USA/D 2008 · 124 min. · FSK: ab 12 Regie: Stephen Daldry Drehbuch: David Hare Kamera: Roger Deakins, Chris Menges Darsteller: Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kroß, Lena Olin, Bruno Ganz u.a. |
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Lesen und zuhören im Schatten von Auschwitz |
»Jedes Buch ist auf persönliche Erfahrung gebaut, also auch dieses.«
(Bernhard Schlink)
Das Böse ist schön. Das Gelände ist vermint. Das Böse sieht aus wie Kate Winslet. Zuerst üppig, verführerisch, mit altmodischen Strapsen, manchmal einfach nackt. Man würde ganz gern ins Bett gehen mit diesem Bösen, oder zumindest von ihm den Rücken geschrubbt bekommen, in dieser merkwürdigen Mischung aus Zärtlichkeit und Härte. Später dann ist es immer verhärmter, trauriger, störrischer, so dass man es nicht mehr wie zuvor als groß und überlegen ansieht, dafür aber fast Mitleid mit
ihm haben könnte, wäre es nicht so böse. Dann erst am Ende wird es klein und hässlich, mit einer Plastikmaske und ziemlich viel Schminke im Gesicht. Das Böse trägt einen Namen, der in der subtilen Topographie der Namen und Worte jüdisch konnotiert ist: Hanna – wenn auch ohne das h von Hannah Arendt. Das Böse hat viel Schlimmes getan. Ein paar Menschen, genaugenommen sogar mehr als ein paar, hat es getötet, genauer gesagt: verbrennen lassen. Das Schlimmste, was das Böse getan hat,
weit schlimmer als der Rest, das suggeriert das Gesicht von Ralph Fiennes, der so schön leidend gucken kann wie sonst niemand auf der Gegenwartsleinwand, das Schlimmste war aber offenbar, mit einem jungen Mann ins Bett zu gehen. Der leidet darunter noch heute, während die Toten, auch dieser Satz fällt im Film, einfach tot sind (»It doesn’t matter what I think. It doesn’t matter what I feel. The dead are still dead.«). Im Buch heißt das anders, und vielleicht erzählt diese
Verschiebung der Akzente auch etwas über Stephen Daldrys Schlink-Verfilmung. Im Buch heißt es: »Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen. ... Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht.«
Das mit dem Bösen und dem Jungen ist Kindesmissbrauch nach heutiger Rechtssprechung, Herr Schlink ist Jurist, der weiß das, und die US-Produktion hatte sogar ihre Hausjuristen, die dafür sorgten, dass David Kross schon 18 war,
als er sich von Kate Winslet anfassen lassen durfte. Im Buch ist er erst 16, aber seinerzeit sah man das alles sowieso noch nicht so eng, und vielleicht gab es dann doch Schlimmeres.
Das Gelände ist vermint. Es heißt Holocaust-Kino oder Vergangenheitsbewältigungsfilm, in den 60ern hätte man ihn noch verboten, nur wegen der Nacktszenen versteht sich, und Erwachsenen dann als »Kulturfilm« vorgeführt. Vermint ist es, weil es immer noch ein paar Spaßverderber gibt, die einfach nicht mitmachen wollen, die uns unseren Stauffenberg nehmen möchten und den Ganz/Hitler seine Makkaroni nicht in Frieden essen lassen, die schon Schlinks Roman nicht mochten, und die jetzt bei der Verfilmung von »Der Vorleser«, Oscar hin, Winslet her, ganz einfach unfein von Nazi-Porno sprechen, oder komplizierter von Erotisierung des Faschismus.
Zumindest sollten wir uns klar machen: Nichts ist Zufall hier, schon gar nicht Kate Winslets Körper. Ihre Nacktheit ist nicht einfach da, sondern sie ist manipulativ. Sie verführt uns und will verführen. Mit welchem Ziel?
»'Der Vorleser' fängt als Sexfilm an – und als Porno geht er weiter,« hat Claudius Seidl in einem wie immer sehr lesenswerten FAS-Text geschrieben. Das ist aber jetzt vielleicht auch etwas zu einfach.
