USA 2012 · 142 min. · FSK: ab 12 Regie: Gary Ross Drehbuch: Gary Ross, Suzanne Collins, Billy Ray Kamera: Tom Stern Darsteller: Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Liam Hemsworth, Woody Harrelson, Elizabe u.a. |
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Die Leni-Riefenstahl-Casting-Show |
In grauen Hemden oder weißen Kleidern stehen sie dort unten eingepfercht. Der ganze Marktplatz ist ein Ort ohne Farbe. Die Kinder tragen das Beste am Leibe, das sie haben. Und zwei von ihnen werden heute zum Tode verurteilt.
Suzanne Collins hat in ihrer Bestseller-Trilogie »Die Tribute von Panem«, die allein in den USA über 24 Millionen Bücher verkaufte, ein voyeuristisches Spektakel erdacht, einen modernen Gladiatorenkampf, der zur Belustigung und Erregung eines rettungslos in der Dekadenz versunkenen Publikums gegeben wird. Aus den Ruinen Nordamerikas hat sich Panem erhoben, ein Staat, in dem das übermächtige Kapitol die 12 Randbezirke nicht nur ökonomisch ausbluten lässt: Als Erinnerung an einen Aufstand muss alljährlich jeder der Bezirke zwei Teilnehmer zwischen 12 und 18, einen Jungen und ein Mädchen, in die Arena schicken, die nur einer der sogenannten »Tribute« lebendig verlassen wird.
Die Verfilmung des ersten Bandes hat Gary Ross übernommen, und er weiß sehr genau, dass es die grelle Obszönitat des geraubten Luxus am besten entlarvt, wenn man sie durchaus plakativ dem bitteren Elend gegenüberstellt. Diese Stärke der Vorlage unterstreicht seine Inszenierung eindrucksvoll – und sie schließt sich ebenso deren Tendenz an, ein gekonntes Spiel mit den Phantasien und Phantomen zu treiben, die gerade jetzt so durch unsere Popkultur geistern.
So geht der Szene, in der die Tribute ausgelost werden, eine Registrierung voraus, die man als Selektion bezeichnen muss. Dann die Aufstellung auf dem schmucklosen Marktplatz, auch sie ist angelehnt an die Bilder, die die Filmbranche sich von Konzentrationslagern macht und gemacht hat. Diese Analogien aber treibt Ross nicht so weit, dass sie geschmacklos schienen. Die gespenstische Stille, in der diese Massenveranstaltung abläuft, beklemmt. Die Hektik der Handkamera, die durch die scheinbar so ordentliche, noch nicht ganz militärische Aufstellung der Teenager irrt, prallt auf die schablonenhaften Bilder eines Propagandafilms, den man den Jugendlichen zeigt und in dem manche Einstellung direkt aus Leni Riefenstahls Olympia entnommen ist. Keine Frage, Ross weiß um die verlogene Ästhetik der Stärke.
Mit einem differenzierten Geschichtsbewusstsein hat dies freilich wenig zu tun, mit der Vergangenheit geht der Film manchmal so um wie die Menschen im Kapitol: Dessen Architektur erinnert an das Modell eines Las Vegas des Neoklassizismus, in das einem Dreijährigen versehentlich sein Spielzeug-Laserschwert gefallen ist. Die Menschen dort heißen Coriolanus, Seneca, Claudius und für alle, die es bis dahin noch nicht begriffen haben, gibt es auch einen Caesar. In diese grellbunte Hölle der Geschmacklosigkeit werden aus Distrikt 12 die findige Jägerin Katniss (Jennifer Lawrence), die als Freiwillige ihre bereits aus dem Los-Topf gezogene kleine Schwester gerettet hat, und der schüchterne Bäckerssohn Peeta (Josh Hutcherson) gebracht.
Zu den erzählerischen Kniffen von Collins' Romanen gehört es, eine unvermeidliche Liebesgeschichte als notwendige Überlebensstrategie in die Geschichte hineinzuschmuggeln: So gewinnt man in der medialen Welt von Panem Zuschauer, die Zuneigung der Öffentlichkeit, womöglich potente Sponsoren, die einem Nahrung oder Medizin in die Arena schicken. Und, na klar, so verkauft man auch Bücher.
Diese Geschäftstüchtigkeit gehört quasi zur DNA der Filmbranche, und Ross' Umgang mit dem äußerst brutalen Geschehen während der Mordspiele ist von sichtlich großer Vorsicht geprägt und dennoch eindrucksvoll anzusehen. Das Schlachten ist ein wirres Traumspiel, ein langer delirierender Schock, der einem die Ohren verschließt und ganz ohne spekulative Bildeffekte auskommt. Katniss und Peeta werden schnell getrennt, und während, immer wieder von Phasen des Rastens und des Atemholens unterbrochen, die Jugendlichen einander der Reihe nach zum Opfer fallen, schleicht sich eine lähmende Routine in den Film, die ihn anfällig macht für Kitsch und Melodramatik.
Dabei ist die ständige Unsicherheit und der nicht enden wollende Todeskampf doch das Programm der Spiele. Ein Spielleiter, den Wes Bentley mit trügerischer Sanftheit und manchmal geradezu arroganter Entspannung gibt, ist eigens dafür eingesetzt, die Tribute am Rennen zu halten. In einer hochmodernen, sterilen Kommandozentrale entwickelt er mit seinem Team die nächste Grausamkeit, und draußen, im Dreck, im Blut, im Feuer, werden seine Knopfdrücke zur lebensgefährlichen Wirklichkeit. Dabei wird an manchen Stellen sehr zielgenau auf das Reality-TV und die Casting-Shows der Gegenwart abgefeuert. Die bewusst gesetzten Kontraste geben dem Film eine Tiefe, die den Stoff in seiner audiovisuellen Umsetzung eindeutig bereichert.
