F/CH 2009 · 94 min. · FSK: ab 0 Regie: Benoît Jacquot Drehbuch: Benoît Jacquot Kamera: Caroline Champetier Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Hugues Anglade, Xavier Beauvois, Maya Sansa u.a. |
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Am Nullpunkt des Lebens |
Eine Klavierspielerin. Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie heißt Ann, aber der Name ist nur ein Pseudonym, eine äußere Hülle, die sie wie viele andere bald abwerfen wird. Eines Tages verkündet sie ihrem Mann, dass sie ihn nach 15 Jahren verlässt. Wie auch die Wohnung, ihren Besitz, ihre Karriere. Man könnte jetzt natürlich sagen, dass die Frau vielleicht ein bisschen überreagiert. Schließlich hat sie den Gatten nur einfach einmal beim Knutschen erwischt. Andererseits geht es ja in Wirklichkeit gar nicht ums Knutschen, und noch nicht einmal um den Mann. Sondern es geht um einen Menschen, der sich selbst längst verloren hat, und für den nur noch so ein kleiner banaler Auslöser nötig war, um den Wirbelsturm zu entfachen.
»O solitude my sweetest choice« heißt Purcells Arie, mit der dieser Film gelegentlich unterlegt ist, und die hier programmatisch wirken muss. Aus Ann wird Elaine, mit ihrem Künstlernamen verabschiedet sie sich von der dahinsiechenden Mutter, verkauft ihr Appartement, beseitigt Kreditkarten und Mobiltelefon, beendet ihre Karriere, verbrennt auch noch alle Noten und sämtliche Erinnerungsfotos und schneidet sich in nicht minder kraftvoller Symbolik die Haare kurz. Ein radikaler Schlussstrich. Dann ist sie mal weg.
Benoît Jacquot passt die Erzählweise seines Films ganz dem Seelenzustand seiner Hauptfigur an. Im schnellen Stakkato wechseln die Szenen anfangs abrupt, geradezu panisch wirkt die Atmosphäre mitunter, als würde alles Innehalten, jedes Einsetzen von Kontemplation die Energie von Elaines Fluchtbewegung aufbrauchen. Dann, ganz allmählich, setzt mehr Ruhe ein, denn nach dem Aufbruch beginnt, zunächst noch sprunghaft, das Suchen. Erst mal geht es in die Einsamkeit der Alpen, wo der Erstarrungs- und Erkaltungsprozess, der Nullpunkt des Lebens besonders adäquate Bilder findet, dann an die süditalienische Küste, wo beim Bad in der Sonne auch Elaines Seele allmählich wieder auftauen darf. Ein bisschen sehr dick aufgetragen und überspannt ist das alles, auch drängt die Frage sich auf, warum eigentlich immer die unberührte Natur herhalten muss, damit ein Mensch von heute in Kino und Literatur wieder zu sich selbst finden kann. Die Sehnsucht nach dem Abschied vom modernen Leben gehört zu diesem dazu. Jeder Voltaire braucht einen Rousseau, und heute, wo kaum ein Genre modischer ist, als das jener Bücher, in denen Menschen unserer Gegenwart von ihrem heldenhaften »Leben ohne«, ohne Fleisch, Internet oder Smartphone berichten, da erscheint Elaine zweifellos als eine Heldin der Moderne.
Aber gerade, wenn man zu fürchten beginnt, man habe es hier mit einer Eat Pray Love-Version für bürgerliche Intellektuelle zu tun, mit besserer Musik, küssenden Frauen und statt indischer Gurus einfach einem Gespenst, das aussieht wie Jean-Hugues Anglade, und immer im richtigen Moment auftaucht, da bekommt Villa Amalia seine Kurve. Steril wird Jacquots Inszenierung bei aller Kontrolliertheit sowieso nie, dafür bleiben seine Bilder zu rau, die ganze Atmosphäre zu schroff. Die Faszination, die dieser Film in seiner zweiten Hälfte entfaltet, liegt daher auch nicht allein an Isabelle Huppert, obwohl die Geheimnisse, die die Huppert in alle ihre Rollen hineinträgt, auch Ann/Elaine sehr zugute kommen, und sie diese Figur mit mehr Ironie, aber einer ähnlich verletzlichen Konsequenz ausstattet, mit der sie zuletzt auch in der Hauptrolle in Claire Denis' White Material zu sehen war. Die rätselhaftete Figur des Films ist allerdings der von Anglade gespielte schwule Jugendfreund Georges, vom dem man wie erwähnt bis zum Ende nicht recht weiß, ob er wie so manches vielleicht nicht doch einfach allein in Elaines Kopf existiert.
Vieles in Villa Amalia gleicht einem surrealen Trip, einem Alptraum. Der Zuschauer wird vom Regisseur in die Lage versetzt, an den inneren Erfahrungen der Hauptfigur teilzunehmen. Elaine ist keineswegs verrückt oder hysterisch, um billige Selbstverwirklichung geht es auch nicht, und sie ist nur insofern egozentrisch, als es um ihr eigenes Überleben geht. Hingegen kann man an dieser Dekonstruktion eines bürgerlichen Frauenlebens gut beobachten, wie nahe Freiheit und Selbstzerstörung, Erinnern und Vergessen beisammen liegen, wie das eine unter Umständen Voraussetzung des anderen werden kann.
Denn gegen Ende des Films wird dann klar, dass weit mehr als die eheliche Untreue hinter Elaines Identitätskrise steckt. Kleine Zeichen aus den ersten Filmminuten erscheinen in anderem Licht, in dem verdrängte Ängste sichtbar werden. Und trotzdem versteht es Benoît Jacquot meisterlich, von Psychologie und anderen Eindeutigkeiten abzusehen und seinen Film bis zum Schluss im fiebrigen Schweben, im Offenen zu halten. Elaine ist frei; sie wird wählen.