Belgien/F 2016 · 106 min. · FSK: ab 6 Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne Kamera: Alain Marcoen Darsteller: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Jérémie Renier, Louka Minnelli, Christelle Cornil u.a. |
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Engel der Armen in Lüttich |
»Wenn Du ein guter Arzt werden willst, musst du stärker sein, als Deine Gefühle...«, erklärt Jenny ihrem studentischen Praktikanten, der kaum jünger ist als sie, aber doch ein paar Stunden zuvor während einer Behandlung Schwäche zeigte. Jenny ist ohne Frage eine sehr gute Ärztin: hingebungsvoll, zugleich in ihrer Arbeit kaltblütig. Anfang 30, eben mit dem Studium fertig, bekommt sie bereits die Zusage für eine begehrte Stelle im Krankenhaus von Lüttich. Zugleich hat sie das Angebot ihres alten Lehrmeisters, eines angesehenen Arztes in einem Viertel von Seraing (wo alle Dardenne-Filme spielen), das in der Amtssprache »sozial schwach« heißt, dessen Praxis weiterzuführen. Das will sie aber nicht annehmen. Sie will Karriere machen.
»Du muss deine Gefühle kontrollieren können« – wenn solche Sätze im Kino fallen, erst recht in einem Film der Brüder Dardenne, die für ihr Parabel-Kino so berühmt wie mancherorts berüchtigt sind, dann ahnt man schon: Jenny wird ihre Lektion zu lernen haben. Sie wird die Suppe, die sie sich moralisch eingebrockt hat, bis zum bitteren Ende auslöffeln müssen – denn Gefühlskontrolle ist nicht en vogue, und vor unserem »postfaktischen« Zeitgeist, dem schnelle Emotionen wichtiger sind als kühle Argumente, bildet auch das Kino keinen Schutzraum.
Zudem geht es um eine moralische Katharsis, um eine Zuspitzung des moralischen Dilemmas einer Figur bis zu dem Punkt, an dem sich deren Verhalten grundsätzlich ändert. Jenny ist eigentlich schon eine Ärztin der Armen. Im Laufe des Films wird sie sich auch dazu bekennen, wird sie lernen, was wichtig ist. Der Weg dahin erfordert allerdings Opfer.
Genauso kommt es in Das unbekannte Mädchen, dem neuesten Werk der renommierten belgischen Brüder: Denn gerade noch diskutiert Jenny mit ihrem Praktikanten, da klingelt es an der Praxistür. »Nicht mehr öffnen!«, sagt die Ärztin, die im Stress schon einmal ihre moralische Contenance verliert, »wir haben schon seit mehr als einer Stunde Schluss.« Als der Praktikant schüchtern nachfragt, es könne doch ein Notfall sein, fährt sie ihn an: »Wenn es ein Notfall wäre, hätte es nochmal geklingelt.« Die Klingel bleibt aber still.
Am nächsten Morgen klingelt dafür die Polizei, denn unweit der Praxis wurde eine junge Frau tot aufgefunden. Es stellt sich schnell heraus, dass sie es war, die am Vorabend offenbar in den letzten Minuten ihres Lebens in Jennys Praxis geklingelt hat. Vielleicht hätte sie gerettet werden können? Sie ist das unbekannte Mädchen des Titels – nicht die vom französischen Shootingstar Adèle Haenel in der Hauptrolle in allen Facetten emotionaler Aufwühlung, in ihrem Ehrgeiz und in ihrer Hartnäckigkeit höchst eindringlich gespielte Ärztin Jenny. Oder doch?
Jenny bekommt Schuldgefühle und verliert darüber die Fassung. Als die Polizei alles vermeintlich routiniert zu den Akten legt, macht sie sich den Fall zu eigen, und ermittelt als eine Art belgische Miss Marple auf eigene Faust parallel zur Polizei. So entwickelt sich der Film in seiner zweiten Hälfte zu einer Kriminalgeschichte mit moralischen Schattierungen. Ein Drama der Schuldgefühle.
