74. Filmfestspiele Cannes 2021
Wenn Krähen über Palmen kreisen... |
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Annette ist Unterhaltungskino, zugleich aber auch klassischer Autorenfilm | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Was im kollektiven Unterbewusstsein der Epoche rumort, das erscheint mit tödlicher Sicherheit auf der Leinwand – wenn auch zumeist in gefälliger Verpackung, mit tröstlichem Happy End und den Wechseln der Maskierung. Wenn unser Blick diese Schichten durchdringt, stoßen wir auf Zentralpunkte des modernen Lebensgefühls – und immer wieder auf die große Angst, das verborgene Leitmotiv der Zivilisation: Angst vor der Katastrophe, Angst vor der Langeweile, Angst vor der Angst.« – Gunter Groll
Es war der allerbeste unter den vielen guten Tipps, die mir Rainer Gansera in meinem Leben gegeben hat, damals als wir noch befreundet waren: »Du musst Gunter Groll lesen!« Er sei der Ziehvater und Lehrer von Ponkie gewesen, meinte Rainer – und das allein wäre ja schon Empfehlung genug, um sich mit diesem Autor zu beschäftigen.
»Magie des Films« heißt eines seiner Bücher mit gesammelten Filmtexten, erschienen 1953 im Süddeutschen Verlag. Ich habe es mir diesmal eingepackt.
Gunter Groll schrieb in der Ruinenlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Und vielleicht gibt es bei allen auf der Hand liegenden Unterschieden – Auschwitz, Hiroshima – wirklich ein paar atmosphärische Nähen zu der inneren, geistigen (?) Ruinenlandschaft, in der wir gerade leben. Jedenfalls erscheinen mir manche seiner Gedanken und Herangehensweisen enorm zeitgemäß.
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Die Magie beschwor auch Jodie Foster. Mit 13 Jahren war sie zum ersten Mal da, als sie in Martin Scorseses Taxi Driver eine Hauptrolle spielte, und mit dem Film gleich die Goldene Palme gewann. 45 Jahre später ist sie wieder zurück an der Croisette und wurde gestern bei der Eröffnungsgala mit einer Ehrenpalme für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Sie nutzte die Gelegenheit für eine Liebeserklärung ans Kino: »Ich will mich vor allem erneut von Kino inspirieren lassen. Diese Energie lässt uns alle die Magie der Bilder und die Authentizität von Gefühlen wiederentdecken. Die Erschütterung, die Provokation. Genau das erleben wir gerade. Und dafür ist das Kino da.«
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Annette von Leos Carax ist ein hervorragender Film zur Eröffnung des diesjährigen Festivals gewesen. Gerade deswegen weil er das Publikum gespalten zurückgelassen hat, weil er unharmonische Zeiten und ambivalente Situationen nicht mit einer Harmonie-Sauce zugießt. Wie sollte man denn ein Festival, das dem Autorenfilm, also dem Sperrigen, Provokativen, Subjektiven, Persönlichen gewidmet ist, anders eröffnen als durch einen Film, der genau diesen Vorgaben entspricht?
Es gibt Leute, die den Film sehr mögen, es gibt aber auch mindestens genauso viele, die genervt waren, und einige, die das Kino noch während der Vorstellung verlassen haben – was bei einem Eröffnungsfilm schon eher ungewöhnlich ist.
Aber Regisseur Leos Carax ist gar nicht jedermanns Sache, schon weil er sich für viele Sachen zu viel Zeit lässt. Er lässt auch sein Künstler-Ego und sein Autorenfilmer-Image zu sehr 'raushängen; zu deutlich will er nicht allen gefallen und schert sich nicht um die Meinung Dritter. Manchen wie mir ist das eher sympathisch – besser als die vielen Schleimer und Schönredner – andere stößt er genau darum ab. Aber darum war die Wahl seines Films auch zur Eröffnung hervorragend. Während der normalen Wettbewerbstage wäre dieser Film ohne Frage untergegangen.
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Annette ist Unterhaltungskino, wenn man so will, weil sich der Film vieler Motive und Referenzen an die Film-Unterhaltung bedient, es ist aber zugleich ein klassischer Autorenfilm. Aber eine sehr besondere Form von Unterhaltungskino.
Die Hauptrollen spielen eine Diva aus Frankreich – Marion Cotillard – und ein Star des jungen, auch unabhängigeren Hollywood-Kinos, der in einer Streaming-Serie bekannt wurde: Adam Driver.
Mit anderen Worten: Eine Feier genau der Mélange zwischen Hollywood und dem europäischen Autorenfilm, für die Cannes seit jeher steht.
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Kein Cannes ohne Adam Driver, muss man glauben. Erst bei der letzten Eröffnung, 2019 spielte Driver eine Hauptrolle.
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Das Plakat zeigt diesmal – und das ist eine höchst ungewöhnliche Entscheidung – den Jury-Präsidenten: Spike Lee. Man sieht nur die obere Hälfte seines Gesichts, gewissermaßen das, was die Maske nicht verbirgt, vielleicht weil der andere Teil unter einer Maske stecken soll.
Er blickt nach oben, optimistisch und ironisch, wenn man so will. Zum anderen ist das Plakat in Schwarz-Weiß gehalten. Das ist nicht nur eine Referenz ans klassische Kino, sondern man sieht hier
auch die Palmen, die verkannt stehen, und ein paar Krähen, die über den Palmen kreisen. Wenn man so will Todesvögel, Unglücksvögel.
Melancholie und Ironie verbinden sich in dem Bild perfekt.
