Frankreich/Japan 2019 · 108 min. · FSK: ab 0 Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Hirokazu Kore-eda Kamera: Eric Gautier Darsteller: Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke, Clémentine Grenier, Ludivine Sagnier u.a. |
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Mutter und Tochter des französischen Kinos | ||
(Foto: Prokino/Studiocanal) |
Schon die ersten Minuten des Films machen klar: Diese Film-Diva wollen wir nicht persönlich kennen. Die große Schauspielerin Fabienne (Catherine Deneuve) hat sich zu einem Interview herabgelassen und lässt den armen Journalisten gnadenlos spüren, dass sie eigentlich etwas besseres zu tun hätte, als seine blöden Fragen zu beantworten. Auf PR ist sie nicht mehr angewiesen, schließlich ist sie eine der Allergrößten und ihre Autobiografie steht kurz vor der Veröffentlichung. Letzteres ruft mit Lumir (Juliette Binoche) die zweite Hauptfigur von La vérité auf den Plan. Und die muss Fabienne zwangsläufig kennen, schließlich ist sie ihre Tochter. Die Vergangenheit hat sie jedoch völlig anders in Erinnerung.
Nachdem sein genialer Shoplifters – Familienbande (2018) mit der Goldenen Palme in Cannes belohnt wurde, wagt sich Hirokazu Kore-eda mit La vérité zum ersten Mal an eine Auslandsproduktion. Wieder geht es um die Familie und die Lüge, dieses Mal angesiedelt in Paris. Eine liebende Mutter war Fabienne nämlich, entgegen ihres Buches, niemals. Lumir erinnert sich noch genau an das Desinteresse und die Zurückweisung von Seiten ihrer Erzeugerin, der der Ruhm immer wichtiger war als die Mutterrolle. Dass Kore-eda Fabienne mit Catherine Deneuve, also einer Ikone des französischen Kinos, besetzt hat, ist mehr als ein gelungenes Augenzwinkern. Schauspielerisch legt sie eine großartig-ekelhafte Performance hin, die vor verachtendem Hochmut nur so strotzt. Davon wird weder die Tochter, deren Mann (Ethan Hawke), der ja nur ein Serienschauspieler ist, noch das Hauspersonal verschont. Nur ihrer Enkelin (Clémentine Grenier) gegenüber ist sie die liebe Großmutter. Vielleicht will sie an ihr das wieder gutmachen, was sie bei Lumir verpasst hat?
Die große Familien-Tragödie bleibt jedoch aus. Kore-eda hat den ruhigen Ton seines Vorgängers beibehalten, was den Zuschauern die Gelegenheit gibt, auf die Nuancen der Handlung zu achten. Obwohl Lumir ihre Mutter eigentlich zur Rede stellen wollte, gerät sie schnell in die Rolle der Assistentin. Die große Schauspiel-Königin arbeitet nämlich wieder an einem neuen Projekt, einem Science-Fiction-Film mit Wackelkamera, den sie natürlich gar nicht nötig hätte. Interessanterweise wird auch hier ein Familienkonflikt ausgetragen. Entgegen den Erwartungen des Publikums spielt Fabienne jedoch die Tochter, die im Film bereits deutlich älter als ihre Mutter ist. Diese wird verkörpert von Amy (Ludivine Sagnier), einer unsicheren, aber talentierten Jungschauspielerin. Für die Diva natürlich keine ernstzunehmende Konkurrenz, aber trotzdem ist das Verhältnis zu ihr gespannt. Sie erinnert die ältere Dame nämlich an ein anderes Detail ihres Lebens, das sie lieber unerwähnt lassen will.
La vérité ist mehr als nur eine neue Variation des »Film im Film«-Themas. Fragen nach Verantwortung und Schuld ziehen sich durch ihn, bleiben aber ganz nebenbei am Publikum hängen. Ihm geht es viel mehr um die Menschen, die mit diesen Fragen zurecht kommen müssen. Auch die großen Paris-Bilder, die man vielleicht erst erwartet, müssen da größtenteils draußen bleiben. La vérité ist so vor allem großes Schauspielerkino. Deneuve verkörpert nicht nur das Hochglanz-Ekel hervorragend, sondern zeigt auch immer wieder die Zerbrechlichkeit dieser Figur, die schon am Ende ihrer Karriere steht (dem Einzigen, für das sie je gekämpft hat). Ob sie nun hier und da wirklich Reue zeigt, muss das Publikum erahnen. Daneben steht Binoche, der man ihre Wut zwar ansieht, die jedoch nicht aus ihrer devoten Rolle herauskommen will. Selbst als Fabienne ihr kalt und offen beim Abendessen erklärt, dass ihr die Schauspiel-Karriere immer über die Mutter-Verpflichtungen ging, steht sie am nächsten Tag wieder helfend auf der Matte. Will sie Respekt aus ihr hervorlocken, ist sie zu schwach, um sich wirklich zu emanzipieren, oder versucht sie, ihre Mutter am Ende auf eine ganz andere Weise zu berühren?
Wenn man etwas an La vérité ankreiden kann, dann ist es das allzu große Harmoniebedürfnis, in dem er sich gegen Ende ergeht. Das sorgt zwar für ein wohliges Bauchgefühl, schmälert aber den Gesamteindruck, der einen bei Shoplifters auch nach Verlassen des Kinosaales noch begleitete. Ansonsten hat man hier einen geglückten Film vor sich, der trotz seines offensichtlichen doppelten Bodens nie flach und trotz seines Konfliktpotentials angenehm unaufgeregt ist. Und natürlich mit eine Madame Deneuve, die hier nochmal einen grandiosen Eintrag in ihr Spätwerk verbuchen kann.