Georgien/F/D 2017 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: George Ovashvili Drehbuch: Roelof Jan Minneboo, George Ovashvili Kamera: Enrico Lucidi Darsteller: Hossein Mahjoub, Qishvard Manvelishvili, Nodar Dzidziguri, Lika Babluani, Zurab Antelava u.a. |
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Eine Grenze im abstrakten Raum vermessen |
George Ovashvili war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einer der ersten international sichtbaren Regisseure aus Georgien und zählt trotz seiner wenigen Arbeiten zu den anerkanntesten. Er hat offensichtlich schon viel zum Kino gesagt und scheut sich nicht vor großen Worten. Im türkischen Fernsehen beschreibt er seine Karriere als Filmemacher mit dem Gleichnis einer Reise, die nicht abgeschlossen sein kann, vielleicht ein weiteres Leben benötigt, um dem Fluchtpunkt Kino ausreichend nahe zu kommen. Das Kino als Lebensweg erscheint in seiner Rhetorik als ein künstlerisches Gebilde, das nur vom Bild aus entstehen kann, und das es sich durch allen nötigen Mühen zu erschließen gilt – wenn nötig beim Filmen mit Analogmaterial irgendwo im Nirgendwo, jenseits naheliegender Produktionsumgebungen.
Vor dem Frühling, sein dritter Spielfilm nach Gagma Napiri – Am anderen Ufer (2009) und Die Maisinsel (2014), entfaltet sich ganz entlang eines ähnlichen Reisegleichnisses und führt eine Gruppe von Männern in Naturlandschaften, die nur noch gelegentlich von Häusern unterbrochen werden. Der Mensch ist dort weniger gesellschaftlichen Strukturen als vielmehr sich selbst ausgesetzt: Sinnsuche, Ziellosigkeit, Spiritualität, Verzweiflung durchziehen neben zögerlichen Erscheinungen von Entschlossenheit und Hoffnung den Film und seine Bilder. Schon für Die Maisinsel verließ der Filmemacher das bei Gagma Napiri noch politisierte Umfeld der Stadt und stellte stattdessen eine kleine, temporäre Insel zwischen Abchasien und Georgien ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In der Tat eine winzige Insel, gerade groß genug für ein Maisfeld, angesiedelt an einer naturgemachten Grenze: genau zwischen einst umkämpften Hoheitsgebieten des Landes. Ein Verhandlungsraum von politischen Souveränitäten und kulturellen Identitäten. Ovashvili interessiert sich für Orte und Bilder, die eine Vieldeutigkeit in sich tragen.
Die titelgebende Maisinsel seines zweiten Films kann sich trotz ihrer idyllischen Naturkulisse einer politischen Verwicklung nicht entziehen. Soldaten tauchen auf, wecken klare Assoziationen: Im Vorfeld des 1992 verkündeten Unabhängigkeitsanspruchs der Region Abchasiens vom Rest des Landes brachen wiederholt Bürgerkriege aus. Während im Georgien der frühen Neunziger die Stimmung zwischen nationalistischen und kommunistischen Extremen die Stimmung höchst angespannt war, befand sich auch das ganze Land in internationalen Souveränitätskämpfen. Eine massive Auflehnung gegen das kommunistische Erbe der Sowjetunion war gerade kurz zuvor in der ersten Wahl eines demokratischen Präsidenten kulminiert: Im Jahr 1991 wurde Zviad Gamsakhurdia mit einer offensichtlichen Mehrheit zum Präsidenten ernannt. Das Klima blieb jedoch angespannt, er sollte nach nur einem halben Jahr durch einen Militärputsch seines Konkurrenten Eduard Shevardnadze entmachtet und vertrieben werden.
Dieser erste gewählte Präsident, ein Mann, der Georgiens Unabhängigkeit gegen die Einflüsse der Sovjets durchsetzte, wandert im feinen Anzug durch Ovashvilis neuen Film wie ein müder Geist, der seinen Platz verloren hat. Vor dem Frühling verfolgt Gamsakhurdias Rückkehr ins Land als stiller Verfolgter, gejagt von Eduard Shevardnadzes Militärjunta. Ovashvili kartografiert anhand seines Schicksals eine vergebliche Suche nach der Wiedererlangung von Macht.
