Frankreich 2010 · 101 min. · FSK: ab 16 Regie: Géraldine Bajard Drehbuch: Géraldine Bajard Kamera: Josée Deshaies Darsteller: Melvil Poupaud, Audrey Marnay, Hippolyte Girardot, Phénix Brossard, Alice De Jode u.a. |
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Und ewig lockt das Weib |
In diesem Dorf am Waldrand gibt es eine Tanzgruppe. Alle Mädchen der Siedlung treffen sich da regelmäßig. Sie üben eine Tanzformation zu Popklängen, tragen dazu ein knappes rosafarbene Kleid. Manche von ihnen sind noch ziemlich klein, die meisten aber zwischen zwölf und fünfzehn, mit Gesichtern in denen man die Frau, die sie werden, bereits sehen kann, obwohl das Kind, das sie waren, noch nicht verschwunden ist. So brav und ordentlich, wie sie hier tanzen, sieht man sie sonst nicht, allenfalls harmlos, wenn sie kichern, über Jungs reden, und von dem neuen Landarzt schwärmen, der gerade hierhergezogen ist, und offenkundig allein lebt. Und schon bevor man zu ihrer Choreographie die Anweisungen der Tanzlehrerin hört, ein bisschen Kritik und wohlgesetztes Lob, ist klar, worum es in dieser Szene geht: Um das, was die Gesellschaft mit den Körpern macht, und mit den Seelen, die darin stecken; um Disziplinierung und Kontrolle, die mit den Leibern die ganzen Menschen umfasst, und sie abrichtet, präpariert für das, was die Gesellschaft braucht. Manche bleiben da auf der Strecke, das gehört zum System, und ist vielleicht nicht weiter schlimm. Für anderes gibt es Ärzte, wie François, der zu Anfang dieses Films gerade frisch sein Medizin-Studium beendet hat – und aus der Großstadtmetropole Paris heraus in das kleine Provinzkaff Beauval kommt. Den Rest, und der spielt hier eine nicht geringe Rolle, nennt man „Das Böse“. Dieses Böse hat wieder Konjunktur. Im Unterschied zum Schlechten besitzt es nicht nur stets eine transzendentale, jenseitige Komponente, es ist auch immer ein klein bisschen faszinierend – und deswegen so wunderbar geeignet für die schönen Dinge des Lebens, wie Kindergeburtstage oder Kinofilme.
In seinem neuen, ebenso klugen, wie listigen Essay über „Das Böse“, der gerade auf Deutsch erschienen ist, schreibt der britische Philosoph und Literaturwissenschaftler Terry Eagleton, wie rätselhaft und im Grunde unheimlich uns Erwachsenen doch Kinder und Jugendliche seien. Gerade ihnen, den noch nicht ganz Sozialisierten, traut man jede Barbarei zu. Kinder und Jugendliche sind in unseren Augen ebenso kleine Unschuldsengel wie kleine Teufel. Genau um diese Wahrnehmungen und diese Vorstellung des Bösen, die eng mit dem Rätselhaften, Unfassbaren und daher auch wieder Fesselnden verknüpft ist, geht es in Géraldine Bajards La lisière.
Auch langen Auto-Fahrten, bei denen die Stille der Nacht allenfalls durch die Musik des Autoradios unterbrochen wird, begegnet man immer wieder in diesem Film. Der ersten gleich zu Beginn. Da führt sie den neuen Arzt nach Beauval und dann bald in die öde Einfamilienhaus-Residenz-Siedlung am Waldrand, die pompös »Beauval Hights« genannt wird. Noch baut man allerlei, insofern ist dies ein Ort im Übergang, ist die Kontrolle noch nicht perfe. Und auch wenn dieser schicke Neubau-Wohnkomplex einerseits etwas sehr Steriles, Kaltes hat, ist er doch erfüllt von heißer Sehnsucht: von verdrängter Leidenschaft, angestauten Bedürfnissen und heimlichen Ausbruchsversuchen.
