unsere Gesellschaft erscheint als gesetzt und gewalttätig zugleich; in jedem Fall: frigide.« – Roland Barthes
Jetzt ist es endlich wieder so weit. 12 Tage lang pilgern Kinostars, Autorenfilmer, Rechtehändler, Agenten, Berichterstatter und alle anderen »Cinephilen« dieser Welt an die Côte d’Azur. Andachtsvoll drehen sie ihre Kreise um einen Betonklotz im heute schon fast wieder schicken 70er-Jahre-brutalisme-Stil direkt zwischen Hafen und Strand eines einst beschaulichen kleinen Fischerdörfchens.
Vor dem strahlenden Sonnenschein und im azurblauen Meer fliehen sie in kühle
lichtlose Säle, um dem künstlichen Lichtflimmern und den elektrischen Schatten der Bilder zu folgen, die eine Illusionsmaschine erzeugt. Für viele von ihnen aber sind diese Bilder realer, als die Welt da draußen, und sie leiden mit den Figuren auf der Leinwand oft tiefer und inniger mit, als selbst mit nahen Vertrauten. Es ist also alles auch ein bisschen pervers mit dieser Kinoliebe.
Aber in diesem Fischerdörfchen laufen, man weiß das aus langjähriger Erfahrung, die besten Filme der Welt. Und so sind diese zwei Wochen für gar nicht so wenige Filmliebhaber auch die schönsten oder sogar die besten zwei Wochen des Jahres.
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In diesem Jahr kommt etwas hinzu: 15 Monate lang waren die Kinos, unterbrochen von wenigen kurzen Phasen, geschlossen, und der weltweite Filmbetrieb, inklusive der Filmfestivals mattgesetzt. Online-Surrogate, wie gutgemeint und gut gemacht auch immer, können das nicht ersetzen.
Jetzt soll, mit dem Mekka des Kinos als Auftakt und Startrampe, der Kinobetrieb neu beginnen. Und tatsächlich möchte man annehmen, dass – ähnlich wie große Sportereignisse, die Fußball-EM oder die Olympiade – auch das bedeutendste Kinoereignis der Welt die Menschen in ihrem Alltag ermutigen und optimistischer stimmen kann, ihnen die Schönheit gemeinsamer Erfahrungen wieder nahebringen und eine fast schon vergessene Normalität in Erinnerung rufen. Und Filme, gerade die Vielfalt der Genres und der Eindrücke aus einem Weltkino, das von Tokio bis Buenos Aires reicht, können glücklich machen und »empowern« und alle stärken für die keineswegs leichten und noch lange nicht normalen Verhältnisse, in denen wir leben.
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Kino als Impfstoff? Vor einfachen Metaphern wird gewarnt. Aber dieses Jahr ist natürlich nicht normal. In keiner Hinsicht. Wir haben Sommer. Es ist anders als im Mai. Die Luft ist feucht und schwül, die Hitze drückend. Atmosphärisch ist schon jetzt klar: Es wird ein seltsames Festival – das sehen auch die Leute aus Cannes so. Der »Patron« des Restaurants, in dem wir am Montag zu Abend aßen, erzählte sofort, die Atmosphäre sei anders: »Dies ist kein normales Festival. Ich kann mich gar nicht daran gewöhnen, dass jetzt die Filmemacher kommen und die üblichen Film-Gäste. Aber tatsächlich sind ja auch gar nicht alle hier. Es ist alles sehr sehr merkwürdig. Aber wir haben ein schlimmes Jahr hinter uns.«
Die diesjährige Ausgabe der Filmfestspiele, die 74. nach dem Auftakt im Nachkriegsjahr 1946, steht sehr deutlich und für alle bewusst im Schatten der Pandemie. Denn noch längst ist nicht wieder alles normal. Aber mit jedem Tag wird es ein Stückchen normaler. Das ist die Botschaft dieses Festivals, das sich letztes Jahr auf keine faulen Kompromisse einließ, sondern einfach die Ausgabe 2020 absagte, aber dafür in diesem Jahr vor Ort mit Filmemachern und sehr vielen Besuchern stattfindet. Alle können allerdings nicht kommen: In Lateinamerika, wo gerade Winter ist, sind die Infektionsraten zu hoch. Die Latino-Journalisten, die ich kenne, können daher nicht kommen. Darum wird es auch zum ersten Mal seit über 10 Jahren keinen Kritikerspiegel bei »todas las críticas« geben. Nächstes Jahr im Mai soll alles wieder sein wie gehabt. Russen oder Türken und die meisten Asiaten müssten in den meisten Fällen erst 14 Tage in Quarantäne gehen, darum hält sich ihre Zahl in diesem Jahr in engen Grenzen.