Vorspeise
Sie ist 12. Und hat eben faktisch ihr Todesurteil erhalten. Eben noch hatte sie fast panische Angst davor, nur in den Finger gepiekst zu werden, zum DNA-Identitäts-Check. Und jetzt wurde ihr Los gezogen. Ihr Name ausgerufen. Obwohl sie zum ersten Mal dabei ist, ihr Name nur einmal in der Trommel war. Sie kennt, begreift die Rituale noch gar nicht, weiß nicht, wie ihr geschieht, was man von ihr erwartet. Sie weiß nur: Sie muss jetzt für ihren Distrikt in die
Todesarena. Und nun erstmal auf die Bühne, vor die Kamera, vor die Augen aller. Und eine Rolle spielen.
Sie geht los. Und macht, was man als kleines Mädchen macht, wenn man sich nicht blamieren will. Sie stopft ihre Bluse hinten anständig in den Rock. Bevor sie quasi aufs Schaffott steigt.
Es ist ein Detail – eine winzige Geste nur, aber so vielsagend und wahr als Einblick in das, was in ihr, was hier vorgeht.
Dieser Film einen Blick, ein Gespür dafür. Drum sind Edelmann und
Willmann sich einig: Prädikat wertvoll!
1. Zwischengang
»Happy Hunger Games!«
Unermüdlich rufen die Organisatoren der Mordsspiele diesen scheinbar harmlosen Wunsch dem Volk zu. Den potentiellen Opfern wird auf der extra eingeflogenen Leinwand stolz ein Propagandakurzfilm vorgeführt, dreist plagiiert von Triumph des Willens. Die militärischen Ordnungshüter sind in freundliches, helles weiß gekleidet, im
krassen Kontrast zu dem bunten Modediktat im Capitol selbst. Es sind »Heitere Spiele«: Die wirkungsvolle Medizin schmeckt bitter, aber man hüllt sie in bunte Dragées.
Hauptgericht
Schluss mit dem gewohnten Leben. Weg von Heim, Heimat, Elternhaus. Rein in die befremdliche Welt der Großstadt, in die ungewisse Zukunft. Der eigenen Fähigkeiten noch unsicher, und ob die individuellen Qualifikationen zum Erfolg reichen. Hilfestellung alleine geboten von einem desillusionierten Mentor, der auch nicht an seine Schützlinge glaubt. Umgeben von karriereorientierten Konkurrenten, die besser ausgebildet, besser vorbereitet, ruchloser
sind. Oder noch ärmeren Schweinen, mit denen man keine Solidarität zeigen darf.
Mit anderen Worten: Ein Film über den Eintritt ins Berufsleben.
You have to play the game to stay in the game.
Genereller aber noch: Ein Film über die Teenagerzeit. Über den Abschied von den zurechtgelegten Idealen. Über das Ausgeliefertsein an Erwartungen, Konventionen, Traditionen. Über eine Zeit der Verwirrung – in der einem aber Entscheidungen über Leben und Tod abgefordert werden. (Der Blick der Kamera versucht, die konfusen Empfindungen der Protagonistin in Bildern widerzuspiegeln, ist nicht auf das Spektakel des Geschehens aus, sondern auf dessen emotionalen
Gehalt.)
Und ausnahmsweise ist das Ziel der Selbst-, der Identitätsfindung nicht einfach die Selbstaufgabe in der Paarfindung. (Wie bei »Memory« – Anm. d. Red.) Im Gegenteil: Am Ende wird die Gier des Publikums nach einer Romanze als Endzweck gerade vorgeführt als zu erfüllendes Klischee. Nur wer seine wahren Motive verleugnet, um es zu bedienen, dem wird ein Platz, eine Rolle zugestanden.
2. Zwischengang
Ja, freilich: Schon auch ein Film über Politik. Die (amerikanische) Angst vor einer diktatorischen Bundesregierung; die Dekadenz der auf Kosten der ausgebeuteten Arbeit lebenden 1%; Mediales Opium fürs Volk; die schmale Hoffnung auf den Sieg als Schein-Bestätigung für das Funktionieren des (kapitalistischen) Systems; etc.
Aber: Diese Themen sind präsent, doch sie bieten nur die Kulisse. Sie sind nicht die Geschichte. Sie machen das Geschehen
heutiger, lassen mehr mitschwingen. Sie geben Diskussionsstoff. Der Film reißt sie an, ohne Thesen dazu anzubieten.
Das wird sich ändern, in Teil 3, wenn es sich entwickelt wie in den Romanvorlagen. Vorerst ist es mehr ein Film über Schicksalsergebenheit.
Dessert
Eichhörnchen am Spieß. »Schon wieder,« denkt sich Jennifer Lawrence.
Was schon in Winter’s Bone als kulinaischer Beweis für die Härte der Zeiten diente, macht uns nun aber doch neugierig, wie der possierliche Nager wohl schmecken mag. Unser Titel trügt: Willmann glaubt »Wie Hühnchen«, Edelmann meint »Wie Schneeleopard«. Erfahrungsberichte und Rezeptvorschläge an:
film@artechock.de