Indien/USA 2020 · 127 min. · FSK: ab 16 Regie: Ramin Bahrani Drehbuchvorlage: Arvind Adiga Drehbuch: Ramin Bahrani Kamera: Paolo Carnera Darsteller: Adarsh Gourav, Priyanka Chopra, Rajkummar Rao, Nalneesh Neel, Mahesh Manjrekar u.a. |
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Die fast schon apokalyptische Vision eines Post-Modi-Helden | ||
(Foto: Netflix) |
When you deal with naked power from an inferior position, perspectives get distorted. (...)
(...) No amount of culture or civilization can subdue or hide the wanton violence in man.
― Kiran Nagarkar, in Cuckold (1997)
Je mehr Indien sich unter Narendra Modi zu einem hindu-fundamentalistischen Staat mit faschistischen Zügen verwandelt, desto unverblümter schlägt der indische Film zurück. Die Zeiten von Märchen wie dem Bollywood-Hollywood-Amalgam Slumdog Millionär (2008) sind endgültig vorbei. Stattdessen mehren sich die Filme, die den Aufstand gegen bestehende Verhältnisse proben, die mit der Diskriminierung von Muslimen und den Hierarchien der indischen Gesellschaft und ihres Kastensystems brechen oder es zumindest hinterfragen. So wie in Rohen Geras subtil-zärtlichem Die Schneiderin der Träume (2018), Zoya Akhtars überwältigendem Gully Boy (2019) oder Sudhir Mishras Manu Joseph-Adaption Serious Men (2020).
Doch anders als die letztgenannten Filme trägt die Verfilmung des Booker-Preisträgers aus dem Jahr 2008, Aravind Adigas The White Tiger, die tiefe Zerrissenheit Indiens endlich einmal nicht in das für seine Slums und die perfide Nähe von Reichtum und Armut berüchtigte Mumbai, sondern in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi.
Dieser Stadtwechsel gleicht einem Paradigmenwechsel. Zwar ist wie im Aufstiegsmärchen Slumdog Millionär, für das der Brite Danny Boyle Regie führte, auch bei dieser Verfilmung eines »indischen« Romans ein Nicht-Inder als Regisseur verpflichtet worden. Doch wie der Film selbst, so ist auch im kreativen Hintergrund einiges nicht so, wie es scheint. Denn so wie Romanautor Aravand Adiga, der in Australien groß wurde, ist auch der »Iraner« Ramin Bahrani als Kind migrierter Eltern nicht im Iran, sondern in den USA sozialisiert worden, haben sich Adiga und Bahrani auf der Columbia University kennengelernt und gegenseitig unterstützt, hat Adiga Bahranis Scripts und Bahrani vier Jahre lang die Entwürfe von »White Tiger« gelesen, so dass Bahrani ihn nun fast wie sein eigenes Buch verfilmen konnte.
Wie fruchtbar Außenperspektiven sein können, hat ja nicht nur Danny Boyle auf seine Weise in Slumdog Millionär gezeigt, sondern u.a. Andrea Arnold in ihrem großartigen American Honey – bei The White Tiger ist das nicht anders. Nicht nur weil Bahrani in Filmen wie Man Push Cart (2005), Chop Shop (2007) oder 99 Homes (2014) ausgesprochen intelligente und gut erzählte Geschichten über Armut, Außenseiter und gesellschaftliche Benachteiligungen inszeniert hat, sondern auch, weil Adiga seinen Roman sehr nüchtern, zynisch und nur in Ansätzen als Satire angelegt und Bahrani ihn dementsprechend in einen Film überführt hat, der von Anfang an immer wieder überrascht und sich bis zum Schluss Erwartungshaltungen und Zuordnungen entzieht.
Und das nicht nur wegen der für ein indisches »Sozialdrama« ungewöhnlichen Stadt, die hier im Zentrum steht. Sondern auch wegen einem verblüffenden Genremix. Denn schon in den Eingangssequenzen wird sowohl für die Gegenwartsebene, in der wir den Helden Balram Barani (Adarsh Gourav) am Ende seines erfolgreichen Aufstiegs sehen, als auch in der Erzählung seines Coming-of-Age deutlich, dass wir hier keinem sympathischen Helden beim Leben zusehen, sondern eher einem bizarren Mix aus den Armuts-Charakteren von Bong Joon-hos Parasite und der ungezügelten kriminellen Aufstiegsgewalt, die uns Martin Scorsese in Goodfellas vorgeführt hat.