Der Landarzt François wird für all das zum Medium und Katalysator. Seine Ankunft löst vor allem bei einer Clique Jugendlicher Fantasien aus, die sich um seine Person drehen. Zwar heilt er zunächst nur konventionelle Krankheiten. Bald aber gerät er hinein in einen Strudel aus Geheimnissen und Lügen, Verdächtigungen und Gerüchten. So wird er – jung, gutaussehend, überdies ledig –, bald zum Schwarm mehrerer einsamer Landmädchen – mit schlimmen Folgen, denn damit bringt er die festgefahrene soziale Hierarchie durcheinander, bricht die Regeln. Und zugleich gerät Francois schnell ins Visier einer Gang Jugendlicher. Diese wird angeführt von Cédric, einem charismatischen Mopedfahrer mit Brando-Lederjacke und hübschen Mädchen im Arm und seinem neurotischen Handlanger Matthieu. Irgendwann verbünden sich die eifersüchtigen Halbstarken des Dorfes, verbünden sich gegen den Neuling.
Natürlich könnte man diesen Film auch wunderbar in die sozialpädagogische Diskursmaschine einspeisen, und zum Anlass für einen runden Tisch nehmen, der sich „endlich mal“ dem Problem jugendlicher Delinquenz annimmt. Aber es geht gar nicht über Jugendliche, sondern es geht um das, was nach ihnen kommt, ums Erwachsenensein. Die Jugendlichen scheinen lebendig nur, wenn sie unter sich sind. Sind Erwachsene dabei, dann blicken sie diese, und uns Zuschauer gleich mit, nur aus toten Augen an, fast wie Zombies, und man glaubt in ihnen eine Mischung zu erkennen aus Vorwurf und Bedrohung. Dies ist auch ein Film über den Kontrast zwischen Zivilisation und der Natur, einmal mehr ein französischer Waldgang, bei dem, fern aller deutschen Idyllisierung, die ungeordnete Natur nicht Zuflucht und Trost bietet, sondern Abgründe. Die Jugendlichen ziehen sich immer wieder in diesen Wald zurück, und die Erwachsenen können ihnen nur ratlos nachblicken.
Stilistisch ist das glänzend erzählt, gerade weil das Geheimnisvolle dieser Geschichte nicht psychologisch enträtselt, sondern aufgehoben, bewahrt und ins Universale gesteigert wird. Die in Berlin lebende Franco-Schweizerin Géraldine Bajard gelingt in ihrem Debüt ein wundervoll sogartiges, mitunter berückendes Erzählen voller Poesie. In den Zwischenräumen ihrer Bilder bewahrt sie das verborgene Begehren ihrer Figuren. Ästhetisch ist La lisière deutlich von den Erfahrungen Bajards geprägt, die sie im Umfeld der Berliner Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) gemacht hat: Für Valeska Grisebach, Pia Marais und Angela Schanelec arbeitete sie als Regieassistentin, überdies mit der Österreicherin Jessica Hausner. Und die sanft-geschmeidige Montage des Films verantwortete Bettina Böhler, die die Filme von Christian Petzold schneidet. Tatsächlich scheint der Film in einem stilistischen Dreieck angesiedelt, dessen Pole von Jessica Hausners Lourdes, dem Endzeitthriller Wolfzeit von Michael Haneke und John Carpenters Dorf der Verdammten gebildet werden. Insofern ist er eine sinnlich sehr konkrete Erfahrung – die aber gerade darin liegt, dass man sich hier auch dem Offenen, dem Unfassbaren zu stellen hat.
Manchen Männermagazinen mag dieser atmosphärischen Psychothriller, der zugleich fasziniert und Angst macht, zu „verkopft“ vorkommen. Denn die Kinder in La lisière sind Stand-ins, oder, um noch einmal auf Eagleton zurückzukommen: Sie wissen nicht, was sie tun. Das Böse hat dann doch fast sein Gutes, weil es dem wenigstens einen Namen gibt.