Eine Liebesgeschichte, eine Verratsgeschichte, eine Schuld- und Schuldabtragungsgeschichte und ein Werk über das Gelingen und Misslingen von Vergangenheitsbewältigung – all das ist Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser«. Und all das musste daher notwendigerweise auch seine Verfilmung werden. Schon durch die Fülle dieser Motive, durch ihre Kompliziertheit und Tiefe, aber auch dadurch, dass die Romanhandlung den Bogen über fast 40 Jahre schlägt, ist dies ein schwieriger Stoff. Regisseur Stephen Daldry (Billy Elliot, The Hours) hat ihn mit Anstand, Sensibilität und professionellem Können, allem voran aber mit Hilfe zweier großartiger Hauptdarsteller, so gut er es zuließ bewältigt.
Im Zentrum steht die Geschichte der Nachgeborenen, derjenigen Generation der Deutschen, die durch das, was manchen als »Gnade der späten Geburt« erschien, zu jung waren, um im Dritten Reich zu Tätern zu werden. Dass es auch für sie, jedenfalls für die Sensibleren unter ihnen, schwierig war, im Schatten von Auschwitz ein völlig normales, unbelastetes Leben zu führen, weil die Schuld überall war, weil sie erkennen mussten, dass Menschen, die sie verehrt oder geliebt hatten, sich über kurz oder lang als ehemalige Nazis erwiesen – das hat Schlink das »Trauma meiner Generation« genannt und das ist die These des Films.
Unmöglich wird es jedenfalls für Michael Berg, die Hauptfigur des Films. David Kross (Knallhart) spielt ihn glänzend und ungeheuer differenziert als Jüngling, der unschuldig und unbelastet in den 50er Jahren aufwächst. Im professoral-bürgerlichen Milieu von »Neustadt«, was in Schlinks Bestseller-Roman unverkennbar des Autors Heimatstadt Heidelberg war, in einer Welt aus dunklen Eichenmöbeln und Ledersofas. Braun dominiert hier, in den Farben und in den Seelen, Erinnerungen an eine andere Zeit. Die ist in ihren Details ein wenig süffig ausgemalt, kaum eine visuelle Geste des Historienkostümkinos auslassend, aber doch auch sehr treffend, etwa in der Betonung der alltäglichen Rolle, die der Reinlichkeitswahn und Sauberkeitsfimmel seinerzeit spielte, als man im Nachkriegsdeutschland in einer offenkundigen Äußerung des kollektiven Unbewussten anscheinend glaubte, durch stetes Putzen auch moralisch blitzblank dazustehen, auch den moralischen Schmutz oder jedenfalls seine Spuren wegwischen zu können.
Durch Zufall lernt Michael Hanna kennen, eine Frau die Anfang der 30 immer noch jung ist und seine Liebhaberin wird. Für Michael ist das die erste Liebe, verbunden mit der Erfahrung, mit der Älteren auf Augenhöhe zu stehen. Denn so wie sie in der Liebe zu seiner Lehrerin wird, wird er es intellektuell: Offen genießt sie es, wenn ihr der Gymnasiast Passagen aus der »Odyssee«, von Lessing und Kafka, aber auch »Tim und Struppi« und »Lady Chatterley« vorliest.
Ein »Sexfilm«? In jedem Fall inszeniert Daldry Michaels Blicke auf Hannas entblößte Schenkel und Strumpfbänder mit der Lüsternheit von Pubertierenden, imitiert hier den Blick des 16-Jährigen. Diese Idee eines Hohelieds auf die Literatur bereitet als Idee Vergnügen und ist doch im Kontext hochkonstruiert – was allerdings der Romanautor Bernhard Schlink zu verantworten hat – und in der Ausführung vor allem seicht. Ebenso der Quatsch, dass am Ende im Raum steht, die KZ-Wärterin gelange durchs Lesen zur Erlösung.
Aber in diesen zwei Lüsternheiten, Lieben und Lesen, ist Daldrys Film noch am stärksten und jedenfalls ganz bei sich, hier kann er ein unschuldiges Glück zelebrieren, das Hier und Jetzt der Liebe.
Ansonsten ist die Geschichte weniger fröhlich als es dieser Film gern wäre, und so muss davon erzählt werden, wie im Antlitz der offenen jungen Frau immer wieder kurz Härte und Verbitterung hervorbricht, wie ein Geheimnis spürbar wird: Sie erzählt wenig von ihrer Vergangenheit, und wer genau beobachtet, der kann erkennen, schon lange bevor es Michael merkt, dass sie offenbar nicht lesen kann und darum einen Vorleser braucht. Eines Tages dann ist Hanna plötzlich spurlos verschwunden.