Balram ist ein Held, den man genauso wenig liebt wie die Gesellschaft, in der er lebt. Ein Indien, das von Bahrani völlig schonungslos vorgeführt wird und das gleich im Doppel- und Dreierpack. Das so oft verklärte Landleben mit seinem religiös völlig ausgehöhlten, aber dennoch effizienten Kastensystem, das die Landbesitzer von den besitzlosen Bauern profitieren lässt, aber auch die Moderne in der Hauptstadt Dehli, in der es, wie Balram an einer Stelle sagt, nur die gibt mit Bäuchen und jene ohne Bäuche. Und als ob das nicht genug wäre, wird in einem erzählerischen »Goody« auch noch beschrieben, was es bedeutet, im heutigen Indien Muslim zu sein. Aber das vielleicht Unerträglichste – auch für Balram, der immer wieder als Kommentator der Geschehnisse eingeblendet wird oder aus dem Off spricht – ist wohl die fehlende Bereitschaft aller Beteiligten, sich aus dieser erstarrten, destruktiven Gesellschaft zu befreien, was Balram zu der treffenden Analogie verleitet, dass 99,9 Prozent aller Inder nichts anderes als Hühner im Hühnerkäfig seien, die ihren Artgenossen dabei zusehen, wie sie vor ihren Augen geschlachtet werden, ohne auch nur in Ansätzen zu versuchen, sich zu wehren.
Wie Balram sich schließlich wehrt, als weißer Tiger, den es nur jede Generation einmal gibt, ist dann jedoch bei weitem nicht so plakativ wie das titelgebende Bild des weißen Tigers, sondern eine düstere, präzise Studie in Herr-und-Diener-Psychologie, wie sie auf humorvoll-sarkastische Weise auch Serious Men leistet. Aber Adagi und Bahrani entwerfen im Gegensatz die fast schon apokalyptische Vision eines Post-Modi-Helden, die frustrierend zeigt, dass Freundschaft zwischen den Klassen nicht funktioniert, selbst wenn die herrschende Klasse in den USA ausgebildet wurde. Hervorzuheben sind hier vor allem jene Szenen, in denen Balram und sein Arbeitgeber Ashok (Rajkummar Rao) und seine Frau Pinky, dargestellt von einer der erfolgreichsten Bollywood-Schauspielerinnen der Gegenwart, Priyanka Chopra Jonas, versuchen, das Herrschaftsgefälle zu brechen, um jedes Mal ernüchtert in früh sozialisierte Muster zurückzufallen, die Balram frustriert konstatieren lässt: »Do we loathe our masters behind a facade of love – or do we love them behind a facade of loathing?« Diese linkischen, immer wieder brutal scheiternden Versuche, machen noch einmal deutlicher, warum der Aufstieg der unterdrückten Klassen in Balrams Augen nicht ohne Gewalt funktionieren kann. Für die größte Demokratie der Welt, die hier allerdings von Anfang an nicht nur durch ihre Korruptionsbereitschaft gnadenlos abserviert wird, sind das keine allzuguten Aussichten. Aber auch für den lange so vorbildhaften, paternalistischen Westen sind das schlechte Nachrichten.
Denn Bahrani macht so wie Adiga in seinem Roman unmissverständlich klar, dass diese Entwicklung im Schulterschluss mit China passiert und wir einer Zukunft entgegenblicken, in der Europa oder die USA keine signifikante Rolle mehr spielen werden.
Wie hoch der Preis dafür ist, deutet The White Tiger mit dem gleichen pointierten Hip-Hop-Soundtrack an, der dem ganzen Film unterlegt ist und ihm eine fast schon martialische Wucht verleiht. Nicht nur wird die »heilige« indische Familie geopfert, sondern, fast noch schlimmer, wird dem Zuschauer das verweigert, was sogar Slumdog Millionär mit präziser Akkuratesse am Ende aufbietet – ein klassischer, tänzerischer Bollywood-Abspann. Dabei ist alles dafür vorbereitet. Der Held tritt ab und eine Gruppe von Taxifahrern steht bereit. Aber statt zu Musik und Tanz überzugehen, friert das Bild ein.
Mehr Abkehr von irgendwelchen Märchen und Lügen ist kaum möglich. Mehr Mut ebenfalls nicht.
The White Tiger ist seit 22. Januar 2021 auf Netflix abrufbar.