Erstmal versucht sie, die Identität der Toten herauszufinden. Dafür geht sie von Haus zu Haus, klingelt, so wie Marion Cotillard in Deux jours, une nuit dem letzten Dardennes-Film, und zeigt allen das Photo der Toten. Für einige von ihnen wird sie, wie schon für ihre Patienten, zur Beichtschwester. Sie ist für alle da, nur nicht für sich selbst. Darin, wie nett und selbstlos
diese Hauptfigur ist, wie sie sich freut, wenn es anderen gut geht, darin wie nett auch die Leute sind, wie liebenswert, wie groß die Solidarität der Klassen und der Rassen (bei der Unterschicht) ist, erkennt man eine gewisse Schönfärberei und Idealisierung der Unterschicht, die sonst nur bei Ken Loach zu finden ist.
Möglicherweise ist aber das alles, das Unpersönliche, Übermenschliche an ihr gerade der Sinn der Sache: Denn ihr Nachname ist Devin – und das klingt schon
fast wie »devine«, »göttlich«.
Jenny ist eigentlich ganz nett. Sie ist aber auch eine etwas unelegante Filmfigur, einfach suboptimal erzählt: Sie hat zum Beispiel kein Privatleben irgendeiner erkennbaren Art. Sie lebt allein. Sie zieht irgendwann in die Praxis und wohnt dort, kocht, schläft. Sie hat dafür oft einen roten Pullover an, so wie so viele Helden bei den Dardenne etwas Rotes anhaben.
Es stellt sich heraus: Die Tote war eine Schwarze, später kommt heraus, dass sie als Prostituierte arbeitete, aus Gabun stammt, mit falschem Pass einreiste, und so bringen die Dardenne, wenn auch sehr en passant, das Migrations- und Fluchtthema hinein in diesen Film.
Jean-Pierre und Luc Dardenne (Rosetta, Der Junge mit dem Fahrrad) sind zusammen mit dem Briten Ken Loach, dessen I, Daniel Blake derzeit noch im Kino läuft, die Sozialpäpste des internationalen Autorenfilms. Auch sie gewannen zweimal die Goldene Palme von Cannes, auch sie repräsentieren jenen Zweig, der für die Probleme der Gesellschaft und Fragen wohlfahrtsstaatlicher Ästhetik zuständig ist: Grau in Grau sind die Tapeten, die Straßen und die Häuser, aber auch die Aussichten der Menschen. Die Hauptfiguren haben oft einen grundguten Charakter und bescheidene Träume – es sind die Verhältnisse, von denen sie gemartert werden. Voller Anteilnahme und unbedingt gut gemeint sind diese Filme, in ihrem Humanismus und der Kritik an den herrschenden Zuständen sympathisch. Und doch könnten die Unterschiede zwischen beiden kaum größer sein.
Gegenüber Loachs politischem Manifest-Kino ist Das unbekannte Mädchen weitaus subtiler, und vor allem richtet es sich auf das Publikum selbst, auf die gebildeten und wohlhabenden Mittelschichten, die die große Mehrheit des Kinopublikums ausmachen: Die Hauptfigur ist eine Ärztin, kein Arbeiter, kein Analphabet, kein Geflüchteter aus Kriegsgebieten. Insofern kann man sich dieser Geschichte viel schwerer entziehen: Man guckt nicht von Außen etwas Fremdem
zu, sondern auf Augenhöhe einem Menschen, der, bei all seinem Idealismus, vielen von uns ähnelt. So wird man von diesem Film ganz anders von innen gepackt. Das unbekannte Mädchen handelt vom Schuldkomplex des Westens gegenüber der Dritten Welt, gegenüber den Herkunftsländern der Migranten, der Reichen gegenüber der Armen.
Ist so ein Schuldkomplex gut? Ich bin nicht sicher, aber vielleicht. Ihm zwei Stunden einfach beizuwohnen, ohne dass irgendetwas ein
wenig widersprüchlich wird, nervt allerdings.
