Touch Me Not

RO/D/F/CZ/BG 2018 · 129 min. · FSK: ab 16
Regie: Adina Pintilie
Drehbuch:
Kamera: George Chiper-Lillemark
Schnitt: Adina Pintilie
Befreites Tanzen

Berührt mich nicht

Touch Me Not, der Gewin­n­er­film der dies­jäh­rigen Berlinale, ist vieles nicht. Er ist kein rumä­ni­scher Film, auch wenn seine Regis­seurin Adina Pintilie aus Rumänien stammt. Der Film ist vielmehr ein klas­si­scher Fall von »Euro­pud­ding«: mehrere europäi­sche Länder, Rumänien, Deutsch­land, Tsche­chien, Bulgarien und Frank­reich, kofi­nan­zierten das Projekt. Gedreht wurde in Berlin, Film­sprache ist ein neutrales Englisch. Allein die Regis­seurin, die in ihrem eigenen Film eine Rolle innehat, spricht mit osteu­ropäi­schem Akzent. Touch Me Not ist kein Doku­men­tar­film und auch kein Expe­ri­men­tar­film, zumindest nicht, was seine filmische Gestal­tung betrifft. Ihm zugrunde liegt aber eine von der Regis­seurin initi­ierte Versuchs­an­ord­nung, das Expe­ri­ment einer Berüh­rungs-Grup­pen­the­rapie zwischen Behin­derten und Nicht­be­hin­derten, auf dessen Basis das Skript für den Film entstand. Die Haupt­rollen werden von Schau­spie­lern gespielt, die als Trigger für die Thesen des Expe­ri­ments fungieren. Laura Benson, eine in Frank­reich lebende Britin (unter anderem bei Stephen Frears Gefähr­liche Lieb­schaften und Alain Resnais' I Want to Go Home), spielt die verklemmte Laura, die sich Callboys und eine Trans­gender-Sexar­bei­terin ins Haus holt, um ihre Sexua­lität zu befreien; der Isländer Tómas Lemarquis (Blade Runner 2049, X-Men: Apoca­lypse und Snow­piercer) geht auf Haut­kon­takt mit einem Behin­derten.

Laura Benson und Tómas Lemarquis geben ihreren Figuren ihren Klarnamen. Eine bewährte Strategie, um die Illusion des Doku­men­ta­ri­schen hervor­zu­bringen und den Zuschauer auf das narrative Möbi­us­band zu locken, auf dem beides glei­cher­maßen existiert: das Gespielte und das Wahre. Den Rest des Casts bilden Laien­dar­steller. Christian Bayerlein, Infor­ma­tiker und ehema­liger Behin­der­ten­be­auf­tragter der Stadt Koblenz, spielt den Main-Act der Thera­pie­gruppe. Beyerlein ist außerdem beken­nender Sex-Aktivist; in seinem Blog »kissa­bi­lity« geht es ihm um das Thema »Sex und Behin­de­rung«. Tómas stellt sich dem Kontakt mit Bayerlein, berührt seinen von spinaler Muskela­tro­phie gezeich­neten Körper und strei­chelt sein spei­chel­nasses Gesicht, aus dem verfault die Schnei­de­zähne heraus­ragen.

Weitere zentrale Figur des Films ist die* Trans­gender-Sexar­bei­terin* Hanna Hoffmann, die* auch im wirk­li­chen Leben Workshop-erfahren ist. Sie* darf Kata­ly­sator sein für die verküm­merte Sexua­lität von Laura, die sich nicht berühren lassen kann und sich deshalb aufs Zusehen verlegt. Ihre unver­blümte, offene Art, in der sie sich auf Lauras Wohn­zim­mer­couch räkelt und über ihre beiden namhaften Brüste »Gusti« und »Lilo« spricht, ist einer der wenigen befrei­enden Momente in diesem ansonsten verklemmten, zäh-didak­ti­schen Film.

In Pintilies Film geht es, klar, um den Tabubruch, um die Heraus­for­de­rung des Zuschauers durch unbe­hag­liche Szenen. Die Abstoßung (Beyerlein), aber auch die Neugier (Hoffmann) sind die drama­tur­gi­schen Antriebs­kräfte des Films und werden immer wieder explizit gemacht. Hanna zeigt uns, wie sie* ihren Schwanz zwischen den Beinen versteckt, Beyerlein benennt den Ekel, den Tómas beim Berühren seines feuchten Gesichts empfindet, und fängt das negative Gefühl wieder ein. »Das ist okay für mich«, sagt Christian. »I enjoy the feedback.«

Dieser ausge­buffte Therapie-Sprech ist dann auch schon neben der über­kon­trol­lierten Insze­nie­rung dieses angeb­li­chen semi-fiktio­nalen Hybrids das größte Problem. Abgründe, Verwer­fungen, aus denen drama­tur­gi­sche Spannung erwachsen könnte, vermeidet die Regis­seurin tunlichst. Den Emotionen liegt ein Deckel auf, der sie erst gar nicht hoch­ko­chen lässt. Hier entsteht nie betroffen-pein­li­ches Schweigen, zu keinem Zeitpunkt droht Entglei­sung.

