Deutschland 2003 · 105 min. · FSK: ab 12 Regie: Martin Gypkens Drehbuch: Matrin Gypkens Kamera: Eva Fleig Darsteller: Oliver Bockern, Jannek Petri, Knut Berger, Patrick Güldenberg u.a. |
||
Aufbrezeln für die Party |
Ein Wochenende in Berlin-Mitte: Florian kommt gerade an, er wird hier studieren. Er trifft Pit, seinen Freund aus Jugendzeiten, und Micky, mit dem er gemeinsam Zivildienst gemacht hat. Schon am gleichen Tag findet er auch ein WG-Zimmer bei Anke und Judith. Am Abend findet eine Party statt, dort trifft er auf Carsten, Judiths Freund, Käthe, dessen Schwester, Andreas, der einen Film drehen will, und auf Till, der ihn produzieren möchte. Vor allem aber verliebt er sich unsterblich in Petronella, Tills langjährige Freundin...
Von diesem Abend aus verfolgt Wir das Leben eines guten Dutzend junger Leute zwischen Anfang und Mitte Zwanzig. Im Berlin der Gegenwart durchleben sie die letzten Jahre ihrer Jugend, befinden sich genau auf der Schwelle zwischen der Freiheit des Anfangens und dem Moment des Erwachsenwerdens, an dem die Entscheidungen beginnen, echte Konsequenzen zu haben. Aber die Erinnerungen der Jugend wirken ebenso nach, wie neue Verletzungen, neue Verpflichtungen. Pit zum Beispiel ist inzwischen bekennender Schwuler, möchte dies aber Florian doch nicht gestehen, weil er einst auch in ihn verliebt war. Florian nähert sich Petronella an, irgendwann beginnen sie regelmäßig miteinander zu schlafen. Aber sie fühlt sich ihrem Freund Till nach wie vor genauso verbunden, scheut eine Entscheidung. Till wiederum merkt zunächst nichts, denn er wird gerade von Andreas hängen gelassen, der seinen Teil der Arbeit an dem Filmprojekt nur stockend abliefert. Anke wechselt ihr Studienfach, wie Käthe ihre One-Night-Stands. Judith wird von Micky umworben, und zweifelt dabei an der Liebe zu ihrem Freund Carsten, wir Zuschauer wissen, dass er eigentlich bisexuell ist, und eine Affaire mit Pit begonnen hat...
Der Reigen der Gefühle und Lebenssituationen, den Wir entwickelt, verdichtet sich zu einer sehr präzisen Momentaufnahme eines Lebensgefühls und Milieus. Man könnte einwenden, dass es den Personen in Gypkens' Film ausnahmslos recht gut geht, dass sie zwar jobben, aber vor allem studieren oder künstlerische Berufe ausüben oder einfach in den Tag hineinleben. Wirtschaftliches kennt der Film kaum, ebenso wenig wie Politik. Und es sind fast ausnahmslos »Wessis«, von denen er erzählt – der Film ist, neben vielem sonst, auch eine West-Ost-Begegnung der ein wenig anderen Art.
Doch tut Gypkens in Wir genau das, was man in anderen deutschen Filmen so schmerzhaft vermisst: Er erzählt von sich selbst, von Dingen, Gefühlen und Haltungen, die er kennt. Das spürt man in jeder Sekunde. Der Film ist allezeit »echt«, nichts ist »gemacht« oder behauptet.
Was noch viel mehr zählt: Wir stellt existentielle Fragen darüber, wie man sein Leben leben soll. Seine Figuren können darüber noch entscheiden, können noch wählen zwischen Anpassung und Rebellion, Gefühl und Vernunft. So gelingt Gypkens ein bestechendes Coming-of-Age-Portrait, zeitgemäß und zwingend. Es fängt viel ein von der Melancholie, die die letzten Jahre der Jugend viel öfter durchzieht, als das gradlinige Erwachsenwerden, und es verzichtet darauf, allem, noch den schlimmsten Erlebnissen – zu denen es schließlich kommt –, verkrampft einen positiven Sinn geben zu wollen.
Es ist auch stilistisch eine komplizierte Aufgabe, die sich der Potsdamer Filmstudent in seinem Debüt gestellt hat: Selbst erfahrene Filmemacher scheitern am schwierigen Genre eines Episodenfilms, der Herausforderung, allen Figuren einigermaßen gleich gerecht zu werden, sie als Personen und nicht nur als Chiffren für bestimmte Temperamente einzusetzen und als Individuen auf der Leinwand präsent werden zu lassen. Gypkens löst diese Aufgabe hingegen mit Bravour.
Diese Stärken gleichen kleinere Schwächen leicht aus. Wir ist ein insgesamt sehr gelungenes Debüt, einer der besten deutschen Filme des letzen Jahres, der an Substanz, Geist und Humor Großproduktionen wie Rosenstraße oder Das Wunder von Bern leicht in den Schatten stellt.