Deutschland 2012 · 88 min. · FSK: ab 12 Regie: Hans-Christian Schmid Drehbuch: Bernd Lange Kamera: Bogumil Godfrejów Darsteller: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Sabastian Zimmler, Ernst Stötzner, Picco von Groote u.a. |
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Was eine Familie zusammenhält |
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle
Die Eltern Gitte und Günter (Corinna Harfouch, Ernst Stötzner) laden ihre erwachsenen Söhne zum zwanglosen Familienwochenende in ihren großzügigen Bungalow. Einfach mal sich wieder sehen, Zeit zusammen verbringen, Cannelloni essen. Marko (Lars Eidinger) kommt extra aus Berlin und bringt seinen kleinen Sohn Zowie mit. Der jüngere Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) wohnt ein paar Häuser weiter und kommt mit seiner Freundin Ella (Picco von
Groote), die ebenfalls extra anreist und im Zug zufällig Marko trifft.
Hans-Christian Schmid verortet seinen Handlungsschauplatz und das gesellschaftliche Milieu seines Films sehr präzise. Die Autokennzeichen weisen den Rhein-Sieg-Kreis aus, es herrschen großbürgerliche Verhältnisse: Günter hat einen eigenen Verlag und finanziert seinem Sohn Jakob eine Zahnarztpraxis, während Marko als Schriftsteller sein Geld verdient. Und Gitte fährt einen Renault 4, der irgendwann
abgestellt am Waldrand aufgefunden wird.
Like a rolling stone
Bernd Lange (Drehbuch) und Schmid interessieren sich vor allem für das Thema Distanz und Nähe, Offenheit und Schonung in einer Familie, deren System sich um die depressive Mutter aufgebaut hat. Seit Jahrzehnten nimmt Gitte schwere Medikamente und so ist es für sie ein Akt der Hoffnung und Befreiung, als sie der versammelten Familie mitteilt, dass sie es ab jetzt ohne Psychopharmaka probieren möchte. Verhaltenes Entsetzen statt euphorischer Freude
ist die Reaktion. Das eingespielte System wackelt, wankt und wirft mehr Fragen auf, als die Familienmitglieder beantworten können. Darf man die Mutter ab jetzt mit den bisher versteckten Wahrheiten konfrontieren? Bleibt man weiter im Schongang? Was als routinierte Pflichtübung begonnen hat, wird zur Bestandsaufnahme der Frage, was von den Beziehungen übrig geblieben ist nach all den Jahren vorgespielter Gefühle. Ein Höhepunkt des Films: gemeinsam mit ihrem Mann singt Gitte
anrührend, begleitet von Marko, den Chanson „Du lässt dich geh’n“ (Charles Aznavour), worin Vertrautheit, Vorwurf und Zärtlichkeit wunderbar in der Schwebe gehalten sind und für den Zuschauer spürbar wird, dass es einmal eine lebendige Liebesbeziehung zwischen den beiden gegeben haben muss. Aber Gitte spürt nun ohne ihre jahrelange Sedierung die Isolation, in die sie durch ihre Krankenrolle geraten ist. Einzig zu ihrem Sohn Marko scheint sie ein echt
freundschaftliches Verhältnis zu haben, was diesen dazu verleitet, ihr zu gestehen, dass er inzwischen von seiner Frau getrennt lebt. Damit bringt er den Stein der Wahrhaftigkeit ins Rollen. Nach und nach wird offenbar, dass ihr Mann Günter längst eine neue Beziehung führt und die Zahnarztpraxis Jakobs vor dem finanziellen Aus steht. Corinna Harfouch spielt dieses langsame Erwachen in eine grausame Wirklichkeit grandios unspektakulär. Sie schafft es, ihre tragische Rolle mit
einer melancholischen Leichtigkeit und ganz ohne Hysterie zu gestalten, die tausendmal mehr unter die Haut geht, als große Gefühlsausbrüche und Schreikrämpfe. Überhaupt ist der Film von Anfang an mit einer konzentrierten Ruhe und authentischen Alltäglichkeit inszeniert, unterstützt von der minimalistischen Musik von The Notwist, was eine fast dokumentarische Atmosphäre evoziert, wären da nicht die kleinen Verdichtungen, Eruptionen und Eskalationen. Alle Darsteller
fügen sich nahtlos und überzeugend in diese dezente aber nie langweilige Spielweise ein. Eine tolle Besetzung!
Der Wald
Plötzlich ist Gitte verschwunden. Ein aufgeregtes Suchen beginnt und ohne das alte Zentrum zerfällt die Struktur der Familie und was jahrelang vermieden wurde, bricht nun auf: gegenseitige Vorwürfe, Streits und Verletzungen sind die Folge. Der Vater, bisher der Fels in der Brandung und Garant der Stabilität, steht zu seiner neuen Beziehung und seinen Wünschen, was die Söhne gar nicht gut finden. Jakob gibt Marko die Schuld für das Verschwinden der Mutter, der Sohn
Markos muss von seiner Frau abgeholt werden, da die Suche nach Gitte mit Polizeiunterstützung ausgeweitet wird. Ihr R4 wurde an einem Waldparkplatz gefunden. Der Wald wird zum symbolischen Ort für die Orientierungslosigkeit und Dunkelheit der neuen Situation, auch eine kurze märchenhafte Sequenz verweist auf das alte Erzählmotiv.
Das Ende
Jeder Zusammenbruch kann auch zu einem Neuanfang führen. Den Beziehungen hat die neue Ehrlichkeit gut getan. Das Filmende ist da verhalten optimistisch.
Was bleibt? Neben intensiven Filmbildern die Fragen, was eine Familie (im Innersten) zusammenhält, wann Schonung zur Entmündigung wird, wie viel Nähe und Offenheit eine Familie verträgt und natürlich – last but not least – die Vorfreude auf einen neuen Film von Hans-Christian Schmid.