USA 2018 · 139 min. · FSK: ab 16 Regie: David Robert Mitchell Drehbuch: David Robert Mitchell Kamera: Mike Gioulakis Darsteller: Andrew Garfield, Sydney Sweeney, Riley Keough, Topher Grace, Jimmi Simpson u.a. |
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Schräge Innenansicht unserer Gegenwart. |
Er heißt Sam. Ein schlaksiger, ziellos herumhängender und über die Straßen schlurfender junger Mann. Vor 25 Jahren hätte man ihn »Slacker« genannt. Aber irgendwie lebt Sam auch tatsächlich vor 25 Jahren. Kein Zeitreisender zwar, aber einer, der vor allem in seiner eigenen Welt existiert, einer Welt der Erinnerungen und popkulturellen Zitate. Derer gibt es in Los Angeles zuhauf. Und Mythen.
Der »Silver Lake« des Titels, das ist nicht der Silbersee von Karl May, unter dem
auch ein Goldschatz verborgen sein soll, sondern natürlich der Silver Lake von Los Angeles, direkt neben dem »Echo Park«, dem Park der Echos. Und um Echos, um die Macht der Vergangenheit und die Wirkungen des Ephemeren, des Flüchtigen, Unfassbaren, geht es vor allem in diesem Film, der zu den schönsten, originellsten Werken des amerikanischen Kinos in letzter Zeit gehört.
Mit seinen zwei ersten Filmen wurde der 1974 geborene Amerikaner David Robert Mitchell zu einer markanten neuen Stimme unter den amerikanischen Independent-Regisseuren und zur Zukunftshoffnung für das unter Superhelden-Inflation und Phantasieschwund darbende US-Kino.
»The Myth of the American Sleepover« war ein aufregendes Debüt. It Follows ein großartiger zweiter
Film.
Und im Frühjahr kam der Ritterschlag: Da wurde Mitchells dritter Film Under the Silver Lake in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Dort gehörte er zu den aufregendsten und besten Filmen.
Zwischen Phantasie und Realismus erzählt David Robert Mitchell von seiner Hauptfigur Sam, der im wahren Leben vor allem Schulden ansammelt, dem eines Tages etwas Merkwürdiges passiert: Wieder einmal blickt er von seinem Balkon in den Hof, aufs Fenster gegenüber. Dort ist eine neue schöne Nachbarin eingezogen, Sarah, eine Schauspielerin.
Als er sie am nächsten Tag nachts nackt im Pool schwimmen sieht, ist es um Sam geschehen.
Tatsächlich kommt es zu einem ersten Rendezvous, doch am Tag danach ist Sarah spurlos verschwunden. Sam versucht herauszufinden, wo sie ist, und diese Suche verwandelt sich zunehmend in eine Obsession. Wie ein Film-Noir-Detektiv streift Sam – dessen Vorname natürlich auf den berühmten Sam Spade, den Helden des »Malteser Falken«, anspielt – durch das Los Angeles unserer Gegenwart.
Er besucht die Partys der Reichen und Schönen, und so zeigt dieser Film prachtvolle, eigenwillige und extravagante Schauplätze und die diversen Merkwürdigkeiten des ganz normalen Wahnsinns im Amerikanischen Empire.
Man muss an Roman Polanskis Neo-Noir Chinatown denken, aber auch an Leitmotive Brian De Palmas, vor allem seines wunderbaren L.A.-Films und an die Filme von David Lynch. Denn dieses Amerika ist nicht zu hundert Prozent realistisch. Es ist angereichert mit popkulturellem Wissen, mit Voyeurismus und mit Paranoia: »Our World is filled with codes, subliminal messages from Silver Lake to
the Hollywood Hills...«
Die Welt steckt voller Codes. Vor allem die der Popkultur. Und so ist dieser Film, was er beschreibt: Ein Reich der Zeichen, prall befüllt mit unzähligen Referenzen und Zitaten, das von einer Welt erzählt, die nur als Reich der Zeichen verstanden werden kann.
Versteckte Hinweise auf die Entführte findet Sam daher auch in Comics, in Corn-Flakes-Packungen und in den Popsongs einer bestimmten Band. Hinzu kommen direkte Filmplakate und Zitate aus u.a. Wie angelt man sich einen Millionär? oder A Farewell to Arms.
Währenddessen hat es in Sams Nachbarschaft ein Serienkiller auf Hunde abgesehen. Und die Entführung eines reichen Medienmoguls macht Schlagzeilen.
Dies ist ein Film über die Mythen der Popkultur. David Robert Mitchells Film ist ein Tribut an den Film Noir, jene legendären Schwarze-Serie-Filme der 40er Jahre. Mitchell zeigt Los Angeles, wie es uns durch die Geschichte des Kinos erscheint. Er konfrontiert die reine Liebe mit dem Wunsch nach Ruhm, und dem Verlangen nach Wohlstand. Zugleich entwirft er eine dunkle, faszinierend verdrehte Version unserer Welt. Diese Welt verschwindet heute unter dem schweren Teppich der Codes und Geheimnisse.
Gegen Ende dann landet Sam in der palastartiken Villa eines Pop-Tycoons: Ein hässlicher alter Mann residiert in diesem »High Castle«, sein Dasein ist geprägt von Zynismus und Trauer, eine dämonische Figur. Er klärt Sam und damit uns auf, zumindest über seine Weltsicht: »There is no rebellion. There is only me earning a paycheck! ... Better if you just smile and you dance and you enjoy the melody...«
Alles ist fabriziert. Nichts ist echt. So erlebt Sam stellvertretend die
Desillusionierung aller Popkultur und ihrer Träume von Befreiung. Ob er auch Sarah findet – das wollen wir fürs erste offenlassen.
Mitchell bietet eine sehr schräge, hochunterhaltsame und intelligente Innenansicht unserer Gegenwart. Einer der aufregendsten und besten Filme im diesjährigen Wettbewerb von Cannes.
Nach dem Kinobesuch möchte man ihn sofort noch einmal sehen.