Erst Jahre später, als junger Mann, wird Michael sie wiedersehen: Er studiert in Heidelberg Jura und besucht mit seinem Professor (Bruno Ganz) einen Prozess gegen ehemalige KZ-Wärter. Unter den Angeklagten sitzt Hanna. Die Vorwürfe sind schrecklich. Sie bekennt sich des Mordes an über 300 jüdischen Häftlingen für schuldig.
Es ist geschmackvoll und unterscheidet diesen Film von vielen anderen Beispielen des Historienkinos, dass er auf die Obszönität verzichtet, das Morden
rückblickend nachzustellen. Der Horror entsteht im Kopf. Nur die Bilder des Konzentrationslagers Auschwitz im mild vernebelten Sonnenaufgang ästhetisieren das, was nicht ästhetisierbar ist, und stören deshalb die Betrachtung im Nu.
Als Einzeltäterin wird Hanna dann verurteilt, unter anderem deshalb, weil sie aus Scham ihren Analphabetismus nicht gesteht. Dieser Analphabetismus ist ebenso wie die konträre Literaturliebe des Charakters hochkonstruiert. Und die verhärmte Person, die sich lieber einem »Lebenslang« ausliefert als ihr als peinlich empfundenes Unwissen preiszugeben, passt nicht zur Frau des ersten Filmteils.
Michael reagiert schockiert und getroffen. Der Film zeigt Diskussionen mit seinem Professor und Kommilitonen über das Wesen der Gerechtigkeit, er zeigt auch, wie Michael sich von seiner Liebe moralisch abkehrt, sie weder mit seinem Wissen entlastet noch wie es möglich wäre, den Kontakt zu ihr wieder aufnimmt. Erst nach Jahren beginnt er, ihr Texte auf Cassetten vorzulesen und in die Zelle zu schicken – einem Briefkontakt aber verweigert er sich, ebenso einer persönlichen Beziehung, als Hanna nach 30 Jahren Haft entlassen wird.
In dieser zweiten, weitaus schwerblütigeren Hälfte, hat der Film Probleme, den richtigen Ton zu finden. Im Vergleich zum Buch legt Daldry stärkeres Gewicht auf Hanna. Doch die Hauptfigur bleibt immer Michael, ein Mann, der von der Geliebten verraten wurde und über Jahrzehnte mit dem Erschrecken und dem Schuldgefühl ringt, eine Mörderin zu lieben, seine Gefühle nicht vergessen zu können. Das ist das Brisante: Gerade weil seine Liebe zu Hanna trotz ihrer Taten nicht aufhört, wird Michael bewusst, dass er selbst sich nicht unschuldig fühlen darf. Diese Erfahrung ist keine der menschlichen Ambivalenz. Sondern es ist die Erfahrung einer grundsätzlichen moralischen Korruption.
Man kann diese Erfahrung und die Nazi-Taten nicht wegbügeln mit Ausreden à la »Kein Mensch ist nur böse«, denn Juden ins Gas zu schicken oder dabei zuzusehen, zuvor ihre Geschäfte zu boykottieren, den eigenen Kindern zu verbieten, mit ihnen zu spielen, und schließlich ihre Vermögen zu plündern, ist keine Ambivalenzerfahrung, wie sie nunmal in jedes Leben gehört. Sondern ein Verbrechen.
In dieser zweiten Hälfte gelingt nicht mehr viel, auch weil Ralph Fiennes den alternden Michael arg angestrengt dreinblickend und viel zu sentimental und weinerlich spielt, ein unbehauster Lebemann, der die Frauen im Dutzend vernascht, aber voller Tristesse, ein deutscher Patient. Zudem leidet auch dieser Film unter jener merkwürdigen, fehlgeleiteten Vorstellung von »großem Kino«, die die produzierenden Weinstein-Brüder mit vielen deutschen Produzenten teilen: Kitsch, Musiksauce, Schwurbelbilder, Ausstattungsorgien, Herz-Schmerz. Das kann beim Vorlesergar nicht funktionieren. Zudem der Film zwar einerseits sentimentales »großes« Gefühlskino sein will, seine Qualitäten dann aber gerade ganz woanders hat, nämlich darin, wie er die prekären Aspekte seines Stoffs – Mitleid, gar Entschuldigung für eine Täterin? – umschifft, und dass er an dem, was an Hanna nicht liebenswert, nicht schön, sondern auch böse ist, nie Zweifel aufkommen lässt.