Die Hauptfigur ist auch nicht unbedingt ein sympathischer Mensch. Klar: Adèle Haenel. Und Jenny ist Idealistin. Aber was für eine! Man kennt diese nervigen Menschen, die sich alles zueigen machen müssen, auch, wo es sie so gar nichts angeht, die sich in alles einmischen, die nicht loslassen können, selbst dann nicht, wenn man sie darum bittet. Die zugleich immer genau wissen, was gut und wichtig ist. Die selbstgerecht zu allem eine Meinung haben und deren Benehmen man allmählich als Ausdruck eines Schuldkomplexes zu verstehen lernt.
Noch wichtiger ist aber: Dies ist einfach ein guter Film. Die Dardenne sind einfach etwas zu schlau, das kann nerven, und klar: Es ist alles soo tricky, es ist soo berechnet, aber es funktioniert, und das zu sehen ist auch toll.
»Das unbekannte Mädchen«, dessen offene Fragen am Ende alle säuberlich gelöst werden, ist in mehrfachem Sinn auch ein ideologischer Film.
Ideologisch ist etwa, wie hier der Staat gezeichnet wird. Es funktioniert nämlich irgendwie alles. Die Polizisten sind nett. Und auf dem Amt... In einer Szene ruft Dr. Devin für einen armen Patienten, dem man das Gas abgedreht hat, beim Amt an. Zwei, drei Sätze und alles ist geregelt. Da muss also nur mal Frau Doktor anrufen, und schon
flutscht die Sache. Kein Call-Center, keiner fragt nach Sozialversicherungsnummern, keiner sagt, so geht das aber nicht… Einfach ein Anruf, und alles prima. Ken Loach hätte das niemals so erzählt – in puncto sozialer Realismus ist sein Film I, Daniel Blake ungleich besser, filmisch kann er allerdings nicht mithalten.
Denn wenn auch ihre Mittel höchst einfach sind, und immer wieder die gleichen, inzwischen auch sehr überraschungslos und langweilig, wissen die Dardenne doch, wie man erzählt. Wie man Spannung aufbaut, sei die Story auch noch so banal. Dies ist ohne Frage so ein typischer »Man nehme«–Film, ein Film nach Rezept. Aber das Rezept ist gut, das muss man anerkennen.
Und es bleibt eine moralische wie ästhetische Frage: Wozu das alles? Sollen wir wirklich mit einer jungen Ärztin mitleiden, die sich den Luxus eines Gewissens erlaubt? Den Luxus ihre privilegierte Position in einem Krankenhaus wegzuwerfen, um sich in einer Armenpraxis aufzureiben? Das wird sie konkret ein bisschen moralisch erleichtern, an den Verhältnissen ändert es nichts. Auch dies ist ideologisch: Dass hier eine Lösung suggeriert wird, die aus der konkreten Moral stammt.
Die Dardenne-Brüder scheinen solche Einwände uneingestanden zu spüren: Anders ist mir nicht zu erklären, dass sie gegen Ende eine dramaturgisch und ästhetisch vollkommen missglückte, weil viel zu dick aufgetragene Szene eingebaut haben, in der eine Frau, die Dr. Devin zuvor einmal getroffen und befragt hatte, in der Praxis auftaucht, und sich als die Schwester der Toten zu erkennen gibt. Die sagt dann der milde verständnisvoll blickenden Ärztin (und damit uns Zuschauern): »Because you came, I felt ashamed and made my mind up.« Mit solchen Dialogzeilen gibt der Film seinen Figuren recht, baut einen Verteidigungswall auf, weil die Regisseure die Schwäche ihrer Position spüren. Trotzdem fühlt Dr. Devin sich schuldig. Wie die Schwester. Wie der andere Patient, vor dem die Tote weglief. Alle fühlen sich schuldig. Ziel erreicht? Na super!