Who's afraid of Alice Miller?

Schweiz 2020 · 101 min. · FSK: -
Regie: Daniel Howald
Drehbuch: ,
Schnitt: Christof Schertenleib
Protagonisten: Alice Miller, Martin Miller
Filmszene »Who's afraid of Alice Miller?«
Die Wahrheit erkennen und akzeptieren wie sie ist: vielstimmig und vage – und am besten mit Hilfe von Irenka Taurek
(Foto: 36. DOK.fest@home)

Im Bunker des ewigen Krieges

Daniel Howalds und Martin Millers Suche nach der Wahrheit im Leben der Schweizer Psychologin Alice Miller ist ein so verstörender wie wichtiger und berührender Film über transgenerationale Traumabewältigung

»Wir müssen erkennen, daß wir den Eltern, die uns mißhan­delt haben, keine Dank­bar­keit schulden und schon gar keine Opfer. Diese brachten wir ja nur den Phantomen, den idea­li­sierten Eltern, die ja gar nicht exis­tierten. Weshalb fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern?« – Alice Miller, Die Revolte des Körpers (2004)

Er hat so ziemlich alles versucht, was möglich war. Nach dem Tod seiner berühmten Mutter Alice Miller im Jahr 2010 hat Martin Miller, ebenfalls Psycho­the­ra­peut, in einem Interview mit der NZZ das erste Mal von der Diskre­panz zwischen Millers Werk und ihrem Lebens­alltag gespro­chen. Hatte sie unter anderem in ihrem berühm­testen Werk – Das Drama des begabten Kindes – sich immer wieder für das leibliche und psychi­sche Wohl der Kinder einge­setzt und sogar mit der Psycho­ana­lyse und ihrer Trieb­theorie gebrochen, weil sie Traumata der Kindheit als kindliche Phan­ta­sien darstelle und die Realität von Kindes­miss­brauch und Kindes­miss­hand­lung leugne, habe Alice als Mutter in dieser Hinsicht völlig versagt. Sie habe zwar immer wieder inter­ve­niert, aber Martins Vater Andreas letzt­end­lich nicht davon abhalten können, ihn verbal und physisch zu schlagen. 2013 veröf­fent­lichte Martin Miller in seinem Buch Das wahre »Drama des begabten Kindes« weitere Details und Vermu­tungen über dieses Versagen und den Zwiespalt, der nicht so einfach mit der gängigen Stamm­tisch­weis­heit, dass die besten Thera­peuten nun mal die schlech­testen Fami­li­en­men­schen sind, abgetan werden konnte.

Es hat anschei­nend nicht gereicht, den Frieden, die Gerech­tig­keit und die Antworten zu finden, die Miller sich erhofft hatte. Der fast 70-jährige Miller hat sich deshalb mit dem Doku­men­tar­filmer Daniel Howald auf eine mehr­jäh­rige filmische Reise begeben, um sowohl den Wurzeln seiner Mutter als auch seines Vaters nach­zu­spüren und dadurch sie, vor allem aber auch sich, besser zu verstehen. Und natürlich das psycho­lo­gi­sche Tohu­wa­bohu, das in Who’s afraid of Alice Miller? in Anlehnung an Edward Albees Stück und die filmische Umsetzung von Mike Nichols Wer hat Angst vor Virginia Woolf? nicht nur beim Namen genannt, sondern explizit ausfor­mu­liert wird – mit markanten Abwei­chungen zum Buch. Denn im Film versi­chert Miller, dass Alice bei den täglichen Schlägen des Vaters nicht inter­ve­niert habe.

Diese und andere Details werden im Rahmen eines inves­ti­ga­tiven Road­mo­vies einge­streut, das über einen Umweg in die USA einge­leitet wird. Dort nimmt Martin Miller Kontakt mit Irenka Taurek auf, der Cousine seiner Mutter, die mit Alice zusammen aufwuchs und ebenfalls als Thera­peutin arbeitet. Sie begleitet ihn nach Polen, wo Alice als Jüdin mit gefälschten Papieren im Warschauer Unter­grund überlebte, um 1946 in die Schweiz zu migrieren und dort die Grund­lagen für ihre Karriere als Analy­ti­kerin und Buch­au­torin zu legen. Diese Reise, die gerade durch die Rolle des Vaters als möglicher NS-Kolla­bo­ra­teur auch poli­ti­sche Brisanz entfaltet, als sich etwa die polni­schen Behörden weigern, Andreas Millers Akte auszu­hän­digen, ist aber vor allem eine psycho­the­ra­peu­ti­sche Reise, ist klas­si­sche Trauma­be­wäl­ti­gung und vor allem ein besonders eindrück­li­ches und verstö­rendes Beispiel trans­ge­nera­tio­naler Weiter­gabe von Traumata. Alice, deren Briefe von Katharina Thalbach aus dem Off einge­lesen werden, erkennt und versteht erst am Ende ihres Lebens ihre eigenen Verdrän­gungen, die doppelten Wände ihres Bunkers, das forcierte Schweigen und die Tragik des Schick­sals der zweiten Genera­tion und damit ihres Sohnes Martin, der so wie alle anderen Betrof­fenen der zweiten Genera­tion die Angst ihrer Eltern zwar kennt, aber nicht mehr die Gründe für die Angst, die Realität hinter der Angst.

Gleich­zeitig reicht Howalds Film mit dieser exem­pla­ri­schen Suche weit in die Gegenwart hinein und über die NS-Zeit und ihre Folgen hinaus, dürften zahl­reiche weitere Genera­tionen durch die Kriege der letzten Jahr­zehnte ganz ähnliche Schick­sale erlitten haben, denen man sich diese Form der Trauma­be­wäl­ti­gung – wie unrea­lis­tisch das auch sein mag – nur wünschen kann.

Denn am Ende sehen wir Martin Miller mit Menschen, mit Freunden, zusam­men­sitzen, u.a. der großar­tigen Irenka Taurek (die kurz nach den Dreh­ar­beiten starb), um mit ihnen an einem großen Tisch die Wahrheit so zu erkennen und akzep­tieren, wie sie ist, viel­stimmig und vage. Und dieser Moment des Austauschs, der geteilten Erkenntnis mit anderen Menschen, mit Menschen, die so offen wie suchend sind, ist dann auch die eigent­liche Therapie, ganz so, wie es auch Sarah Polley in ihrer Vater-Suche in Stories We Tell gezeigt hat. Das ist viel mehr als ein Trost, es ist tröstende Erkenntnis.