Vor allem stört das Ende, wo der Film am deutlichsten von der Buchvorlage abweicht: Da übergibt der alte Michael Berg Hannas Nachlaß, ein paar tausend Mark, die sie im Gefängnis verdient hatte, einer KZ-Überlebenden in New York. Diese Figur bedient in Look, Habitus und Wohnung exakt das Klischee der »reichen Jüdin«. Sie stellt die Teedose mit der Erbschaft der Täterin ausgerechnet neben das Foto ihrer ermordeten Verwandten. Das alles findet man so nicht im Buch. Dann steht Michael Berg mit seiner erwachsenen Tochter am Grab der einstigen Geliebten und beginnt zu erzählen... Und der Film ist aus.
Künstlerisch ist Der Vorleser ein Kammerspiel, trotz aller Hochglanzästhetik, in der Machart konventionelles Vergangenheitskino, näher am Fernsehen als an dem, was man gern auf der Kinoleinwand sähe. Dafür steckt zuviel Kunstwille in diesem Kunstgewerbe, also einfach auch Kitsch, und damit ist jetzt nicht nur die Filmmusik und Ralph Fiennes Gesicht gemeint.
Schlimmer als alle Ästhetik wiegt in diesem Fall aber die Moral von der Geschicht' – und auch die ist eine künstlerische Frage: Denn was ist das Zentrum? Sehen wir einen Film über den Holocaust und sein Nachleben, Nachleugnen, Nachverdrängen in Westdeutschland, ornamentiert durch eine private Geschichte? Oder sehen wir in zwei Stunden eine herzerwärmende Fabel über die Wunder der Literatur und deren Kraft, sogar das Leben von Massenmördern zu verbessern? Was sehen wir
von Hanna, vor allem dann in der Haft? Ihr Glück des Bücherhörens, des Lesenlernens. Ihr Unglück darüber, dass sie ein paar hundert Frauen und Kinder zu Tode brennen ließ, sehen wir nicht. Keine Qual, keine Seelenmarter. Dafür, dass sie ein paar Pfennige pro Woche gesammelt hat, dass sie will, dass die nach ihrem Tod den Nachkommen der von ihr Ermordeten übergeben werden. Obwohl: Das sagt sie nicht, »die von mir Ermordeten«.
Wir sehen, dass sie sich umbringt, aber wir sehen nicht,
warum. Wir können uns denken: Sie hat die Schuld nicht ertragen. Aber viel naheliegender ist es zu denken: Sie ist einsam und erträgt nicht, dass da der einzige Mensch ihres Lebens nichts mehr von ihr wissen will. Wir haben Mitleid mit ihr, der Mörderin. Nicht mit ihren Opfern.
Das ist der Grund, warum hier von Nazi-Porno und Revisionismus geredet wird, und viele das obszön finden. Und falsch ist es nicht.
Man muss noch anmerken, welch überaus schwierige Produktionsgeschichte dem Film voraus ging: Zehn Jahre hütete Oscar-Preisträger Anthony Minghella (Der Englische Patient) die Rechte, dann gab er sie an den Briten Stephen Daldry ab. Die Produzenten Minghella und Sydney Pollack starben während der Fertigstellung. Für die Hauptrolle hatte Nicole Kidman fest zugesagt. Doch wegen ihrer Schwangerschaft, aber auch, um Australiazu drehen, sagte sie ab. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass Kate Winslet, nach so vielen glanzvollen Auftritten in den vergangenen zehn Jahren, ausgerechnet mit einer Rolle zu Oscar-Weihen kam, für die sie nur zweite Wahl gewesen war. Aber wieviel macht sie aus dieser schwierigen Rolle! Nun kann man sich den Film mit einer anderen Besetzung der Hauptrolle kaum noch vorstellen. Nicole Kidman als Hanna – das wäre jedenfalls ein ganz anderer Film geworden. Vielleicht ein besserer. Kidman traut man das Schneidig-Böse, das Kalte eher zu. Nicht aber die Analphabetin. Winslet trägt diesen Film nun mit ratlos-traurigem Blick. Schuldgefühl und Scham sind hier erkennbar, oder vielleicht auch nur hineininterpretiert. Mehr nicht. Das Grauen aber, worauf es doch ankommt, das sieht man nur in einigen ganz wenigen prägnanten Augenblicken auf dem Gesicht von David Kross. Der Vorleser ist auch sein Film, ein Film über verlorene Unschuld.