Merkwürdig einschränkend ist auch die Erfahrung des Festivalbetriebs unter Pandemieeinschränkungen. Man konnte das schon 2020 in Venedig und San Sebastian erleben, es wird in Cannes nicht anders sein.
Kino und Filmfestival bedeutet nicht einfach, Filme zu gucken, sondern eine spezielle, sehr einmalige Erfahrung. Die Erfahrung der Dichte, der Distanzlosigkeit, der Schnelligkeit, der Gleichzeitigkeit. Manchmal trifft man auf einem Filmfestival drei Leute gleichzeitig.
Über jeden von ihnen hätte man sich gefreut. Aber nun muss man jonglieren: Wie redet man mit allen dreien, ohne jemand schlecht zu behandeln oder unfreundlich zu wirken? Cannes ist voller solcher verschiedener Erfahrungen zur gleichen Zeit.
Diesmal ist alles anders. Dichte ist nicht gewollt, Distanz wird gefordert, und schnell ist gar nichts. Man muss 20 Minuten vor einer Vorführung vor Ort sein, erhält spezielle Ankunftsslots.
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Und auch die Auswahl der Filme ist bis zu einem bestimmten Grad begrenzt und geregelt. Man zeigt alte Bekannte und neue Freunde: Cannes möchte neue Werke zeigen, und darum laufen hier keine Filme, die schon 2019 gedreht wurden. Im Pandemiejahr aber entstanden weniger neue Filme, insofern ist das Auswahlspektrum reduziert. Umso erstaunlicher ist, was das diesjährige Programm trotz allem zu bieten hat.
Eröffnet wurde am Dienstag mit dem neuesten Werk des Franzosen Leos Carax (Die Liebenden von Pont-Neuf). Annette ist ein Fantasy-Thriller, der den Hollywoodstar Adam Driver und die französische Leinwandheroine Marion Cotillard verbindet. Die Liebesgeschichte zwischen einer Opernsängern und einem Stand-Up-Comedian wird zu einer emotionalen Achterbahnfahrt, als die
gemeinsame Tochter außergewöhnliche, übermenschliche Fähigkeiten entwickelt.
Zu den anderen unter den 24 Filmen, unter denen Jurypräsident Spike Lee am Ende die Palmen zu vergeben hat, gehören die neuen Werke von Paul Verhoeven, Sean Penn, Wes Anderson, Bruno Dumont, Nanni Moretti, dem Iraner Asghar Farhadi und dem russischen Dissidenten Kirill Serebrennikow.
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Das Chaos fehlt. Filmfestivals sind aber Chaos. Wo ist das Chaos in diesem Jahr? Wir leben – und das oft sehr gern – gerade in einem Zustand der Ordnung. Der zu vielen Ordnung. Der zu ordentlichen Ordnung. Gemeint ist damit nicht nur die Ordnung durch die Polizei, durch den Staat, durch die Gesundheitsbehörden. Viel eklatanter ist die Ordnung in den Köpfen. Die Ordnung in unseren Herzen und Hirnen. Wir trauen uns nichts, wir sind lieber ein bisschen feige. Das ist natürlich alles rational, pragmatisch und gesittet, aber auch ein bisschen spießig und puritanisch, oder wie Roland Barthes sagen würde: »frigide«. Und wie gesagt zerstört es die eigentliche Festivalerfahrung. Ich denke dagegen, dass Risiko ein Teil des Lebens ist. Aber ich weiß auch, dass das für mich leicht reden heißt. Ich komme aus einem reichen Land mit einem funktionierenden Gesundheitssystem, und ich bin zweimal geimpft. Für viele andere sehr geschätzte Menschen gilt das nicht. Für die besonders Risikobedachten bei uns allerdings schon.
Für künstlerische Erfahrung und für die Kunst selbst ist Ordnung aber nicht das Beste. Wir brauchen mehr Chaos und etwas mehr Unsicherheit. Aber jeder heute sehnt sich nach mehr Ordnung und Sicherheit. Dazu passt, dass der Zustand des kollektiven Bewusstseins und der Mehrheitsgesellschaft in den westlichen Ländern anti-künstlerisch ist. Insofern bin ich erstmal etwas skeptisch, um nicht zu sagen pessimistisch in Erwartung der kommenden zwei Wochen.
Aber es gibt Hoffnung.
Diese Hoffnung könnte aus den Ländern außerhalb Europas kommen. Aus Russland, aus Japan, aus Afrika. Von außerhalb Europas kamen auch 2019, beim letzten Cannes-Festival, die besten Filme.
Immerhin Paul Verhoeven ist auch immer gut für einen kleinen Skandal und eine große Provokation.
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Insofern wird dieses Cannes ein besonderes und eingeschränktes Jahr sein, das richtige schöne, wahre Cannes werden wir erst im Jahr 2022 wieder erleben. Hoffentlich!