Deutschland 2014 · 104 min. · FSK: ab 0 Regie: Stanislaw Mucha Drehbuch: Stanislaw Mucha Kamera: Andrzej Król Schnitt: Hanka Knipper |
||
Georgischer Muskelmann |
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Oma regelmäßig ihren Globus hervorholte und mit ihrem Finger über die Landkarten fuhr. »Mit dem Finger verreisen«, nannte sie das und blickte dabei sehnsüchtig auf die Länder, die sie nicht mehr sehen sollte.
Hätte Stanislaw Mucha damals schon Filme gemacht, hätte er sie mit seinen Filmbildern mit auf die Reise nehmen können – denn das kann er bravourös. Mucha kommt ursprünglich aus Polen und unternimmt seit Jahrzehnten von seinem Wohnort Berlin aus dokumentarische Ausflüge in die Welt, die seine Herkunft bedeutet. Dies ist nicht zwingend nur geographisch zu verstehen. Auch im Universum der Berliner Pfandleiher (Die Pfandleiher, 2012), im Mythos von Dracula (Die Wahrheit über Dracula, 2010) oder während einer abenteuerlich frei interpretierten Spurensuche nach Andy Warhol (Absolut Warhola, 2001) konnte Mucha die gewisse sympathische Schlitzohrigkeit entdecken, die ihn als Osteuropäer mit den »Schlawinern« verbindet. Nennen wir dies den Mucha-Touch.
Einer seiner Filme, Zigeuner (2007), führt ihn zu den – Zigeunern. Ja, Zigeunern. Denn wenn man Mucha und seinen Protagonisten glauben darf, dann wollen Sinti und Roma genau so heißen. »Wie wollt ihr genannt werden?«, fragt Mucha im Film junge Repräsentanten des fahrenden Volks. »Zigeuner!«, rufen sie einstimmig.
Mucha hat dann vor Publikum, es war auf dem Münchner Dokfest, unumwunden zugegeben, dass er den Jungs ein paar Scheine zugesteckt hatte, damit diese klarstellen, was Sache ist. Schlawinerei im Dokumentarfilm? Ist das noch seriös?
Sicherlich sind die Filme Muchas nichts für selbstberufene Dokumentarfilmpuristen, die immer noch glauben (machen) wollen, Dokumentarfilme hätten etwas mit »Wahrheit« zu tun. Die Mucha-Filme aber sind unbedingt für all jene etwas, die »sogar im Dokumantarfilm« mal lachen wollen, die das Leben und die Welt zwar ernst, aber nicht schwer nehmen, und die einen großen Spaß daran finden können, der Schlitzohrigkeit bei der Arbeit zuzusehen. Und wer mit großem Fernweh in die Seele der osteuropäischen Völker eintauchen will, kann dies jetzt in Muchas neuem Film tun.
Tristia – Eine Schwarzmeer-Odyssee portraitiert in zärtlicher Liebkosung die Menschen entlang der Schwarzmeerküste. Es offenbaren sich ihre skurillen Eigenheiten und extravaganten Träume, ihre unerschrockene Bodenständigkeit und naive Erotik. Der Film ist eine Umrundung des Schwarzen Meers, durch sieben Länder und zwei Kontinente hindurch. »Sollen wir rechtsrum oder linksrum fahren?«, bittet Mucha zu Beginn des Films zwei im Schwarzmeer Badende um Rat. Beginnt in Odessa, sagen sie, fahrt dann weiter über Jewpatorija auf der Krim, und dann geht es so weiter, ohne dass ihr im Sumpf stecken bleibt.
Die Reise führt zunächst nach Owidiopol, einer Siedlung nahe Odessa, wohin der römische Dichter Ovid (von den Bewohnern unbeirrt als »griechischer Dichter« tituliert) von Kaiser Augustus ins Exil geschickt worden war. »Er wurde verbannt wegen seiner unkorrekten Gedichte… Sie verstehen schon«, sagen die Menschen aus Owidiopol. »Nein«, fordert Mucha sie heraus. »Na, Sex, Liebe!« – Das sagt dann schon alles. Ovid war bis zu seinem Tod ans Schwarze Meer verbannt. Hier schrieb er eines seiner zentralen Werke, »Tristia«, die »Gedichte der Trübsal« über das Leben eines an das Ende der Welt geschickten Dichters. Allein dass Mucha dies als Titel seines Filmes gewählt hat, sagt viel aus. Denn letztlich ist seine Reise, in der er die Menschen, wie er es selbst beschreibt, »wie auf einer Perlenkette« rund ums Schwarze Meer reiht, eine Umrundung des Binnenmeers, die ihn zu den ernsten Themen von Krieg, Migration und Feindschaft führt, andererseits aber auch zu den vielen Liedern, den Tänzen, der Liebe. Die Begegnungen laufen dabei im unverwechselbaren Mucha-Stil ab, dialogisch, wo er aus der Position der Kamera heraus eine Frage in den gefilmten Raum wirft. Oder er bittet die Menschen, irgendetwas von sich zu zeigen, ein Lied für die Kamera zum Besten zu geben, einen Tanz aufzuführen, scheut also auch nicht die Inszenierung. Er stellt ihnen bisweilen auch nur eine einfache Frage, wie etwa auf einem Flohmarkt in der Ukraine, ob es hier Kalaschnikows zu kaufen gäbe. »Wollen Sie die mit oder ohne Lizenz?«, heißt die prompte Antwort.
»Das Schwarze Meer ist schön, ich mag es«, sagt eine Bäuerin in der Türkei, während sie Teeblätter erntet. Mucha wirft ein, dass es hier doch aber auch viel Prostitution gäbe. »So was machen doch keine türkischen, nur russische Frauen. Überall diese Nataschas!« Mucha weiter: »Am Schwarzen Meer sollen die Frauen das Sagen haben…« – »Genau. Wir beschimpfen die Männer. Die Frauen sammeln Tee, und die Männer verspielen das Geld in den Kaffeehäusern.« Indem er nicht locker lässt, unverhohlen Themen anspricht, gelangt Mucha zu einer tieferen Wahrheit über das Leben an der Schwarzmeerküste, die ein unschlawinerhafter »Wahrheits«-Regisseur wohl nur schwerlich eingefangen hätte. Mucha spielt dabei immer auch mit den Klischees: Am Strand begegnetet er nuttenhaft bekleideten Masseurinnen, die die üppigen Körper der Badegäste durchwalken, während sie selbst geradewegs vom »Miss Silikon«-Wettbewerb zu kommen scheinen. Seine Haltung dahinter macht jedoch derartige Bilder im guten Sinne so ungefährlich: Anders als bei einem Ulrich Seidl schwingt bei Mucha immer eine große, umarmende Liebe den Menschen gegenüber mit, die er auch dann umgarnt und toll finden kann, wenn sie schrecklich peinlich sind.
Dazwischen lässt Mucha immer auch die freie Poesie zu: Wenn an einem Steg das Meer seine Wellen auf das Land wirft, dann zeigt er die überwältigende Natur noch ein zweites Mal, in Zeitlupe. Das ist wunderschön.
Das sind dann die Momente, in denen Tristia auch viel Melancholie und Fernweh in sich trägt. Wo man zu seufzen beginnt, und das Herz einem gleichzeitig schwer und leicht wird: Mucha hat einen Film gemacht für unsere unglaubliche Sehnsucht nach dem geballten Leben.