Vena

Deutschland 2024 · 121 min. · FSK: ab 12
Regie: Chiara Fleischhacker
Drehbuch:
Kamera: Lisa Jilg
Darsteller: Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht, Barbara Philipp, Edith Stehfest u.a.
Vena
Sozial chancenlos?
(Foto: Weltkino Filmverleih)

Mein Kind gehört mir

Chiara Fleischhackers ausgezeichneter VENA ist ein aufrichtiges Sozialdrama, das die Kitschfallen souverän vermeidet

Jenny, schwanger, drogen­süchtig, muss in Knast. Eine ganzes Bündel an Proble­ma­tiken lässt Chiara Fleisch­ha­cker in ihrem mit dem First Step Award ausge­zeich­neten Diplom­film Vena zusam­men­kommen. Sie ist Absol­ventin der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg, hat zuerst Psycho­logie, dann Regie und Doku­men­tar­film studiert, eine Mischung, die ihrem Film anzu­merken ist und seine Stärke ausmacht. Fleisch­ha­cker findet in ihrem sozi­al­rea­lis­ti­schen Drama viele Wege für ihre charis­ma­ti­sche und starke Haupt­figur Jenny, auch Auswege, immer wieder. Letztlich aber macht sie deutlich: Dass es keine einfachen Dreh­buch­lö­sungen und märchen­haften Wendungen geben kann, dagegen steht auch das System der sozialen Ordnung und das Miss­trauen gegenüber den Gestrau­chelten unserer Gesell­schaft, über das sich nicht einfach hinweg­schreiben lässt.

Dabei ist Vena durchaus als soziales Märchen angelegt. Pink ist die Lieb­lings­farbe von Jenny, die mit ihrem Freund Bolle (Paul Wollin) in einer engen Plat­ten­bau­woh­nung lebt. Rosa Vorhänge, Plüsch­kissen, Gel-Fingernägel, enge T-Shirts, alles ist in der Mädchen- und Märchen­farbe gehalten. Mit vielen Details träumt sie sich aus ihrem Grau-grauen-Plat­tenbau-Leben heraus. Aber auch mit Drogen, das die Seelen und Körper zerset­zende Crystal Meth ist ihr Ding. Wenn sie sich einen »Stein« einwirft, wirft es sie buchs­täb­lich an die Wand. Ein Schock für den Körper, eine Erwei­te­rung der Sinne, viel Lust kommt ins Spiel. Oft hat sie Sex mit ihrem Freund, wenn sie ganz high ist.

Jenny wird gespielt von Emma Drogunova, die mit melan­cho­li­scher Ausstrah­lung immer wieder an Leos Carax’ Jeka­te­rina Golubewa aus Pola X erinnert. Jenny ist schwanger, bald hoch­schwanger, und war doch noch nie beim Frau­en­arzt. Sie hat schon ein Kind, es ist schon im Grund­schul­alter, es wächst bei der Oma auf. Das Jugendamt war dagegen, dass Jenny den Jungen behält, sie muss ein Teenager gewesen sein, als sie ihn bekommen hat. Und jetzt wieder­holt sich alles?

Die Inter­ven­tion einer Hebamme (Frie­de­rike Becht) kann den verhäng­nis­vollen Kreislauf erst einmal durch­bre­chen (»Vena«, der Titel des Films, bezieht sich auf die Gebär­mutter). Wie in Dea Kulum­be­gash­vilis erhabenem April (siehe unser Bericht vom Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg) wird die »Frau­en­sache« der Schwan­ger­schaft auch zum sozialen Indikator, zu dem ein weiterer Beschleu­niger kommt: Jenny muss in den Knast. Dort wird sie dann auch ihre Tochter zur Welt bringen, gleich nach der Geburt ist sie wieder mit einer Fußschelle ans Bett gekettet.

Fleisch­ha­cker findet für ihr Sozi­al­me­lo­dram eine starke Ästhetik. In dichten Close-ups ist die Kamera (Lisa Jilg, ausge­zeichnet mit dem Michael-Ballhaus-Preis) ganz nah bei den Figuren, fährt die Haut entlang, zeigt ein Tattoo, immer ganz beiläufig, lässt Jenny den ganzen Raum füllen. Sie verwei­gert wie das Märchen auch den Misera­bi­lismus, die Wohnung ist chaotisch, aber nicht eklig (wie wir es von anderen Drogen-Dramen kennen), Jenny ist aufrecht und liebt Orchideen, wir sind immer bei der Figur dran, die eine große Stärke entwi­ckeln darf, und nie im ankla­genden Gestus. Der Film bleibt klar und unma­ni­pu­lativ. Stille beherrscht die Räume, Musik ist nur zu hören, wenn sie auch die Menschen im Film hören. Wir sind so ganz bei ihnen, bewegen uns in ihrer Welt. Nie biedert sich der Film an. Es wird auch nicht geschrien, und es gibt keine hyste­risch-plaka­tiven Szenen, die uns mitteilen: Das hier ist Unter­schicht, das hier ist White Trash. Die Figuren, auch der drogen­süch­tige Freund von Jenny, behalten ihre Würde.

Es gibt auch nie den Finger­zeig auf »die Gesell­schaft«. Auch keine Backstory Wound, die alles weger­klärt. Warum Jenny straff­fällig geworden ist und in den Knast muss, warum sie so früh schwanger wurde, warum sie ein zweites Mal schwanger wird, warum sie drogen­süchtig ist, das alles erzählt uns der Film nicht, zum Glück. Das Schicksal von Jenny bekommt so etwas Univer­selles, Gleich­nis­haftes, sie wird zur starken Brecht’schen Figur, die sich entgegen den Verhält­nissen und Statis­tiken (fast) durch­setzen kann.

Der Film proble­ma­ti­siert nicht, er zeigt. Das ist nicht immer einfach anzusehen, es gibt etliche Tabu­brüche, etwa, wenn die schwan­gere Jenny Drogen nimmt, oder wenn sie raucht, was sie auch dann noch tut, als sie den Entzug hinter sich gebracht hat. Die Erzähl­weise ist unver­blümt, auch die Schwan­ger­schaft und Geburt, wieder ist an Dea Kulum­be­gash­vili zu denken, wird in der gewählten Ästhetik konse­quent zum Schluss gebracht. Vena ist ein sozi­al­rea­lis­ti­scher Film, aber das große Gefühls­drama bleibt aus, selbst als es für Jenny wieder aussichtslos wird. Der Film ist kein Tear­jerker für das bürger­liche Publikum, das im Kino Läuterung erfahren darf, und für das ein Schicksal wie das von Jenny das große Stell­ver­treter-Martyrium darstellen soll.

Aus der großen Ruhe der von der Hand­ka­mera in Bewegung gebrachten Bilder kann dem Film im Gegenteil ein ganz leichtes Träumen entsteigen, das ist der Hoff­nungs­schimmer, an dem die Wandlung der Figur ansetzen kann, ohne dass dies kitschig wird. Fleisch­ha­ckers Film ist ein Glücks­fall für das deutsche Kino, das nur wenige Stimmen hat, die sich sozialen Themen unpla­kativ, beiläufig und auf Augenhöhe zuwenden. Vena ist grandios-flüssig erzählt, sehr nah und dicht, ein Film, der die Balance zwischen Ausweg­lo­sig­keit und Hoffnung hält und es seinen Zuschauern trotzdem nicht leicht macht. Warum sollte er auch?