Deutschland 2014-16 · 83 min. Regie: Dagmar Wagner Drehbuch: Dagmar Wagner Kamera: Thomas Beckmann Schnitt: Frank Schönfelder |
![]() |
|
Übermütig über 100: Regisseurin Dagmar Wagner stößt mit Erna an |
Bald fängt das Spiel an. Auch diesmal, bei der Fifa-Klub-Weltmeisterschaft gegen Raja Casablanca, drückt sie von ihrem Zuhause in einer Seniorenresidenz am Starnberger See aus die Daumen für ihre Bayern. Bemerkungen der Sport-Experten aus dem TV? »Das Gequatsche interessiert mich nicht, mir geht es um das Spiel«, sagt Erna Rödling. Dieses Spiel, das gerade jenseits seines Limits von neunzig Zeiteinheiten oft nochmal aufregend und dramatisch wird – der perfekte Rahmen, die Frau kennenzulernen, die sich mit 104 Jahren noch immer vom Fußballfieber packen lässt.
Erna Rödling ist eine der Protagonisten des Dokumentarfilms Ü100 von Dagmar Wagner. Den Umlaut mit Dezimalzahl kennen wir als Versuch, eine Gemeinschaft zu erschaffen: »Üetwas« heißt, definitiv nicht mehr jung sein, bestenfalls Mitglied eines Clubs mit Exklusivcharakter. Darin teilen Altersgenossen – zumindest wird es von außen so suggeriert – unter anderem eine Nostalgie, eine Sehnsucht nach einem vergangenen Lebensgefühl, die zwar
nicht näher definiert, dafür aber umso besser kommerziell genutzt werden kann. Wie sonst erklärt sich die Popularität von Ü30- und Ü40-Partys?
Dem Wagner'schen »Ü« indes ist weder an Nostalgie noch an Gruppendefinierung gelegen. Für dieses hat sie sich auf den Weg gemacht zu sechs Frauen und zwei Männern, die vor mehr als hundert Jahren geboren wurden, sie zu ihrem Leben im Hier und Heute befragt, manche von ihnen in ihrem immer noch sehr lebendigen Alltag begleitet. Ein
Auswahlverfahren gab es nicht, die Senioren seien laut Wagner »streng nach Eingang« der Bewerbungen berücksichtigt worden. Das ist umso erstaunlicher, als die Porträtierten sich als grundverschiedene Persönlichkeiten, fast schon Archetypen ohne Altersbeschränkung herausstellen, von denen jeder mehr als ein merkens- und bemerkenswertes Zitat fernab von Kalendersprüchen zu mitzugeben hat. Oder wie Hella Müting, eine andere Ü-100-Jährige, sagt: »Man bleibt immer ich.«
Schnell distanziert man sich als Zuschauer von einer gönnerhaften »Ach, die Alten«-Haltung, mit der man die Welt der Vorgestellten vielleicht eingangs betreten hatte. Denn aus mehreren Gründen kommt man nicht umhin, dieses stimmig komponierte Multiporträt-Mosaik persönlich zu nehmen. Die erstaunlich klaren Antworten der Senioren auf Wagners Fragen verdeutlichen zum einen, wie komplex, wunderbar und mitunter schmerzhaft sich die Fähigkeiten Humor, Erinnern und Vergessen –
dieses magische Dreieck menschlicher Existenz – bedingen und im Alter nochmal andere Dimensionen annehmen können. So beantwortet die im Klavierspiel versunkene 102-jährige Ruja Diebold die Frage nach ihrem Alter fast schon bengelhaft-trotzig: »Das habe ich vergessen!« – Ohne Erinnerung, ohne Vergessen kein Humor, der uns gleichzeitig Erinnern und Vergessen besser ertragen lässt.
In Ü100 ist die Filmemacherin, die bereits seit vielen Jahren als
professionelle preisgekrönte Biografin mit eigenem Unternehmen tätig ist, ganz in ihrem Element: Unterstützt von der Kamera von Thomas Beckmann schafft sie, indem sie sich komplett auf die Bedürfnisse ihrer Interviewpartner einstellt, eine jeweils unverkrampft-offene Gesprächsatmosphäre, in der alles fließen und dort, wo es wehtut, auch mal ins Stocken geraten darf. Ohne Scheu, Eitelkeit und ohne die Bürde der Erwartungshaltung irgendwelcher Anderer verdeutlicht jeder der
Befragten, was »in seinem Alter« oft noch geht – ohne zu verhehlen, was nicht mehr geht.
Zum Anderen provozieren die Statements der Hochbetagten beim Zuschauer höchstpersönliche Fragen: Wer von denen werde ich wohl mal sein? Wo werde ich sein, wie wird es mir dann gehen? Hier ist die Schnittstelle von der individuellen zur gesamtgesellschaftlichen Brisanz von Ü100: Wenn die Zahl der 100-jährigen Menschen hierzulande, wie es uns die von Dagmar Wagner zitierten Statistiken vorrechnen, tatsächlich von heute 17.500 auf 180.000 im Jahr 2060 ansteigen wird, ist die Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Älterwerden alternativlos und chancenreich zugleich. Denn es bedarf vor allem neuer Ideen jenseits der Angst vor Altersarmut und Demenz. Mit ihrem Dokumentarfilm geriert sich Dagmar Wagner deshalb weder als Kassandra noch als naive »Bravo-Jopi«-Claqueurin. Dass sie ein Gespür für gelebte Gegenentwürfe mit Modellcharakter hat, bewies sie schon mit ihrem Dokumentarfilm-Erfolg Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe von 1993. Zufall oder nicht – auch damals war eine alte Bauersfrau mit Humor, Herz und starker Persönlichkeit die Protagonistin mitten in einem Mikrokosmos von Extremen. Jetzt, in Ü100, geht es Wagner um die Etablierung eines mutigen, optimistischen Umgangs mit dem Altwerden. »Es wäre wünschenswert, das Altsein einzubringen, statt mit einer heuchlerischen Kultur konform zu gehen, welche die Jugendlichkeit rühmt, während sie in Wirklichkeit junge Menschen oft vernachlässigt, abwertet und manipuliert«, ist im Presseheft zu lesen.
Diese Teilhabe aller Generationen auf Augenhöhe kann aber nur gelingen, wenn die Gesellschaft – Stichwort Inklusion – ihre Lebensbereiche an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder ausrichtet anstatt diese zu isolieren. Wie unser Leben als künftige Ü100 dann aussehen könnte, wird hoffentlich zentrales Thema lebhafter generationenübergreifender Diskussionen sein, die dieser Film mit Sicherheit anstoßen wird.