An Gamsakhurdias Seite geht der Premierminister, der kaum noch sehen kann, dazu eine Reihe gealterter, treuer Militärmänner. Doch die Treue bröckelt schon lange, immer mehr Untergebene verlassen das sinkende Schiff. Die Gruppe sucht Unterschlupf in solidarischen Privathäusern, grast das Land nach Spuren einer verbliebenen Unterstützung ab, nach einer Hoffnung auf ein mögliches, erneutes Erstarken von Gamsakhurdias Einfluss. Gibt es einen Frühling, eine Hoffnung auf eine
demokratische Zukunft des Landes? Gamsakhurdia erscheint als undurchsichtige Figur und ziemlich zweifelhafter Hoffnungsträger. Schon ein Gastwirt deutet an, dass die Verhältnisse kompliziert sind: »Herr Präsident, ich glaube kein Wort von den Geschichten, dass sie Unschuldige getötet haben sollen.«
Nur wenige Menschen im Film sind jung. Zwei Frauen schon zu Beginn. Die Tochter des Hotelbesitzers weint, als sie im Zimmer des Präsidenten sitzt. Bei der nächsten Rast singt ein
Mädchen von der Zukunft Georgiens und von der Traurigkeit im Land. Einer der vielen eindringlichen Gesangsmomente des Films. Der Präsident schenkt ihr heimlich ein Marienbild, während die Männer am Tisch beim Trinken »Georgien den Georgiern« rufen. Später wird ein anderes Mädchen von einem der Soldaten scheinbar vergewaltigt und blickt Gamsakhurdia stumm in die Augen. Der Jugendliche genießt die ausgestellte Aufmerksamkeit des gescheiterten Staatsmanns. Er blickt die jungen
Menschen mit der Sehnsucht nach einer Lebendigkeit an, die ihm auf seinem Weg abhanden kam. Einmal stehen zwei Rehe im Wald, auch sie betrachtet er, als böte ihm das Sehen einen Ausweg. Das Klicken eines Gewehrs vertreibt die Tiere, einer seiner Soldaten warnt ihn vor unsicheren Wegen. Im Oktober 1993 wird Gamsakhurdias Körper mit einer Kugel im Kopf im Ort Khibula aufgefunden, bis heute sind die Umstände seines Todes ungeklärt.
Wie Ovashvilis Inselfilm entfaltet sich Vor dem Frühling entlang einer Grenze, die nun allerdings einen noch abstrakteren Raum vermisst, sich zwischen Leben und Tod erstreckt. Das Phantom seiner einstigen politischen Macht hat die Gewalt nach innen gewendet und lässt den einstigen Herrscher die Kehrseite seiner Souveränität schmecken. Er ist ein Gefangener zwischen der erdrückenden Schuld vergangener Kämpfe und einer unmöglichen Zukunft, unfähig sich
nochmals zu entfalten oder zu verwandeln, festgeschrieben in seiner Sichtbarkeit, exponiert und ausgestellt. Der anmutige, feine, belesene Mann, dem der iranische Schauspieler Roelof Jan Minneboo eine sorgenvolle Stirn und eine charismatische Intelligenz verleiht, könnte kurz vor seinem Tod kaum verwundbarer sein. Seine Schritte durch den Schnee sind die eines Gewesenen und hinterlassen doch markante Spuren. »Die Nacht fällt herein, wie ein ungestrafter Mörder«, heißt es am
Ende.
Ovashvili spricht bei der Premiere des Films in Karlovy Vary davon, wie das Land Georgien sich nicht weiterentwickeln kann ohne die Aufarbeitung seiner vergangenen Wunden. Seine bedacht bebilderte, filmische Reise durch Georgiens Dörfer lotet einen Souveränitätsbegriff aus, der mit regelmäßiger Sicherheit über den nationalen und politischen hinausdenkt: die Souveränität des gegenwärtigen Künstlers über das Gezeigte, über eine politische Vergangenheit, über einen
Menschen – letztlich über die Natur, in die er mit seiner Kamera einzudringen sucht. Was er aufspürt, offenbart sich erfreulicherweise weniger als Einlösung einer Souveränität, sondern als ratlose und doch zurückgelehnte Auflösung ihrer Gewalt in einer stilsicheren Leichtfüßigkeit.