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Insofern kann man das Plakat in verschiedene Richtungen lesen und interpretieren; in der ganzen Ambivalenz unserer Lage: Wir haben wieder andere Themen, wir können wieder die alten Cannes-Debatten über Streaming-Dienste und Kino führen, und müssen nicht dauernd über Masken, Hygiene und Inzidenz-Werte sprechen.
Und zugleich ist ganz klar: Die 74. Ausgabe der Filmfestspiele ist keine ganz normale. Und das nicht nur, weil sie im Juli stattfindet.
Statt 40.000 Gästen gibt es nur etwa 22.000. Cannes wirkt leer, der Markt in manchen Teilen des Palais geradezu ausgestorben.
Der Pandemie entgeht man nicht. Sie folgt einem auf Schritt und Tritt.
Alle 48 Stunden muss ein neuer PCR-Test erstellt werden. Für Festivalgäste kostenlos. Ich denke hier schon jetzt im 2-Tage-Rhythmus: ein Tag Test-Stress, dann einen Tag große Freiheit.
Genau gesagt ist es kein 2-Tages-Rhythmus, sondern ein Eineinhalb-Tages-Rhythmus, denn man sollte die sechs Stunden Wartezeit einkalkulieren, die es bis zum Testergebnis braucht. Heute PCR-Test um 12:10 Uhr, das heißt, dass ich morgen einen Test machen muss, damit ich am Freitag um 12:10 Uhr einen
neuen gültigen habe.
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Das Festival muss offenkundig sparen. HP ist als Sponsor weggefallen. Im Presseraum gibt es keine Computer. Nicht für mich, aber für manche Kollegen ist das eine Belastung.
Es gibt keine Pressefächer. Hygiene ist der Vorwand, Aufwand und Geld wohl eher der Grund. Pressematerial muss man bei Agenturen und im Netz besorgen.
Es gibt keine kostenlosen Kataloge dieses Jahr. Sondern nur welche für 20 Euro zu kaufen. Hoffentlich bleibt das die Ausnahme, wird nicht »neue Normalität«, ein Begriff, der schon jetzt ein Schreckenswort geworden ist, so wie vor Jahren »Rationalisierung« und »Reform«.
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Es wird von den Qualitätsmedien, die wir nicht mehr so oft als Mainstreammedien bezeichnen sollen, in Deutschland oft falsch berichtet: Im Selbstverständnis von Cannes ist das letzte Jahr nämlich nicht »ausgefallen«. In der chronologischen Zählung der Festival-Jahrgänge gibt es auch das 73. Jahr. 2019 war das 72., 2021 ist das 74. Festival.
Cannes hat 2020 eine Liste veröffentlicht von 50 Filmen, die sie normalerweise gezeigt hätten. Darunter auch ein deutscher Film: Enfant Terrible von Oskar Roehler – sehr schade für diesen wunderbaren und ungewöhnlichen Regisseur, dass ihm und seinem Film dieser Triumph nicht vergönnt war.
Cannes betont die Kontinuität: Wir unterstützen das Kino und unsere Filmemacher. Gleichzeitig tun wir nicht so, als könnte man ein Festival auch im Internet in irgendeiner Form stattfinden lassen.
Alle Festivals, große wie kleine, hatten sich ins virtuelle Dasein verlegt. Aber das ist nicht das Kino, wollte Cannes signalisieren. Virtuell haben wir Streaming-Dienste, die uns alle ermüden, und von denen wir im letzten Jahr gemerkt haben, dass es doch weder ein Gemeinschaftserlebnis ist, noch dass man die Filme so gut sehen kann, und dass wir dort auch keine Vielfalt geboten bekommen, sondern vor allem amerikanischen Einheitsbrei.
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»Viren sind Zombies«, schreibt der Münchner Soziologe Armin Nassehi im Editorial zum neuen Kursbuch über »Impfstoffe«: »Sie sind keine Lebewesen, sie sind weder lebendig noch tot und doch organisches Material, ohne das es kein Leben geben könnte.«
Letztes Mal war das »Zombie Cannes«. Sechs oder sieben Filme mit Zombie-Thematik. Und diesmal?
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Allen Freunden der klassenlosen Gesellschaft müsste das diesjährige Cannes-Festival gefallen. Denn im Unterschied zu dem üblichen Klassensystem unter den Akkreditierungen, nach denen die Journalisten in jene, die nützlich und verlässlich berichten, im Vergleich zu jenen, die das weniger tun oder die ein mitunter parasitäres Verhalten an den Tag legen oder dem Festival einfach egal sind, unterschieden werden, gibt es in diesem Jahr keine erkennbaren Privilegien für die »besseren« Akkreditierungsklassen. Mal sehen, vielleicht erkenne ich ja noch welche.
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Vor etwas mehr als zehn Jahren, im Mai 2011, ist Michael Althen gestorben. Und genau hier in Cannes haben wir damals am ersten Tag von seinem viel zu frühen Tod erfahren. Einer seiner Weggefährten aus den alten Zeiten im Münchner Filmmuseum der 80er Jahre war Hans Schifferle; und auch er ist viel zu früh in diesem Jahr verstorben.
Hans gehörte zu dieser Gruppe von jungen Wilden, die Peter Buchka Ende der 80er, Anfang der 90er zur SZ holte, und von denen bis heute der Ruf der SZ in Sachen Film zehrt.
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Trotz all solcher melancholischen Auftaktgedanken erreicht uns auch noch eine schöne Nachricht aus der alten Heimat in München: 25 Jahre alt ist Crew United geworden, das Münchner Branchennetzwerk, das längst viel mehr ist als eben so ein schlichtes Branchennetzwerk. Und noch viel werden wird. Wir gratulieren! Und freuen uns auf die nächsten 25 Jahre.
Aber jetzt erstmal auf den Neustart in Cannes, im Jahre Null der Pandemie.