Wenn ein Film konstru­iert ist, kann ihm dies kaum zum Vorwurf gemacht werden. Auch im doku­men­ta­ri­schen Bereich kann wohl­wol­lend regis­triert werden, wenn Gestal­tung und Stilwille überhand nehmen. Die Plot-Konstruk­tionen von Touch Me Not sind jedoch einfallslos und durch­schaubar. Lahm ist es, auf den Berüh­rungs­work­shop kurzer­hand eine als Sodom und Gomorra designte Swin­ger­club-Szene folgen zu lassen. Nervig ist die Stalker-Geschichte um Tómas, der seiner andro­gynen Ex-Freundin nach­stellt. Ja, wir verstehen durchaus: Er vermisst sie, wie uns eine durchaus beacht­liche Close-up-Kame­ra­fahrt zeigt, in der seine Hautporen in ihre übergehen, die Körper mitein­ander physio­gno­misch verschmelzen. Ist das jetzt schon Kamera-Sex?

Sehnsucht insze­niert Pintilie im Fetisch: Die Berüh­rungs­pho­bi­kerin Laura schnüf­felt am Laken, auf dem noch ein Callboy mastur­biert hat; Tómas schlürft aus der Teetasse, aus der gerade seine Ex-Freundin getrunken hat, die Flüs­sig­keits­reste mit dem dazu­gehö­rigen Speichel. Dieser hatte auch bei ihrem Sex eine gewisse Rolle gespielt, wie wir in der Rück­blende erzählt bekommen. Speichel steht stell­ver­tre­tend für eine andere wichtige Flüs­sig­keit beim Sex. Außerdem lässt er sich so schön mit dem Sabber von Christian verbinden, und illus­triert damit eine der Botschaften des Films: Es gibt nichts Eindeu­tiges, alles hat seine Schat­tie­rungen, das Gute, das Schlechte, das Schöne, das Hässliche.

Dies alles kann nur funk­tio­nieren, weil der Zuschauer selbst zum Komplizen des Films wird. Denn wären wir abgeklärt und von Hause aus tolerant, würde der Film in sich zusam­men­fallen, seine Botschaften verpuffen. So hat der Film uns aber, ha!, erwischt und schickt uns in eine speku­la­tive Thera­pie­sit­zung.

Übrig bleibt didak­ti­sches Kino. Die Insze­nie­rung, die Ausleuch­tung, die Farb­dra­ma­turgie, auch das neutrale Englisch sind Teil einer aufklä­re­ri­schen Strategie, mit der sich die Regis­seurin als Kontroll­freak ausweist. Die Räume sind in asep­ti­sches Weiß getaucht, die Kostüme in Graublau und abwei­senden Schnitten gehalten. Alles ist auf Kälte gebürstet, gleich­zeitig mit dem Ausru­fe­zei­chen für mehr Kontakt versehen. Vor allem die Thera­pie­szenen zwischen Behin­derten und Nicht­be­hin­derten sind hoch­gradig mani­pu­lativ und eindeutig, und erinnern in Inhalt und Insze­nie­rung über weite Strecken an den Imagefilm von »Aktion Mensch«, mit dem die Orga­ni­sa­tion letztes Jahr im Kino für Kontakt­auf­nahme mit Behin­derten warb.

Adina Pinitilie erteilt der größten Stärke des Kinos eine Absage: uns ins Zwischen­reich unserer Ängste, Träume und Alpträume zu entführen, uns mit uns selbst und unserem Unbe­wussten allein zu lassen und wider­sprüch­liche Gefühle im Durchgang der Erzäh­lungen selbst zu verhan­deln, in einem kathar­ti­schen Erleben. Tod Browning konfron­tierte uns 1932 in Freaks mit dem Unper­fekten, Unvoll­s­tän­digen, Abstoßenden des mensch­li­chen Körpers und schickte uns in das horro­ri­fi­zie­rende Zwischen­reich unserer Urängste. Touch Me Not hingegen demen­tiert die negativen Gefühle, kaum, dass sie entstehen, weist sie als unbedingt thera­pie­fähig aus und lässt sie kine­ma­to­gra­phisch veröden. Auch gibt es andere expe­ri­men­telle Film­pro­jekte über den befreiten Köper, die ganz ohne die Botschaft an den Zuschauer auskommen. Das Cinéma du Corps, das Körper­kino von Philippe Gran­d­rieux ist so ein Beispiel für gelun­genes, in seiner Radi­ka­lität oft auch kontro­vers disku­tiertes Entgren­zungs­kino, in dem die Körper der Laien­dar­steller in Extrem­si­tua­tionen gebracht werden und der Exzess die Leinwand überzieht.

Touch Me Not hingegen steht für eine Bewegt­bild­an­ord­nung, die die Magie der narra­tiven Zwischen­räume und Unein­deu­tig­keiten verab­schiedet; das Einsatz­ge­biet des Films sollten weitere Workshops sein, nicht die uner­gründ­liche Black Box des Kinos.